von Manfred Orlick
Die Fußball-Europameisterschaft 2016 in Frankreich ist Geschichte. Mit einiger Überraschung holte sich Portugal den Titel, während die Mannen um Jogi Löw als Favoriten im Halbfinale gegen Gastgeber Frankreich ausschieden. Nicht nur deshalb sprechen Experten und Fans jetzt schon von einem der langweiligsten Turniere.
Was wird also von diesem Fußballfest in der Erinnerung bleiben? Schweinsteigers verschuldeter Handelfmeter oder die rhythmischen Huh-Anfeuerungen der isländischen Fans? Ein bisschen wenig für ein großes internationales Turnier. Da hatten vergangene Meisterschaften wesentlich mehr zu bieten. Denken wir nur an die „Schmach von Cordoba“ 1978 oder die „Hand Gottes“ 1986. Sie werden aber bei weitem überboten vom Latten„treffer“ im WM-Finale vom 30. Juli 1966 zwischen Gastgeber England und der Bundesrepublik Deutschland. In der Verlängerung, genau in der 101. Minute, knallte der Engländer Geoff Hurst den Ball aus kurzer Distanz an die Unterkante der Latte des deutschen Tores, das von Hans Tilkowski gehütet wurde. Von da prallte das runde Leder auf den Boden und sprang wieder ins Feld, wo es der deutsche Verteidiger Wolfgang Weber schließlich ins Toraus köpfte.
Tor oder nicht Tor? Sekunden der Verwirrung. Der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst entschied nach Rücksprache mit seinem sowjetischen Linienrichter Tofik Bachramow auf Tor. Eine Schiedsrichterentscheidung, die seit fünfzig Jahren heftig und kontrovers diskutiert wird. Die „Fehlentscheidung“ wurde auf Sprachbarrieren, begrenzten Sachverstand und den Heimvorteil der Engländer zurückgeführt. Selbst Verschwörungstheorien machten die Runde. So hätte der sowjetische Linienrichter gar nicht im Finale an der Linie stehen sollen, sondern seinen Einsatz mit zwei Dosen Kaviar von einem malaysischen Unparteiischen abgekauft. Oder war es ein „Racheakt“ des Linienrichters, weil Deutschland im Halbfinale die Sowjetunion ausgeschaltet hatte? Immerhin war England 1966 eine WM im Kalten Krieg, und Nordkorea hatte mit einem Sieg über Italien die ganze westliche Fußballwelt geschockt.
Die BILD-Zeitung polterte am nächsten Tag „Wir haben 2:2 verloren“. Die englische Boulevardpresse bediente sich ebenfalls kriegerischer Rhetorik und wetterte gegen die „Teutonen unter ihrem Oberbefehlshaber Schön“. Das 4:2 in den Schlusssekunden der Partie war fast bedeutungslos. Außerdem befanden sich da bereits Zuschauer auf dem Spielfeld.
War der Ball zum 3:2 nun vollständig hinter der Linie oder nicht? In den zurückliegenden Jahrzehnten wurden zahlreiche Versuche unternommen, diese Frage an Hand von Fotos und Filmaufnahmen zu klären. Zwar konnten Zeitlupenwiederholungen beweisen, dass der Ball wohl vor der Torlinie aufsprang, doch ob dies auch auf seine Flugbahn zwischen Lattenunterkante und Boden zutraf, dafür fehlt bis heute ein schlüssiger Beweis.
Trotzdem wurde der angebliche „Titelbetrug“ von 1966 immer wieder zu nationalistischen Kampagnen der Boulevardmedien genutzt. So titelte noch ein Vierteljahrhundert später die Frankfurter Rundschau: „Das dritte Ei – sieben Sekunden, die uns mehr bewegten als der Mord an John F. Kennedy“. Und selbst Anfang Juli 2016 (!), einen Tag vor dem Referendum der Briten über den Verbleib in der EU, lautete die BILD-Schlagzeile „Liebe Briten, wenn Ihr in der EU bleibt, erkennen selbst wir das Wembley-Tor an!“
Was in Deutschland zu einem nationalen Mythos hochstilisiert wurde, ist im Mutterland des Fußballs dagegen völlig unbekannt. Dort ist das „Wembley-Tor“ selbst fußballinteressierten Engländern kein Begriff.
In der Fußballgeschichte gibt es zahlreiche „Phantom-Tore“, doch das „Wembley-Tor“ wird zumindest hierzulande auch in Zukunft für Diskussionsstoff sorgen – oder wie Hans Tilkowski einmal sagte: „Und ewig fällt das Wembley-Tor“.
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