20. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2017

Der literarische Volksempfänger. Ein Blick zurück

von Erhard Weinholz

Es nimmt kein Ende mit diesen Büchern: Ständig wird Neues geschrieben, verlegt, mitunter besprochen, vielleicht auch gelesen und dann meist recht bald vergessen. Endstation: der Fenstersims oder ein Karton am Straßenrand. Als Autor bin auch ich ein Teil dieser Industrie. Als Leser aber sind mir all diese Novitäten, Bestseller- und Buchpreislisten ziemlich egal. Ich bin ein Schatzsucher. Die Menschheit hat genug angesammelt, das zu lesen lohnt.
Doch ist nicht, so höre ich nun, vor allem die Literatur unserer Tage für uns von Belang? Ich seufze. Mein innerer Widersacher lässt nicht locker: In Deinem Bücherschrank sehe ich „Zwei Kapitäne“, „Studenten“, „Menschen am Steuer“. Haben alle mal Stalinpreise erbracht, na toll, aber was bringt uns das? Und dass Broch und Jahnn, Deine Hausgötter, kein Echo mehr finden, liegt nicht an den vielen Neuheiten, sondern am Wandel der Lesebedürfnisse. Was wert ist, als Erbe gepflegt zu werden, wird von den Verlagen auch gepflegt. So, und was ist das hier? Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde. Juni 1935. Willst Du uns damit beglücken? Man staunt manchmal, erwidere ich, wo das Erstaunliche gedeiht. Und mit diesen Worten nehme ich ihm das Heft aus der Hand.
Erschienen ist Die Literatur in der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart, deren Haupteigentümer damals Robert Bosch war. Im Jahr darauf wurde er von den Nazis herausgedrängt. War die Bosch AG nicht ein Musterbetrieb? Aber was Ley recht war, musste Goebbels noch lange nicht passen. Dass Heinrich Hauser Bosch im „Kraftfeld von Rüsselsheim“ lauthals lobt, scheint ihn aber nicht weiter gestört zu haben. 1940 kam das Buch heraus. War Hauser nicht schon 1939 emigriert? So ist es.
Wilhelm Emanuel Süskind, der später mit Sternberger und Storz in der FAZ am „Wörterbuch des Unmenschen“ mitgeschrieben hat, an der nach Klemperers „LTI“ wichtigsten Abrechnung mit dem Nazideutsch, jener Süskind war damals der Herausgeber des Blattes. Er hatte sich, so lese ich im Netz, der nazistischen Kulturpolitik angepasst, hielt sich aber in seinen eigenen Beiträgen von ihr fern. In Süskind Blatt schwimmt man ohne aufdringliche Hakenkreuzlerei mit im Strom des Nazigeistes. Der gehaltvollste Beitrag zum Hauptteil dieser Nummer hier stammt vom Germanistik-Emeritus Oskar Walzel (Bonn). Seine Frau galt als Jüdin; da er sich von ihr nicht trennen wollte, verlor er 1936 die Lehrerlaubnis. Um die Umwertung der deutschen Romantik müht er sich, stellt die späte, die Heidelberger Romantik, über die frühe Schlegels. Denn sie habe den Deutschen, die nach einem neuen Reich strebten, das Reich der Kaiser des Mittelalters zum Vorbild gemacht. Und sie hat, so füge ich hinzu, damit Gefolgschaftsdenken, Judenhass und Deutschtümelei befördert. Walzel war kein Nazi; schien ihm solch ein Bekenntnis in prekärer Stellung ratsam zu sein? Oder handelt es sich bei ihm um jenen unwillkürlichen Opportunismus, von dem Klemperer immer wieder berichtet hat?
Dem Hauptteil folgt die ausführliche Zeitungs- und Zeitschriftenschau, darin unter anderem Gedanken zum Missbrauch des Superlativs, die ich so treffend finde, dass ich sie am liebsten komplett zitieren würde. Sie liegen auch ganz auf der Linie von „LTI“: Wo der Superlativ die Macht an sich reiße, höre das Denken auf und selbst das Gefühl. Denn Gefühle, die der prüfenden Kraft des Gedankens nicht standhielten, seien wenig wert. Erschienen ist das in der Kölnischen Zeitung, Verfasser war ein gewisser Otto Brües, geboren 1897 und einer der 88 Schriftsteller, die im ersten Jahr der Naziherrschaft Adolf Hitler treueste Gefolgschaft gelobten; 1937 Mitglied der NSDAP, im Krieg dann Wehrmachtsoffizier.
Am Schluss stehen Kurzrezensionen. Gesammelt besprochen werden „Bücher junger deutscher Dichter“: Möller, Böhme und Schumann. Schumann, das klang etwa so: Wir werden euch niemals vergessen / Die ihr in das Sterben marschiert. / An eurem Heldentod messen / Wir, was diese Zeit gebiert (aus einem später erschienenen Bändchen mit Widmung für die liebe Mary, Rußland, März 1944). Alles wird mit Beifall bedacht, und zwar, man staunt, von Albrecht Goes. Der ja gemeinhin als Vertreter der inneren Emigration gilt, später Autor von „Das Brandopfer“ und „Eine unruhige Nacht“. Bei einem der drei sieht er allerdings Verwandtschaft mit Barlachs Plastik. War 1935 nicht das schlimme Jahr, als in Güstrow der Engel abgehängt wurde? Nein, das war später. Aber 1934 hatte Barlach, warum auch immer, einen von Goebbels verfertigten Aufruf unterschrieben, das deutsche Volk möge sich Hitler per Volksentscheid zum Führer und Reichskanzler erwählen.
Es bleibt im Rezensionsteil nicht bei diesen zwei Überraschungen. Besprochen wird auch Walter Franks „Adolf Stoecker und die christsoziale Bewegung“. Frank ist zu der Zeit Wissenschaftsverwalter im Stab des Hitlerstellvertreters Heß, Stoecker konnte mit seinem Antisemitismus und seiner sozialen Demagogie als Vorläufer der Nazis gelten – da war natürlich Lob angebracht. Wer gibt sich dafür her? Theodor Heuss, der große Liberale. Zugleich aber kann immer noch bei S. Fischer das Werk Thomas Manns erscheinen; der Nobelpreisträger lebt zwar nicht mehr in Deutschland, hält sich aber mit Kritik an den Zuständen dort sehr zurück. Die letzte dieser Publikationen, „Leiden und Größe der Meister“, Berlin 1935, rezensiert in dieser Nummer Süskind selber, und zwar höchst wohlwollend. Später erklärt Mann, allem in jenen zwölf Jahren in Deutschland Erschienenen hafte ein Geruch von Blut und Schande an, es verdiene eingestampft zu werden. Ob das auch für die eigenen Bücher der Jahre 1933 ff. gelten sollte, sagt er nicht; dass auch dieses Nazideutschland kein homogenes Ganzes war, scheint er nicht zu bemerken. Ähnlich pauschal haben Jahrzehnte darauf etliche ausgereiste DDR-Autoren über die Bücher ihres Herkunftslandes geurteilt.
Es ließe sich noch vielerlei sagen über dieses Heft, über die Sprache der Beiträge zum Beispiel, aber das würde hier zu weit führen. Beglückendes habe ich jedenfalls nicht gefunden. Keinen Hinweis auf etwas, das auch nur annähernd heranreichen könnte an Friedo Lampes „Septembergewitter“ und „Am Rande der Nacht“. Aber man kann noch einmal sehen, wie sehr das deutsche Bürgertum versagt hat, mehr wohl als jede andere Gesellschaftsklasse damals. Und merkt wieder einmal, dass man nicht so ohne weiteres vom Allgemeinen aufs Konkrete schließen kann.

Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde. Das literarische Echo, 37. Jahrgang Heft 9, Juni 1935, 50 Seiten, Bezugspreis vierteljährlich 5 RM, Einzelheft 3 RM.