19. Jahrgang | Nummer 26 | 19. Dezember 2016

Versuch über deutschen Judenhass

von Lutz Unterseher

Es geht um Erklärungen für die Besonderheiten des deutschen Antisemitismus. Dies vor dem Hintergrund der Annahme, dass der Judenhass in Deutschland in der Tat Unterschiede zu jenem etwa in Russland oder Polen aufweist.
Dort konnte sich der Antisemitismus immer wieder einmal austoben, und das Totschlagsmotiv hat eine Massenbasis gehabt. In Deutschland hingegen schien der im Christlichen wurzelnde, periodisch in Gewaltausbrüchen gipfelnde Judenhass mit dem 18. Jahrhundert im Wesentlichen überwunden. Fortan blieben jene, die offen ein „Ausmerzen“ forderten, eine Minderheit. Doch gab es eine schweigende Mehrheit, die sich zwar offenen Judenhass nicht gestattete, am Ende aber den Massenmord durch Wegschauen tolerierte.
Was macht die spezifisch deutsche Entwicklung aus? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns an den Anfang des 19. Jahrhunderts zurückversetzen: in eine Zeit, die durch die Koinzidenz zweier Phänomene gekennzeichnet ist, die für unsere Problematik relevant sind.
Einerseits die deutsche Romantik, die in ihrer kulturellen und politischen Wirkmächtigkeit in anderen Ländern keine Entsprechung hatte, und andererseits eine Regierungsform, die zwar wenig Partizipation der Bevölkerung zuließ, zugleich aber vergleichsweise rational war, wodurch sie – über das Gottesgnadentum hinaus – durchaus stabile Legitimität genoss.
Zur Romantik: Diese erwuchs als Phänomen nicht nur etwa der Literatur und der Musik, sondern auch der Staatsphilosophie als „nationales Erwachen“ im Widerstand gegen die napoleonische Okkupation. Sie ist gezeichnet von der schmerzlichen Erkenntnis, dass die Deutschen – noch – nicht unter einem gemeinsamen staatlichen Dach wohnten, also keine Staatsnation, sondern eine Kulturnation waren.
So wurde auf der kulturellen, auf der philosophischen Ebene danach gesucht, was wahres Deutschtum auszeichnet. Dies ließ sich am besten durch ein Fremdbild bewerkstelligen, von dem es sich zu unterscheiden galt:
Vor allem das Welsche, das Französische, wurde als bedrohlich zurückgewiesen. Gemeint war damit der Geist der Aufklärung, dem freilich auch große Deutsche verpflichtet gewesen waren, mit seinem kritischen Hinterfragen des Überkommenen. Gemeint war auch die Idee, Herrschaft durch ein ausgeklügeltes Regelwerk, eine Konstitution, zu kontrollieren. Und schließlich galt der Widerwillen aller Liberalität und Libertinage.
Man wollte in einer natürlichen Gemeinschaft leben und nicht in einer künstlich strukturierten Gesellschaft. Diese Unterscheidung wurde 1887 von Ferdinand Tönnies in den gerade erst entstehenden soziologischen Diskurs eingeführt.
Der Akzent lag auf Gefühl und nicht kühlem Verstand. Es ging um Seelentiefe, um die Suche nach den Ursprüngen, etwa auch nach den mittelalterlichen Wurzeln des Deutschtums, die einen von der Oberflächlichkeit der vom Alltagsgeschäft Konsumierten abhob. Charles de Gaulle, einer der profundesten Kenner deutscher Seele, soll einmal gesagt haben: „Die Deutschen sind die Ritter der blauen Blume, die ihr Bier erbrechen.“
Die konservativen Staatsphilosophen jener Zeit entwickelten Vorstellungen vom „Volkskörper“, von der großen Gemeinschaft, die sich als organizistisch bezeichnen lassen. Beliebt war es, das deutsche Volk als Baum zu imaginieren: tief verwurzelt in gesicherter Tradition, mit stetig wachsendem Stamm, ausgreifenden – Raum beanspruchenden – Zweigen und grünen, saftigen Blättern. Vielfalt in der Einheit.
Doch, ach, da gab es Parasiten, vielleicht Blattläuse, die den gesunden Baum, den Volkskörper, bedrohten! Das waren die Juden, die – in christlicher Tradition bereits zu Fremden gestempelt – nun doppelt fremd erschienen. Waren sie doch, im Eigeninteresse, Anhänger welscher Ideen: wie etwa jener seltsamen, die allen Menschen gleiche Würde zuschrieb.
Saul Ascher, kluger Gesprächspartner des jungen Heinrich Heine, hat die enge Verknüpfung von deutschem Nationalismus und Judenhass bereits früh erkannt und gegeißelt: „Man muss die Menge, um auch sie für eine Ansicht oder Lehre einzunehmen, zu begeistern suchen; um das Feuer der Begeisterung zu erhalten, muss Brennstoff gesammelt werden, und in dem Häuflein Juden wollten unsere Germanomanen das erste Bündel Reiser zur Verbreitung der Flamme des Fanatismus hinlegen.“
Der staatsphilosophische Antisemitismus war zwiegesichtig: Einerseits ergab sich aus der Parasitenmetapher eine Anregung zum „Ausmerzen“, „Vertilgen“, welche einfache Gemüter auch sehr ernst nahmen, andererseits aber handelte es sich um einen akademischen Diskurs: unverbindliches Intellektuellengeschwätz.
Diese Art zu denken hat allerdings Generationen deutscher Geistesgrößen geprägt, teilweise bis in die heutige Zeit. So etwa wandte Thomas Mann bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Formel „Gemeinschaft statt Gesellschaft“ polemisch gegen die Feinde im Westen: dort Gesellschaft im Sinne von verderbter Zivilisation, hier gesunde Gemeinschaft, wahre Kultur.
Zum zweiten Aspekt der beobachteten Koinzidenz: Die Deutschen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Österreich ausgeklammert, lebten unter einem preußischen Modell der Herrschaft: entweder in Preußen selbst oder in den anderen deutschen Ländern, die den Leitstaat in vielem kopierten. Zeichnen wir ein Idealbild solcher Herrschaft!
Es handelte sich typischerweise um einen starken Staat, keinen Nachtwächter. Dieser Staat kümmerte sich um sein Volk wie ein guter Vater um seine Familie: Einerseits wurde das Publikum vor „gefährlichen“ Zeitungsinformationen bewahrt, andererseits gab es fürsorgliche Eingriffe in das Arbeitsleben. (Das erste Arbeitsschutzgesetz der Welt regelte in Preußen bereits 1839 die Arbeits­zeit von Jugendlichen in der im Entstehen begriffenen Industrie.)
Die Herrschenden, Monarchen etc., führten ein eher bescheidenes, nahezu bürgerliches Leben (Ausnahmen bestätigten die Regel), und die Repräsentation geschah meist recht maßvoll. Man war den Künsten und der Wissenschaft gegenüber aufgeschlossen. Vor allem in Preußen und in Bayern blühte die Baukunst, und am Mittagstisch des preußischen Königs nahm der erste Gelehrte des Staates, Wilhelm von Humboldt, regelmäßig teil, um die Hoheiten zu erleuchten.
Die Verwaltung war, vor allem wegen der Reformen des Freiherrn vom Stein, effizient und nahezu unbestechlich. Mit Ausnahmen galt die – zumindest formale – Gleichheit vor dem Gesetz. Die Richter arbeiteten professionell und neigten ebenfalls nicht zur Bestechlichkeit. Handel und produzierendes Gewerbe konnten sich frei entfalten.
Preußen war im Vergleich mit zahlreichen anderen europäischen Ländern ein Beispiel für good governance. Auch ohne wesentliche Beteiligungsrechte sahen sich sehr viele Bürger in diesem Staat gut aufgehoben. Die bereits durch frühere preußische Könige begründete und vor allem durch Friedrich II. verstärkte obrigkeitsstaatliche Tradition wurde weiter befestigt.
Auch als im Kaiserreich demokratisch-konstitutionelle Elemente in das Herrschaftssystem integriert wurden, blieb diese Tradition ungebrochen.
Von dieser alles in allem recht rationalen Herrschaft profitierten insbesondere auch die Juden. Als gesellschaftliche Gruppe begriffen sie, dass sich ein System formaler Gleichheit und beträchtlicher Kalkulierbarkeit zum eigenen Fortkommen nutzen ließ. Als Königsweg wurde alsbald die Bildung entdeckt (obwohl, Gleichheit hin – Gleichheit her, den Juden immer noch nicht alle Berufe offenstanden).
Der kollektive Aufstieg war rapide, Bildungsniveau und Einkommen der Juden als Gruppe wuchsen schneller als dies für vergleichbare Kreise der christlichen Mittelschicht der Fall zu sein schien. In nicht-jüdischen Teilen der Bevölkerung blühten Neid und Argwohn. Obwohl die jüdische Population nur einen sehr geringen Bruchteil der Gesamtbevölkerung ausmachte, wurden die „Hebräer“ doch überall, hinter jeder „Machenschaft“ vermutet.
Es begann ein allgemeines Ratespiel, ob es sich bei bestimmten Personen um Juden handelte oder nicht. Es wurden Indikatoren benutzt wie: Name, die „Rasse“ verratender Phänotypus, Gestus, Sprachgebrauch oder Wohngegend. Doch waren diese Variablen keine Indikatoren, die hundertprozentige Sicherheit garantierten. Man konnte falsch liegen. War das nicht spannend? Hatte diese virtuelle Judenhatz nicht auch eine hohe Unterhaltungsqualität?
Man lernte allerdings, mit seiner Missgunst zu leben. Zwar schützte Vater Staat nicht nur einen selbst, sondern auch die Juden. Doch kam eine Auflehnung gegen die Obrigkeit nicht in Frage. Was allerdings möglich, weil folgenlos, erschien, das war das Bramarbasieren entlang der Linie, welche die Philosophen der blauen Blume vorgezeichnet hatten.
Die Zahl derjenigen, die sich solcherart orientierten, ist im Kaiserreich sicherlich angewachsen (allerdings ex post schwer bestimmbar). Und zwar in dem Maße, in dem einerseits jüdischer Fortschritt wahrgenommen wurde und in dem andererseits die Mittelschicht sich durch den Prozess der kapitalistischen Industrialisierung gefährdet sah.
Den großen, öffentlichen Eklat riskierte freilich niemand. Antisemitische Sentiments blieben unter dem Teppich. Für Radikalität fehlte die Massenbasis, der Mut sich zu exponieren. Eine Dreyfus-Affäre schien in Deutschland unmöglich (ganz abgesehen davon, dass Juden keine aktiven Offiziere sein durften).
Das ökonomische Dilemma der Mittelschicht sollte sich in der Weimarer Republik noch verschärfen. Der Antisemitismus wurde virulent sowie in großem Maßstab öffentlich. Doch noch kam es nicht zum Äußersten. Der Staat als Garant von Recht und Ordnung funktionierte halbwegs, und immer noch eine Mehrheit des Volkes nahm dieses Angebot dankbar an.
Dann kam der große Bruch, das Ende von Recht und Ordnung: Die antisemitischen Mörder erhielten die staatliche Lizenz zu töten, und jene, die sich als ordnungsliebende Bürger nicht gestattet hatten, ihre langgehegte Missgunst in Gewalt umschlagen zu lassen, erhielten gütigerweise die Chance wegzuschauen.

Von Lutz Unterseher erscheint demnächst im Lit-Verlag, Münster: Hitlers System oder die Zerstörung der Gesellschaft.