19. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2016

Doppelte Fehlwahrnehmung

von Bernhard Romeike

Im Presseclub des Ersten Deutschen Fernsehens wurde – wie in vielen anderen Gerede-Sendungen ebenfalls – nach den Feierlichkeiten zur deutschen Vereinigung über die Dresdener Pöbeleien gesprochen. Einerseits war man sich einig, Fremdenfeindlichkeit sei kein ostdeutsches Phänomen. Andererseits kam man auf Besonderheiten im Osten. Die wahrscheinlich wichtigste ist: im Westen haben die Menschen die Erfahrung, so wie es ist, war es im Grunde schon immer. Im Osten ist die Erfahrung, dass politische Systeme zusammenfallen können, wenn man laut genug ruft und zahlreich demonstriert. Für Menschen entsprechenden Lebensalters ist das auch eine ganz persönliche Erfahrung. Wahrscheinlich waren in den Fernsehberichten über Dresden auch deshalb immer wieder dieselben Bilder einer älteren Frau mit Trillerpfeife und brüllender älterer Männer zu sehen. Die haben das, zumal in Dresden, 1989 alles schon mal gemacht.
Dann kommt das Argument, die Ostdeutschen seien nicht dankbar genug. Wofür eigentlich? Dass sie selbst die DDR-Begrenzungen umgestoßen haben? Die BRD-Eliten haben 1990 etwas übernommen, das sie nicht selbst geschaffen hatten. Das ist der historische Hintergrund, der hier nicht weiter ausgeleuchtet werden soll. In der Presseclub-Debatte kam dann jedoch eine interessante doppelte Fehlwahrnehmung zur Sprache, die mit genau diesem Hintergrund zusammenhängt. Es wurde einerseits gemeint, man müsse nur genug mit den Leuten reden, und dann würden sie die gute Politik der Regierenden, auch in der Flüchtlingspolitik, schon verstehen. Das Problem sei, Politik und Medien hätten nicht genug mit den Menschen geredet. Bei einer solchen Wahrnehmung ist Politik und politische Kommunikation gewissermaßen Volksaufklärung und Propaganda, wo der unwissenden oder renitenten Bevölkerung eine vorher feststehende Sammlung von Positionen so lange nahe gebracht werden soll, bis diese sie hingenommen oder übernommen hat. Es ist ein einseitiger Vorgang von oben nach unten oder von Sender zu Empfänger, kein Prozess gleichberechtigter Kommunikation oder eines Austausches von Argumenten.
Umgekehrt wurde eingewandt, es habe doch auch in Sachsen genügend Orte und Foren gegeben, auf denen die Bürgerinnen und Bürger ihre Meinung sagen konnten, und das hätten viele wahrgenommen. Es habe also Kommunikation gegeben. Hier wiederum wurde erwidert, dass viele Menschen im Osten meinten, wenn sie ihre Meinung gesagt haben, dann müssten die Politiker auch demgemäß handeln. Das sei jedoch „in der Demokratie“ nicht so. Politikverdrossenheit entstehe vor allem auch dadurch, dass die Leute erwarteten, Politik müsste so gemacht werden, wie sie meinen, dass sie gemacht werden sollte. Und wenn sie so nicht gemacht wird, tauge die ganze Politik nicht.
Schließlich das Argument: die Ostdeutschen hätten „den multikulturellen Konsens“ der Bundesrepublik aufgekündigt. Aber hat es den denn je gegeben? Ist überhaupt jemals eine Debatte darüber geführt worden, ob es einen „multikulturellen Konsens“ in diesem Lande geben sollte, und wenn ja, worin er bestehen könnte.
Der Publizist Frank A. Meyer sieht die Wiederkunft der uralten, immer wiederkehrenden Sehnsucht der Deutschen „nach einem neuen Deutschland“. Dieses aus den Stahlgewittern des Ersten Weltkrieges erstehen zu lassen, wie Thomas Mann und viele andere, eigentlich kluge Köpfe 1914 wähnten, war schon grandios gescheitert. Später zerfiel der Traum vom Sozialismus. „Der Achtundsechziger-Glaubensaufstand entpuppte sich als Kirmes.“ Nun sollen die langweiligen Reste des rheinischen Kapitalismus verschwinden, mit der Zuwanderung muslimischer Migranten. „Ja, wir schaffen das, das neue Deutschland.“ Meyer kommentiert dies im aktuellen Heft der Zeitschrift Cicero: „Von Mitte links bis links außen scheint eine Berliner Elite geradezu vernarrt in die Migranten, die auf dem Marsch ins gelobte Deutschland ihre mittelalterliche Kultur im Tornister tragen: Unterwerfung unter religiöse Regeln von Koran und Scharia, Männerherrschaft und Unterdrückung der Frau, völliges Unverständnis für Freiheit und Verpflichtung des Grundgesetzes – der westlichen Zivilisation.“
Meyer zitiert die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, die in der Zuwanderung eine „Revolution“ sieht: „Unser Land wird sich ändern und zwar drastisch, ich sag euch eins, ich freu mich drauf, vielleicht auch, weil ich schon mal eine friedliche Revolution erlebt habe. Dieses hier könnte die sein, die unser Land besser macht.“ Hier handelt es sich jedoch nicht um eine Anrufung, sondern eine gründliche Umdeutung von 1989. Damals war der Ruf zunächst: „Wir sind das Volk!“ Das war ein Ruf von unten, nicht Anordnung von oben. Daraus wurde dann: „Wir sind ein Volk!“ Das meinte, die Deutschen Ost und die Deutschen West bilden zusammen das deutsche Volk, das sich nun vereinen sollte. Das war gleichsam die Geschäftsgrundlage der deutschen Vereinigung, die in diesem Jahr in Dresden gefeiert wurde. Folgt man Göring-Eckardt, hat jene Revolution von 1989 das Land nicht „besser“ gemacht. (Meint sie: schlechter?) Das müsse nun nachgeholt werden. Durch die Einwanderung. Damit hat aber Göring-Eckardt jene Geschäftsgrundlage verlassen, und mit ihr die links-mittige Berliner Elite. Nicht diejenigen, die dagegen protestieren, in ihrer Hilflosigkeit oft auch politisch völlig inkorrekt, laut und dumpf.
Aber wird das Land auf diesem Wege tatsächlich „besser“? In seinem Text kritisiert Meyer die Konsequenzen, die die Tageszeitung taz unter die Schlagzeile brachte „Freiheit ist die Freiheit des Andersbekleideten“. Gemeint sind Niqab und Burka, von der auch Der Spiegel meinte: „Die Burka kann ein Zeichen der Freiheit sein.“ Dazu nochmals Meyer: „Die total verhüllte, gespenstisch unsichtbar gemachte Frau – Freiheitsstatue der Linken!“ So werde das Grundgesetz auf den Kopf gestellt und die Religionsfreiheit der Gleichberechtigung der Frau übergeordnet.
Es braucht tatsächlich einen neuen Konsens in dieser Gesellschaft, der auf Augenhöhe hergestellt wird, nicht im Sinne von „Volksaufklärung“. Frank A. Meyer ist Schweizer. Vielleicht braucht es etwas mehr Distanz, um das zu sehen.