20. Jahrgang | Nummer 7 | 27. März 2017

Die Erfindung des Freiherrn von Drais

von Frank Ufen

Der Karlsruher Forstbeamte Karl Freiherr von Drais war der Erfinder der Tastenschreibmaschine, des Energiesparofens und eines Apparats, der auf einer Papierrolle sämtliche Töne aufzeichnete, die mit den Tasten eines Klaviers erzeugt wurden. Er konstruierte außerdem eine Schießmaschine, eine Fleischhackmaschine und ein von Muskelkraft angetriebenes Schienenfahrzeug, die Draisine. Und er erhob den Anspruch, die Menschheit mit einer Art Morsealphabet, dem Periskop und dem dualen Rechensystem beglückt zu haben – ohne allerdings zu bemerken, dass es diese Errungenschaften schon längst gab. Drais hatte das Pech, von seinen Zeitgenossen nur selten ernst genommen zu werden, weil er mit seinen Erfindungen seiner Epoche entweder zu weit voraus war oder ihr umgekehrt hoffnungslos hinterherhinkte.
Doch mit einer technischen Innovation sollte er schließlich umwälzende Veränderungen auslösen. Er erfand die Laufmaschine – die Urform des Fahrrads. Dieses Gefährt funktionierte von Anfang an derart gut, dass er am 12. Juni 1817 – dem Tag der Jungfernfahrt – die 14 Kilometer lange Strecke von seinem Mannheimer Wohnhaus bis zum Schwetzinger Relaishaus und zurück in weniger als einer Stunde zurücklegen konnte.
Draisʼ Laufmaschine gilt als erste Fahrzeug mit zwei hintereinander laufenden Rädern überhaupt. Sie ermöglichte es, sich durch bloßes Abstoßen mit den Füßen erstaunlich schnell fortzubewegen, weil das Körpergewicht des Fahrers ihr aufgebürdet wird. Im Unterschied zu den Kutschen der damaligen Zeit verfügte sie bereits über eine Schleifbremse. Drais wäre durchaus in der Lage gewesen, sein Fahrzeug mit einem Tretkurbelmechanismus auszurüsten. Schon einige Jahre vorher hatte er einen vierrädrigen Wagen gebaut, der mit einer Tretmühle ausgestattet war. Doch seinen Zeitgenossen war schon das Balancieren auf zwei Rädern nicht geheuer, erst recht wären sie davor zurückgeschreckt, die Füße ständig vom Boden zu nehmen.
Die Erfindung der Laufmaschine war die mittelbare Folge einer verheerenden Naturkatastrophe – des Ausbruchs des Vulkans Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa im April 1815. Bei diesem Ausbruch wurden ungeheure Mengen von Asche, Staub und Schwefelverbindungen in die Atmosphäre geschleudert. Dort bildete sich ein dichter Aerosol-Schleier, der sich schließlich über die gesamte nördliche Hemisphäre ausbreitete und nur wenig Sonnenlicht durchließ. In vielen Teilen Europas kam es zu einem Temperatursturz und sintflutartigen Regenfällen, und der Sommer blieb im folgenden Jahr aus. Das wiederum verursachte Missernten, Hungersnöte, Wirtschaftskrisen und Aufstände. Die Missernten führten zu einer derartigen Haferknappheit, dass immer weniger Pferde ernährt werden konnten.
Also versuchte Drais, sich einen Fahrzeugtyp einfallen zu lassen, der ohne Pferde auskommen konnte. Dass seine Laufmaschine auf Anhieb funktionierte, hing im Übrigen auch damit zusammen, dass damals als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme reichlich öffentliche Gelder für den Bau neuer Straßen aufgewendet wurden.
Draisʼ geniale Konstruktion wurde anfangs eifrig, allerdings nicht selten stümperhaft nachgeahmt, geriet aber bald darauf in Vergessenheit. Erst fünf Jahrzehnte später stellte der Pariser Kutschenbauer Pierre Michaux sein Velociped vor – das vermutlich erste Fahrrad, dessen Vorderrad von einer Tretkurbel angetrieben wurde. Damit begann die Zeit der Hochräder. Doch das mit einem überdimensionalen Vorderrad ausgerüstete Hochrad war kostspielig, schwer zu handhaben, und die Sturzgefahr bei Bremsmanövern war groß. Aber schließlich kam das Sicherheitsrad auf, bei dem die Tretkurbel zwischen den beiden gleich hohen Rädern angebracht war und das Hinterrad über einen Kettenantrieb in Rotation versetzt wurde.
Ende des 19. Jahrhunderts kamen die Fahrräder auf den Markt, die mit ihrem trapezförmigen Rahmen, ihren Pedalen, ihren Luftreifen und ihrer Gangschaltung denjenigen moderner Bauart schon völlig entsprechen – und den Laufmaschinen von Drais ziemlich ähnlich sahen. Daraus gingen bald darauf die ersten Kraftfahrzeuge hervor. Und diese Fahrräder wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts in derart großen Serien produziert, dass sie zu Individualverkehrsmitteln werden konnten, die für alle erschwinglich waren.
Aus Anlass des 200. Jubiläums der Draisschen Laufmaschine findet seit dem 11. November 2016 im Technoseum in Mannheim die Ausstellung „2 Räder – 200 Jahre“ statt. Gleichzeitig wurde ein Buch herausgegeben, das neben dem Ausstellungskatalog ein Dutzend kurzer Abhandlungen enthält. Im Zentrum steht die Technikgeschichte der Laufmaschine und des Fahrrads. Behandelt werden aber auch die Physik des Radfahrens, die Anfänge des Radsports, die Zukunft des Fahrrads und die Kultursoziologie des Radfahrens: Wer hat welchen Fahrradtyp wie, wann und wozu benutzt.
Das Buch ist in erster Linie eine exzellente Dokumentation der Geschichte der technischen Grundlagen der zweirädrigen Fortbewegungsweise.

Technoseum (Hg.): 2 Räder – 200 Jahre. Freiherr von Drais und die Geschichte des Fahrrades. Theiss Verlag – WBG, Mannheim 2016. 322 Seiten, 29,95 Euro.