20. Jahrgang | Nummer 7 | 27. März 2017

lit.Cologne 2017 – Impressionen

von Alfons Markuske

Ian Kershaw zählt seit seiner doppelbändigen Hitler-Biografie aus den 1990er Jahren zur ersten Riege britischer Zeitgeschichtler. Er stellte – schwergewichtiger Beginn der diesjährigen lit.Cologne (7.–18. März) in Köln – sein neuestes Buch vor. Mit dem deutschen Titel „Höllensturz“ behandelt dieser Auftaktband eines umfassenderen Projektes die bellizistischste Periode des 20. Jahrhunderts, die Jahre von 1914 bis 1949.
In der Frage nach der Schuld am Ersten Weltkrieg vertritt Kershaw eine dezidiert andere Auffassung als „mein Freund Christopher Clark“, wie der Autor in Köln ausdrücklich hervorhob. Clark hatte vor drei Jahren den europäischen Großmächten durchweg die Diagnose „Schlafwandler“ attestiert, die in quasi somnambuler Unzurechnungsfähigkeit in die Katastrophe geschlittert seien. Kein Hauptschuldiger. Nirgends.
Kershaw konstatiert zunächst, dass seinerzeit der Wille zum Krieg auf allen Seiten deutlich ausgeprägter gewesen sei als der Wille zum Frieden. Dann aber sieht er die Hauptschuld klar bei Deutschland, Österreich und Russland. Nach dem Attentat von Sarajevo habe Berlin Wien seiner uneingeschränkten Unterstützung versichert und damit einen Blankoscheck ausgestellt. Auf dessen Grundlage habe Österreich Serbien mit einem vorsätzlich unannehmbaren Ultimatum konfrontieren können und damit zugleich – ebenso vorsätzlich – ein Eingreifen Russlands als Hauptverbündeter Belgrads und in der Folge auch Frankreichs als Alliierter Moskaus provoziert. Der Zar habe den Fehdehandschuh auf- und der Flächenbrand seinen Lauf genommen …
Einen Weltkrieg später sieht Kershaw den epochalen Paradigmenwechsel nicht bei dessen Beendigung im Jahre 1945, sondern 1949, als der erste sowjetischen Atomtest stattfand. Aus dem Blickwinkel der folgenden Jahrzehnte des Kalten Krieges, die wesentlich von der nuklearen Ost-West-Konfrontation geprägt wurden, ein Standpunkt, dem Berechtigung nicht abzusprechen ist.
Im Anschlussband an „Höllensturz“ will Kershaw den Bogen bis in die unmittelbare Gegenwart schlagen – bis zu Donald Trumps Präsidentschaft und zum Brexit. Sobald das Werk komplett ist, dürfte ein Vergleich mit einer bereits vorliegenden Gesamtdarstellung des 20. Jahrhunderts eines britischen Historikers reizvoll sein – mit Eric Hobsbawms „Das Zeitalter der Extreme“ (1994).

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Jarett Kobek hat etwas im Literaturbetrieb der USA bisher Einzigartiges geschafft: Er publizierte einen Roman, den kein großer und kein kleiner Verlag haben wollte, in eigener Regie, und der wurde trotzdem ein Erfolg, von dem selbst die New York Times Notiz nahm. Inzwischen übersetzt in sieben Sprachen und kürzlich auch auf Deutsch erschienen: „Ich hasse dieses Internet“. Eine rabenschwarze Satire weniger über das Internet als solches als über die Welt der sogenannten sozialen Medien, heißen sie nun Twitter, Facebook oder Instagram, und darüber, was die mit oder besser aus ihren Usern und unserer Welt gemacht haben. Und eine geballte Ladung gegen Silicon Valley und dessen maßgebliche Player (unter anderem mit einem Totalverdikt gegen den Apple-Wizzard Steve Jobs), gegen Kapitalismus, Neoliberalismus und gegen die allgegenwärtige Vergötzung des Geldes als alleiniger Maßstab für Wert und letztlich auch Werte in der westlichen Welt, gegen die Rassenbigotterie der USA-Gesellschaft, gegen alles, was den verlogenen „amerikanischen Traum“ ausmacht, und gegen manches andere mehr.
Doch nicht zu früh gefreut. Auch der Autor selbst und wahrscheinlich die meisten Leser des Romans bekommen ihr Fett weg; etwa wenn Kobek fragt: „Wie sollte man vernünftig mit Leuten reden, die ihre Diskussionen über Menschenwürde auf Geräten führten, die in China von Sklaven zusammengebaut worden waren?“
Kobek hatte übrigens anlässlich der letztjährigen Frankfurter Buchmesse eine ausführliche Rede zu seinem Buch gehalten. Darin äußerte er sich unter anderem zu der Frage, warum es von sämtlichen angesprochenen USA-Verlagen Ablehnungen gehagelt hatte: „Ich stehe vor Ihnen und behaupte, dass ‚Ich hasse dieses Internet’ abgelehnt wurde, weil in dem Buch zu viele drittklassige Witze über den menschlichen Anus vorkommen.“ Die auszugsweise Lesung bei der lit.Cologne bestätigte Letzteres zwar nicht, die dort vorgetragenen Inhalte und deren Darstellungsweise allerdings lassen durchaus befürchten, dass der Autor auch in dieser Frage nicht gänzlich Unrecht haben könnte.

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Bov Bjerk hat seinem Bestseller „Auerhaus“ einen Band mit dem Titel „Die Modernisierung meiner Mutter“ hinterhergeschickt, der im Wesentlichen ältere Erzählungen enthält und ebenfalls im Aufbau Verlag erschienen ist. Beide Bücher standen in Köln zur Debatte, aber leider wollte der ansonsten zu seiner bekannten Hochform auflaufende Moderator Knut Elstermann nicht wissen, welche konkrete Bewandtnis es mit dem Titel des Erzählungsbandes hat. Auch Bjerk selbst las lediglich Partien, die darüber nichts verrieten. Dass der Autor jedoch ein begnadeter Schalk ist, wissen selbst Zeitgenossen, die seine Bücher nicht kennen, so sie nur um einen Jahreswechsel herum schon einmal Gast im Berliner Mehringhoftheater waren. Dort gehört Bjerk seit 20 Jahren zur Stammbesatzung des Kabarettistischen Jahresrückblicks. Ein ums andere Mal erfreut und erheitert er das Auditorium mit seinen geschliffenen Texten, die zum (Mit-)Denken anregen. In Köln trug er die Erzählung „Paternoster“ vor, von der nur so viel verraten werden soll, dass es sich um einen Aufzug im bekannten Berliner Gebäude des neuen deutschland handelt. Im Übrigen hat der Autor einer Veröffentlichung des Textes im Blättchen zugestimmt, und wenn nun auch der Verlag nichts dagegen hat …

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In den vergangenen Jahren waren die thematischen Veranstaltungen der lit.Cologne stets ebenfalls besondere Höhepunkte – ob ihrer Themen, der Auswahl der jeweiligen literarischen Beispiele und des Esprits der Vortragenden.
Dieses Mal traten unter anderen Mariele Millowitsch und Devid Striesow an – mit einer „Hommage an die Nervensäge“, wobei auf höchst prominente Autoren zurückgegriffen werden konnte. Es begann mit Loriots unvergesslichem Dialog zwischen Eheleuten, in dem er nur eine Weile stumm und unbehelligt in seinem Sessel sitzen will, sie hingegen befindet, dass er besser spazieren ginge oder läse oder … Das Stück ist der Klassiker schlechthin zum Thema „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es der Ehefrau missfällt“. – Warum Kafka es in seinem Leben zu keiner glücklichen Beziehung zum anderen Geschlecht gebracht hat, wurde ebenfalls enthüllt. Es genügt, in dessen Briefwechsel mit seiner Verlobten einzutauchen. Da verwundert allenfalls, dass diese nicht sofort schreiend davon gelaufen ist. – Als Devid Striesow schließlich aus Sven Regeners „Herr Lehmann“ die Passage zum Besten gab, in der der Protagonist in einer Schwulenkneipe erst wieder zum Öffnen seiner Kiefer veranlasst werden kann, als er einen von Detlefs, des massigen Kneipeneigners, Fingern fast abgebissen hat, war kein Halten mehr: Der Saal tobte, der Beifall schwoll zum Orkan – lit.Cologne at its best.
Esprit der Vortragenden kann auch Annette Frier und Sky du Mont bescheinigt werden, die einen Abend zum Thema „Ich bin so geil – auf dem Egotrip“ bestritten. (Leser des Boulevards werden sich erinnern, dass Herr du Mont vor einiger Zeit dort mit einem entscheidenden Hinweis zur männlichen Intimrasur reüssierte: „Je niedriger die Hecke, desto größer das Haus.“) Das Programmheft der lit.Cologne setzte in seiner Ankündigung bei Plato und Aristoteles an (sprang also gewissermaßen als Tiger) und landete bei Karen Duve (also eher als Bettvorleger): Über diese Spannweite lasse sich, wie das Heft behauptete, „anhand von literarischen Zeugnissen nachweisen, dass Selbstverliebtheit, Größenwahn und Eitelkeit beste Voraussetzungen dafür sind, reich, berühmt und glücklich zu werden. Oder ein ziemliches Arschgesicht. Oder ein tragischer Versager.“ Damit war die Latte auf eine zwar überschaubare Höhe gelegt, doch selbst die wurde am Abend selbst glatt gerissen: von Plato und Aristoteles keine Spur, dafür müde Texte, matte Pointen. Eine archäologische Ausgrabung bei Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) zählte noch zum Originellsten:

Der Kuckuck

Der Kuckuck sprach mit einem Star,
der aus der Stadt entflohen war.
„Was spricht man“, fing er an zu schrein,
„was spricht man in der Stadt von unsern Melodein?
Was spricht man von der Nachtigall?“
„Die ganze Stadt lobt ihre Lieder.“ –
„Und von der Lerche?“ rief er wieder.
„Die halbe Stadt lobt ihrer Stimme Schall.“
„Und von der Amsel?“ fuhr er fort.
„Auch diese lobt man hier und dort.“ –
„Ich muß dich doch noch etwas fragen:
Was“, rief er, „spricht man denn von mir?“
„Das“, sprach der Star, „das weiß ich nicht zu sagen;
denn keine Seele red’t von dir.“ –
„So will ich“, fuhr er fort, „mich an dem Undank rächen
und ewig von mir selber sprechen.“