20. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2017

Zartheit in Zeitaltern des Hasses

von Wolfgang Klein

„Zartheit“ ist die Forderung, die Carolin Emcke an den Beginn ihres Überlegens gegen einen Hass stellt, den sie in der hiesigen Gesellschaft noch vor kurzem „für ausgeschlossen gehalten“ hätte. Und eine „zarte Form der Macht“ ist ihr letztes Wort. Ein Verklammern solcher Art zeigt an, dass hier mehr zur Sprache gebracht wird, als die Mächtigen der öffentlichen Diskurse und die der Politik den hier Lebenden gewöhnlich zutrauen und zumuten. Schon diese Trennung wird der Haltung und der Art des Schreibens, die Emcke in ihrem Buch praktiziert und fordert, nicht gerecht. Das Überlegen ist getragen von einer Emphase des „Wir“. Mehr als gefordert und verteidigt: als gegebene wie vor allem als selbst zu erzeugende Wirklichkeit behauptet wird eine „offene, gerechte Gesellschaft“, die „sich beständig selbstkritisch befragt, ob sie das wirklich in ausreichendem Maße ist“. „Einen festen Grund zu schaffen, auf dem alle stehen können – darauf kommt es an“, heißt es, und der Begriff „liberal“ bekommt wieder seine ursprüngliche, befreiende Strahlkraft: als Bezeichnung einer Pluralität, die „auch die individuell abweichenden Überzeugungen oder Körper, die devianten [von der Norm abweichenden – Anm. W.K.] Vorstellungen und Praktiken vom guten Leben, von Liebe oder vom Glück schützt“. Dieses Buch vertritt und verteidigt die Universalität der Menschenrechte – nicht als politische Deklaration oder als Katalog von Einklagbarem, sondern in der existentiellen Dimension, die der schwarze Frantz Fanon formuliert hat: „Dabei wollte ich ganz einfach ein Mensch unter anderen Menschen sein.“
Dass Emcke nicht mehr wagt, „Neger“ drucken zu lassen, wo Fanon noch „das N-Wort ausgeschrieben“ hat, lässt sich, wie sie es tut, als Bewusstsein der „Verletzungen“ verstehen, die das Wort verursachen kann. Es zeigt aber auch an, wie wenig selbstverständlich die Menschenrechte in der Lebenswirklichkeit sind – weshalb sonst wären historisch gegebene Bezeichnungen zu tabuisieren? Auf drei Vorgänge, die die aktuellen Gefährdungen zum Ausdruck bringen, schaut Emcke mit besonderer Aufmerksamkeit: das Belagern eines Busses mit geflüchteten Menschen mitten in Deutschland durch eine ungehemmt hassende Menge; das Erwürgen eines schwarzen Menschen in den USA durch rassistisch geprägte weiße Polizisten; die Verwundbarkeit von Transpersonen und intergeschlechtlichen Menschen in einer diese Formen von Natürlichkeit negierenden Umwelt. Sie schaut nicht mitleidig, sondern zergliedernd. Sie fragt, wie es Menschen möglich ist, weinende, verschreckte und verängstigte Menschen zu sehen – „und ‚weg‘ zu brüllen“, was das Publikum tut und weshalb die Polizei sich in Clausnitz nicht durchgesetzt hat. Sie bedenkt die „weiße Paranoia“ der Polizisten, den filmenden Zeugen und Eric Garner, der – bevor er nicht mehr atmen konnte – gesagt hatte: „Das muss heute aufhören.“ Sie zeigt die inneren und äußeren Schwellen vor dem Entschluss, „als Transperson zu leben“, und welche Belastungen eine geänderte Geschlechtsidentität in öffentlichen Räumen zur Folge haben kann.
Zwei Standpunkte scheinen mir besonders hervorhebenswert. Der Hass, heißt es an einer Stelle, erzeuge seine Kraft „gerade dadurch, dass er die konkrete Wirklichkeit ignoriert oder übersteigt“. Er sei zwar auch die Folge „über Generationen weitergereichter Praktiken und Überzeugungen“. Aber auffällig an ihm sei zuerst „die bewusste Engführung der Wirklichkeit“. In der von ihm behaupteten Welt des Islam zum Beispiel gebe es „schlicht keine Normalität. […] Diese Welt ist bereinigt von jeder realen kulturellen, sozialen oder auch nur politischen Vielfalt. Es gibt keine harmlosen Begegnungen, keine geglückten Erfahrungen, keine heiteren Begebenheiten. Jede Leichtigkeit, jede Lust wäre hier fehl am Platz.“ Hassende, könnte ich dazu empfehlen, sollten einmal eine der jetzt möglichen Rundreisen durch den Iran buchen und auch im Oman oder in Marrakesch vorbeischauen. In anderem Zusammenhang bleibt es nicht bei dem bereits verbreiteten, wenn auch vielfach bis in politische Höhen ignorierten Hinweis, dass lauthals erhobene Forderungen nach homogener Identität von Nationen oder Kulturen schon deshalb kurios sind, weil es solche Reinheit in Geschichte und Gegenwart niemals gab und nirgends gibt. Gegen die Blindheit, die sich schnell mit Ausgrenzungsphantasien paart, wird eine kräftigere Behauptung gesetzt: „Es sind manchmal die Menschen mit besonderen, seltenen Eigenschaften oder Erfahrungen, in deren Sehnsüchten und Kämpfen um Anerkennung sich die Verletzbarkeit als condition humaine selbst spiegelt“, und deshalb sei in Frage zu stellen, dass „eine homogene Kultur oder Nation für einen modernen Staat grundsätzlich besser sein sollte als eine heterogene“. Daraus folgt das „Lob des Unreinen“, auf das das Buch zuläuft. Bekennend formuliert: „Mich persönlich beruhigt kulturelle oder religiöse oder sexuelle Verschiedenheit in einem säkularen Rechtsstaat.“
So weit, so klug, wichtig und mir sympathisch. In „meiner moralischen Erwartung an andere“ kann ich Carolin Emcke folgen und habe ich von ihr gelernt. Dass sie allerdings meint, diese Erwartung im selben Satz mit „Vertrauen in die eigene Gesellschaft“ gleichsetzen zu können, erstaunt mich sehr. Ihr Buch, wird mir an dieser Stelle besonders deutlich, ist Moralkritik auf hohem Niveau. Sozialkritik ist es nicht.
Dem Hass zu begegnen, ist schon im Vorwort zu lesen, fordere neben anderem „Selbstzweifel“. Wie weit geht der? Später ist zu lesen: „Natürlich gibt es soziale, politische oder ökonomische Sorgen.“ Sind diese Sorgen wirklich naturgegeben? „Ökonomische und soziale Interventionen an den Orten und in den Strukturen, wo jene Unzufriedenheit entsteht, die in Hass und Gewalt umgeleitet wird“, werden einmal gefordert. Weder diesen Sorgen noch diesen Interventionen gilt eine konkretisierende Überlegung. Aber nicht nur das. Das letzte Zitat zielt allein auf den IS. Wo es um die Zustände hierzulande geht, richtet sich die Aufmerksamkeit nicht auf die wachsende Ungleichheit oder die Altersarmut, sondern auf „den sozialen Unmut“ darüber und auf „die Angst“ davor. „Sie fühlen sich politisch und medial nicht ausreichend repräsentiert“, heißt es an anderer Stelle. Alles nur Einbildung, nichts von Wirklichkeit? So weit geht Emcke nicht. Aber sie dankt an diesen Stellen ab: „All das sind Sorgen, bei denen auch ich nicht sagen kann, wie nötig sie sind. Aber sie lassen sich öffentlich diskutieren und konfrontieren mit vernünftiger Kritik.“ Zart ist dieses Aber. Aber machtvoll? Einem Zweifel daran, dass Diskutieren die Gründe der Sorgen beseitigen könnte, gibt sie keinen Raum.
Nun hat die bisherige Geschichte der Bundesrepublik sicher bewiesen, dass das offene und vielstimmige Reden über soziale Probleme in vielen Fällen deren Lösung zur Folge haben kann und – weil dabei Menschen einbezogen und ihre Lebensbedürfnisse besser befriedigt werden – der Zusammenhalt einer Gesellschaft auf diese Weise stark wird. Und nicht zuletzt an dem Versuch, den Problemen und den Sorgen die Öffentlichkeit zu verweigern, ist ein vergangener deutscher Staat bekanntermaßen gescheitert: weil der Unmut auf Realitäten gründete. Aber ersetzen kann das Reden das Handeln nicht. Eine schmale Zeitungsmeldung fiel mir gerade in die Hand, ein Fall von vielen: Das Finanzministerium hat aus einem Aktionsplan, der sozialen Menschenrechten Geltung verschaffen soll, wenn deutsche Unternehmen in Entwicklungsländern produzieren lassen, alles Verpflichtende herausgestrichen. Zugleich spricht die Bundeskanzlerin davon, dass man Fluchtursachen bekämpfen müsse. Wer soll ihr glauben, dass das ernstgemeint ist?
Auch Emcke weiß: dass der Hass „aus der Mitte der Gesellschaft heraus“ zumindest geduldet wird, „dazu braucht es nicht viel“. Einmal kam es hierzulande schon so weit, dass er siegte – als der Unmut und die Verunsicherung in der Gesellschaft so reale Gründe hatten, dass die bürgerlichen Eliten den „Bestien“ und den „abtrünnigen Zivilisierten“ die Macht übergaben. So groß wie 1932 sind weder die Wirtschaftskrise noch die Fragwürdigkeit der Mächtigen, und der Wert der Menschenrechte ist deutlicher bewusst. Und genau wie damals wird es auch deshalb nicht kommen, weil die Verdammten dieser Erde nicht mehr die Proletarier hierzulande, sondern Völker im bisherigen Anderswo sind. Aber schon bei den Verbündeten und gar unter den Vertragspartnern heute sieht es zunehmend trübe aus. 1933 blieb dem eben zitierten großen deutschen Intellektuellen nur noch übrig, sein zwei Monate „vor der Katastrophe“ abgegebenes „Bekenntnis zum Übernationalen“ an den Anfang eines Buches zu stellen, das „Der Hass“ hieß und diesen im Untertitel „Deutsche Zeitgeschichte“ nennen musste, und zu konstatieren: „Wir erdulden, was in Deutschland geschieht, und machen dabei die Wahrnehmung, dass wir vorher das Phänomen des Hasses kaum gekannt hatten.“ Trotzig, stolz und hilflos schrieb Heinrich Mann am Schluss seiner Betrachtung der neuen großen Männer und ihres Handelns: „Künftige Menschen können sich einem gerechten Handeln nur dann gewachsen zeigen, wenn wir verharrt haben in der Sprache der Wahrheit.“
Auch Emckes Überlegungen führen auf ein Lob des „Wahr-Sprechens“ hin. Sollte es vor der Katastrophe wirken, müsste ihm die ökonomische, soziale, politische und kulturelle Selbstkorrektur der Gesellschaft antworten, in der es zur Zeit – soll man sagen: noch? – möglich ist. Bisher sieht es wenig danach aus, trotz aller Widerreden. Seit Angela Merkel im September 2015 einmal meinte, das Ideale sei „mein Land“, ist ihr und denen, die aufnahmen, was sie ermöglichte, wenig zart deutlich gemacht worden, wo die Hämmer weiterhin hängen. Das Werk von Carolin Emcke, wird die Jury zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels auf dem Umschlag meines Exemplars zitiert, sei „Vorbild für gesellschaftliches Handeln“, weil es „beweist, dass der Dialog möglich ist“. Schön wärʼs. Es zeigt eher, wie er aussehen könnte. Auch das allerdings ist heutzutage viel. Es bliebe nur noch, das intellektuelle Ideal zur sozialen Macht zu machen.

Carolin Emcke: Gegen den Hass, S. Fischer, Frankfurt a. Main 2016, 239 Seiten, 20,00 Euro.