von Günter Hayn
Straftäter stellt ein Gericht als solche fest. Ansonsten gilt die Unschuldsvermutung. Es gibt aber auch Tatverdächtige. Von denen nimmt man an, dass sie eine Straftat begangen haben könnten. Ist der Verdacht begründet und die Tat erheblich, und besteht zudem die Gefahr, dass sie sich durch Flucht einer Verhandlung entziehen könnten, können sie in Haft genommen werden. Neuerdings gibt es auch „Gefährder“. Das ist eine Erfindung der Innenminister und der Leiter der Landeskriminalämter. So richtig rechtens ist dieser Begriff nicht, manche bezeichnen ihn als „dummdeutsch“. „Gefährder sind“ dem ehemaligen Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) zufolge „Personen, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie erhebliche Straftaten begehen könnten“. Kriminologen wissen, dass jeder Mensch unter gewissen Bedingungen in der Lage ist, „erhebliche Straftaten“ zu begehen. Den Begriff der Tatsachen definierte Friedrich nicht näher.
Die „Gefährder“-Einstufungen sind inzwischen ein wunderbares Erwachsenen-Spielzeug in den Händen kontrollwütiger Innenpolitiker und Behördenchefs. Die Zeche zahlen andere. Berlin kann davon inzwischen eine traurige Geschichte erzählen.
Der Tunesier Anis Amri hatte am 19. Dezember mit einem gestohlenen polnischen Truck, dessen Fahrer er zuvor erschoss, auf einem Weihnachtsmarkt in Berlin-Charlottenburg elf weitere Menschen umgebracht und 55 andere teils erheblich verletzt. Amri war bei den deutschen Behörden als „Gefährder“ bekannt. Wusste man in Berlin wirklich nicht, mit wem man es zu tun hatte? Er geriet das erste Mal am 6. Juli 2015 in Freiburg im Breisgau in das Visier der deutschen Polizei: Sie griff ihn wegen unerlaubter Einreise auf. Bereits am 28. Juli erhielt er in Berlin unter dem Namen Mohammed Hassan eine Bescheinigung als Asylsuchender. Sechs Tage zuvor wurde er als solcher unter seinem wirklichen Namen in Karlsruhe registriert. Im Dezember 2015 wurde er zum wiederholten Male in Berlin erfasst – mit mindestens der fünften Identität, die er bis dahin benutzt hatte. Die Berliner Behörde verwies ihn nach Hamburg. Am 16. Dezember 2015 ergab eine Besprechung beim Bundeskriminalamt in Berlin, dass es sich bei einem seit November beim Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen anschlagsverdächtigen „Anis“ offenbar um den Tunesier Anis Amri handele. Die Information kam von den italienischen Behörden. Der Verdächtige wurde jetzt überwacht, er plante offenbar Eigentumsdelikte. Die Berliner Polizei wollte ein Strafverfahren gegen ihn einleiten, die Berliner Justiz verhinderte das. Zwei Monate später teilte das LKA Berlin bei einer Besprechung im Terrorismusabwehrzentrum mit, dass es „Maßnahmen prüfen [will], weil sich Amri in der Hauptstadt wiederholt aufhält“. Der Mann stand also unter permanenter Beobachtung. Am 24. Februar 2016 wurde bekannt, dass er vorhabe, einen Anschlag zu planen. Damit war Amri tatsächlich kein nebulöser „Gefährder“ mehr, er plante eine konkrete Straftat.
Seit 10. März wurde Amri in NRW nicht mehr als „Gefährder“ geführt – weil er seit Februar nachweislich in Berlin lebte. Die Berliner Behörden hatten ihn jetzt in ihrer „Gefährderdatei“. Die Berliner Generalstaatsanwaltschaft leitete am 14. März ein Strafverfahren gegen Anis Amri ein: Verdacht der Beteiligung an einem Tötungsdelikt. Seit dem 6. Mai 2016 wurde er aber auch in Berlin nicht mehr als „Gefährder“ registriert – Grund war das in NRW laufende Asylverfahren. Die Telefonüberwachung wurde Ende Mai eingestellt. Am 26. September informierten die tunesischen und marokkanischen Sicherheitsbehörden das LKA in NRW darüber, dass Amri IS-Anhänger sei, einen Anschlag plane und sich in Berlin aufhalte. Im Oktober wurden diese Warnungen wiederholt. Eine Handy-Ortung bestätigte seinen Aufenthaltsort …
Auch die Vorbereitung einer Straftat ist eine solche – und gebietet auf jeden Fall bei ihrem Bekanntwerden ein Eingreifen der Behörden. Minister müssen das nicht unbedingt wissen, Polizei und Justiz schon. Der polnische Truck hätte am 19. oder 20. Dezember 2016 in Berlin ungestört seine Ladung abliefern können.
Diese Informationen kamen in einer Sondersitzung des Innenausschusses des Landtages von Nordrhein-Westfalen am 5. Januar 2017 auf den Tisch, also sehr zeitnah. Am 9. Januar beschloss der Berliner Senat ein „Sofortpaket für mehr Sicherheit“. Die Polizei wird für 31,1 Millionen Euro neue Pistolen, Maschinenpistolen und schusssichere Westen erhalten. Die Video-Überwachung besonders gefährlicher Orte blockierten LINKE und Grüne. Von mehr und besser bezahltem Personal war nicht die Rede. Nach Insider-Informationen liegt aber genau da der Hase im Pfeffer. Die Berliner hätten nach dem 19. Dezember „ausgesprochen cool und gelassen reagiert“, erklärte Kultursenator Klaus Lederer (LINKE). „Cool und gelassen“ ist so wie „mir doch egal“. Das ist zynisch. Genau so haben sich „die Berliner“ eben nicht verhalten.
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