20. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2017

Seine Plastiken kommen daher „wie auf Zehenspitzen“

von Klaus Hammer

Rudolf Suter, schweizerischer Kunstwissenschaftler und -kritiker, hat eine umfassende, mit zahlreichen Abbildungen – biografischen wie Werkfotos – versehene monografische Darstellung des Jahrhundertkünstlers Hans Arp vorgelegt, die sowohl sein künstlerisches als auch sein literarisches Werk einer ausgewogenen Betrachtung unterzieht. Dem weitgehend noch unbekannten Spätwerk hatte sich der Verfasser bereits in seiner Dissertation von 2007 zugewandt, deren Ergebnisse sind in die Monografie mit eingeflossen.
Arp war schon eine der faszinierendsten Erscheinungen der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Er war überall dort zu finden, wo sich die Kunst seiner Epoche von idealistischen Modellen und traditionellen Wirklichkeitsbindungen zu befreien suchte: Er stellte mit der Münchener Künstlergruppe „Der blaue Reiter“ aus, gehörte zum Kreis der Berliner Galerie „Sturm“ Herwarth Waldens. Seine Collagen, Reliefs und Dichtungen bestimmten die Zeit des Nonsens-Dadaismus, er war sowohl mit den Konstruktivisten als auch den Surrealisten befreundet, sympathisierte mit den Abstrakten – und alle diese Lager beanspruchten ihn gleichermaßen als einen der ihren für sich. Denken, Dichten, Formen und Schaffen scheinen bei ihm den Gesetzen des „Zufalls“ zu folgen und sie können trotzdem geometrisch-konstruktiv sein, sie fallen „wie Früchte vom Baum“ und sind dennoch fern jeder imitativen Kunst. Der Themenkreis seiner so mühelos wachsenden, blühenden und zugleich doch gebändigten und gebauten Formenwelt ist zwar schon frühzeitig festgelegt, doch die Möglichkeiten an Metamorphosen scheinen unendlich zu sein, und es fehlt auch in der Spätphase nicht an völlig neu anmutenden Figurationen.
Das ihnen innewohnende Gestaltungsgesetz aber ist das des Unvollendeten, Unvollendbaren, der unablässige Prozess des Werdens und Veränderns, die Verwandlungen, Übergänge und Verpuppungen, die nichts Abgeschlossenes, Definitives kennen. Die Formen bleiben im Fluss, sie sind auf dem Wege von einer Bedeutung zur anderen. 1953 schrieb Arp rückblickend: „Ich wanderte durch viele Dinge, Geschöpfe, Welten, und die Welt der Erscheinung begann zu gleiten, zu ziehen und sich zu verwandeln wie in den Märchen. Die Dinge begannen zu mir zu sprechen mit der lautlosen Stimme der Tiefe und Höhe“. In einem Gedicht hat er visionär umschrieben, welche Bedeutungsassoziationen etwa in seiner Skulptur „Spiegelblatt“ (1962, Bronze) möglich sind: „Aus einem wogenden Himmelsvlies steigt ein Blatt empor. / Das Blatt verwandelt sich in einen Torso. / Der Torso verwandelt sich in eine Vase. / Ein gewaltiger Nebel erscheint. / Er wächst. / er wird größer und größer. / Das wogende Himmelsvlies löst sich in ihm auf. / Der Nabel ist zu einer Sonne geworden, / zu einer maßlosen Quelle, zur Urquelle der Welt. Sie strahlt“. Das Prinzip gestalterischer Metamorphose schließt hier Vegetabiles (Blatt), Figuratives (Torso), Dinghaftes (Vase), Organisches (Nabel) und Kosmisches (Sonne) ein.
Ausgehend vom Biografischen widmet sich Suter vor allem den Wirkungsstätten Arps – von seiner Geburtsstadt Straßburg über Zürich, Paris, Meudon/Clamart und Grasse bis Locarno-Solduno – und nimmt die Persönlichkeit Arps, seine Beziehungen zu Sophie Täuber, die 1943 starb – ein Schock, von dem er sich nie mehr ganz erholen sollte – und seiner späteren Lebenspartnerin Marguerite Hagenbach ins Auge. Sie bilden die Voraussetzung für die Begegnung mit Arps Werken. Denn was Arp in der bildenden Kunst wie Literatur zu sagen hatte, war ihm ebenso wichtig wie die Mittel, mit denen er es sagte. Das geht eindeutig aus der Fülle seiner Schriften hervor. Von Anfang an wollte Arp jede Absichtlichkeit ausschalten, jeden Hinweis auf Empfindungen, jede erdachte Weltbeschreibung. Er wünschte, dass sich seine Arbeiten in der Natur verlieren könnten. 1916 bis 1920 hatte er Laubsägereliefs geschaffen, mit weichen organischen bis bizarren Formen, auf den Umriss reduziert („Vogelmaske“, 1918, Holzrelief). Seine „Arpaden“, ein Mappenwerk mit sieben Lithografien (1923), entstanden in Zusammenarbeit mit Schwitters, formulieren seine Sehnsucht nach einer radikal neuen visuellen „Objekt-Sprache“, die an die ovale Ur-Form des Nabels geknüpft sind. Gerade in den 1920er Jahren wandte sich Arp wieder der gegenständlichen Darstellung zu, er reduzierte Menschen, Tiere und Gegenstände der alltäglichen Dingwelt zu signalhaften Zeichen, die vielfältige Assoziationen zulassen, besonders wenn sie aus ihrem normalen Zusammenhang herausfallen und in ein groteskes Neben- und Miteinander geraten („Nabelhut“, 1924/63, Holzrelief, bemalt). Arp hat diese Idee später auch in zahlreichen Reliefbildern oder Collagen auf zugeschnittenem Karton ausgeführt. Und in der Dichtung ist er analog verfahren: Im spielerischen Umgang mit Wort- und Satzreihungen, in immer wieder neuen Zusammenstellungen einer beschränkten Anzahl von Wörtern stellte er Semantik und Syntax auf den Kopf.
In den 1930er Jahren, als er sich vom geometrischen und konstruierten Bild abgewandt hatte, zerriss und zerschnitt er auch Papier, frühere Holzschnitte und Zeichnungen, klebte die Fetzen auf einer Unterlage fest und fertigte so Collagen in völliger Übereinstimmung  mit den Gesetzen des Zufalls. Im Verhältnis von Graphischem und Malerischem suggerieren sie den Glanz von Natur-Edelsteinen. Die Grenze zwischen Objekt und Skulptur wurde von Arp überschritten, als sich Anfang der 1930er Jahre seine „Konkretionen“ zu kleinen imaginären Wesen – amöbenhaften Elementen – verdichteten, die in Bezug zu seinen Collagen und Zeichnungen standen („Kopf mit lästigen Gegenständen“, 1931, Bronze). In den folgenden Jahren vergrößerte und rundete er seine Figuren, die Reliefs wuchsen gleichsam in den Raum hinein und es entstanden regelrechte Monumentalskulpturen.
In den Torsi der 1950er Jahre, die Suter als „bilateralsymmetrische“ Figuren bezeichnet, ist trotz aller Abstrahierungen der Form der Bezug zur menschlichen Figur immer gegeben („Schattenfigur“ oder „Kauernd“, beide 1960, Bronze). Die Andeutung einzelner plastischer Körpergliederungen genügt, um ein Ganzes vorzustellen. Arp wandte sich vor allem vollen, aufgeblühten Formen zu; er bevorzugte einfache und vollkommene Körper, die einer reifen, geschälten Frucht oder einem glatt und rund geschliffenen Kiesel gleichen. Die Bronzeskulptur „Menschlich mondhaft geisterhaft“ (1950) beschwört die Vorstellung einer aufkeimenden, aufblühenden Pflanze, der Naturphänomene des Wachsens, Werdens, Gebärens und damit der „Schöpfung“ überhaupt. In „Ptolemäus II“ (1958, Bronze) werden im Sinne des ptolemäischen Weltsystems die gleich- und kreisförmigen Bewegungen in einem ineinandergeschachtelten System mit berechenbarer Ausdehnung wiedergegeben. Es kann als eine bildhauerische Umsetzung des Geheimnisses des Universums, der Sprache des Weltalls verstanden werden. Mensch, Pflanze, Knospe, Frucht, Kristall, Gefäß, Zeichen, Idol, Wolke, Stern, Kosmos, Landschaft – all diese Vorstellungen werden auf wunderbare Weise in Arps Skulpturen lebendig, sie halten ihr Gleichgewicht gegen die Natur, sie verwandeln sich in Kunstformen, die sich nach ihren eigenen Gesetzen entfalten. Die lebensvollen prallen Rundungen, die weichen Übergänge, die gleitenden Konturen, das Wellige, Gebogene, Geschlängelte, Gezackte oder Konzentrische, auch das jähe Unterbrechen des genussvollen Ineinanderfließens durch harte Schnitte und scharfe Grate gehören zum bildhauerischen Formkanon dieses großen Künstlers. „Der Inhalt einer Plastik“, so Arp, „muss auf Zehenspitzen, ohne Anmaßung auftreten, leicht wie die Spur eines Tieres im Schnee“.
Suter zeigt, dass Hans Arp ein Jahrhundertwerk in ständigem Gestaltwandel geschaffen hat – es ist so vielgestaltig wie dieses Jahrhundert selbst -, und doch entzieht es sich jeder kunst- und auch literaturhistorischen Einordnung.

Rudolf Suter: Hans Arp. Das Lob der Unvernunft. Eine Biografie, Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2016, 334 Seiten, 40,00 Euro.