19. Jahrgang | Nummer 15 | 18. Juli 2016

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal eine Alu-Gedenkschleife, ein Plisseeröckchen aus Blech, ein ganz ewiger Kaiser in Wien sowie ein halber Schiller in Berlin…

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Herbert von Karajan hat in Wien jetzt eine Dreier-WG zur Untermiete: Alban Berg, Arnold Schönberg, Anton von Webern. Dem Dreigestirn der Zwölftönerei huldigt ein Denkmal auf dem Karajanplatz vor der Staatsoper an der Ecke Ringstraße/Kärntnerstraße. Ein prominenterer, ein passenderer Ort wäre gar nicht denkbar in der Stadt, die nun – neben anderen VIPs der tönenden Branche – auch für die Meister der Zweiten Wiener Schule endlich ein ehrendes Ausrufezeichen hat. Das präsentiert sich gleich dreifach: nämlich als drei mehrere Meter in die Höhe schießende Schleifen aus Aluminium, die auf einem ovalen, zwölffach gestuften Sockel miteinander verbunden sind, auf dem die drei weltberühmten Namen stehen. Und praktischerweise gleich dazu noch ein vierter, der von Gustav Mahler, was wiederum ein Geschmäckle hat. Wird doch so der nicht weniger weltberühmte Mahler denkmalstechnisch zum Trittbrettfahrer oder eben Anhängsel seiner drei großen Kollegen. Und das Geld fürs silbrig glänzende Monument kommt – Steuerzahler aufgeatmet! – aus dem Tantiemen-Säckel von Alban Berg, was auch so sein Geschmäckle hat.
Entworfen hat den Schleifen-Dreier Wolf D. Prix vom Architektenbüro Coop Himmelb(l)au. Und schon beim ersten Augenschein beschlich mich das Gefühl, dass bei der Ideenfindung der expressionistische Bildhauer Rudolf Belling (1886-1972) heimlich Pate stand: Mit seiner epochalen, als Inbegriff der Abstraktion gefeierten Plastik „Dreiklang“; die Variante Bronzeguss 1919 steht im Münchner Lenbachhaus, die hölzerne von 1924 in der Alten Nationalgalerie Berlin. Und der alte Belling stellt den neuen Wolf D. Prix arg in den Schatten. Der raffinierte, bizarr gezackte Belling ist Materie gewordene Kammermusik, etwa anderthalb Meter hoch und als Kopie fürs Zwölftöner-Memorial wohl sehr viel kostspieliger als die Prix-Geschenkband-Schleifen. Die sind zwar banal, fuchteln aber ordentlich hoch in die Luft.

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Heuer ist in ganz Wien Kaiser Franz Joseph I. unterwegs – beispielsweise auf überlebensgroßen Plakaten, die für alle Arten Ausstellungen werben aus Anlass seines 100. Todestags. Die Wiener Nationalbibliothek beispielsweise demonstriert, dass die Symbolfigur der Donaumonarchie (1830-1916) zu der wohl am meisten abgebildeten Person des 19. Jahrhunderts zählt. Im Mittelpunkt der Schau eine raffinierte Video-Installation: 86 Franz-Joseph-Porträts, aus jedem Lebensjahr eins (die Mama hat ihn gleich nach der Geburt malen lassen); wobei das folgende Bild jeweils aus dem vorhergehenden erwächst; quasi ein Antlitz im Wandel des Lebens. – Einerseits ein faszinierendes Langzeit-Zeugnis kontinuierlicher politischer Propaganda (in ihr wurzelt der Habsburg-Mythos), anderseits ein berührendes Dokument menschlichen Auf- und Verblühens.
Gerade großjährig geworden, kam F.J.I. anno 1848 auf den Kaiserthron, auf dem er als – wie Österreicher sagen – „ewiger Kaiser“ fast sieben Jahrzehnte bis zum Tod regierte. Politisch agierte er nicht sonderlich glücklich, fürs Soziale, für die schweren Folgen der Industrialisierung, hatte er keine Antenne. Aber er konnte sehr hübsch zeichnen. In verstiegenem Konservatismus lehnte er lebenslang den Komfort der Neuzeit ab; wollte weder Badezimmer noch Wasserklosett, weder Autofahren noch Telefonieren. Seine Ehe war unglücklich („Sissi“!), das Außereheliche immerhin zufriedenstellend. Was vom hohen Herrn mit imperialem Graubart bleibt, ist – von ihm initiiert – vornehmlich prachtvoll Künstlerisches: Etwa die weltweit einzigartige Kette monumentaler Baudenkmale (Weltkulturerbe), die durch Abriss der Befestigungsanlagen auf der neu geschaffenen Wiener Ringstraße entstand. Er eröffnete das Opernhaus, das zum nationalen Identifikations-Gut avancierte – der Wiener Pianist Rudolf Buchbinder sagt, Musik sei das größte Potenzial und Kapital seines Landes. Und er weihte 1885 das KHM, das Kulturhistorische Museum, eins der größten seiner Art auf dem Globus, das nun sein 125-jähriges Jubiläum feiert. Selbstredend mit einer Sonderausstellung, die europäische Festkulturen bei Hofe drin und beim Volke draußen illustriert. Motto: „Feste Feiern“.
Gegenüber dem spektakulär pompösesten Café der Welt (mit 1-A-Eiskaffee) auf halber Höhe der unglaublichen KHM-Prunkstiege (Treppenhaus zu sagen wäre lächerlich) der witzig einladende Blickfang für die Feierei: Eine Vitrine mit zwei stählernen, frech sexy Bekleidungen. Links das Bühnenkostüm für den Popkünstler Alexander Mc Queen aus lauter Metallplättchen von Kapuze bis knapp über die Hüfte mit eingehakt knallrotem Slip (kein Metall) von Shane Leane, London anno 2000, Leihgabe Victoria and Albert Museum. Rechts ein Faltenrockharnisch für Albrecht Markgraf von Brandenburg anno 1526 aus der Hofjagd- und Rüstkammer des KHM, ein neckisches Renaissance-Plisseeröckchen mit Oberteil bis über die Kopfhaut, aber mit imposant schnabelhafter Hakennase und – als Vorwegnahme der wilhelminischen Pickelhaube – mit spitzem Blitzableiter über der Schädeldecke. Schon im alten nordischen Streusandbüchsenland hatte man einen ausgeprägt feinen Sinn fürs Poppige wie Effektheischende.

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Popkulturelles und Klassisches kommen natürlich erst recht heutzutage in eins, auch in Preußen, das, um den historischen Faden weiter zu spinnen, vor 1866, also vor 150 Jahren (noch ein Gedenkjahr!), in der Schlacht bei Königgrätz die Österreicher schlug. Und damit den Weg frei kartätschte für Bismarcks kleindeutsche Reichsgründung 1871 ohne Habsburg (sollte man das bedauern?).
Sprung also nach vorn ins Preußische, nämlich ins Berliner Ensemble, in einen seit 1882 wie ein Wunder unversehrt gebliebenen Bühnenbau, der von innen ganz so ausschaut, als hätte ihn ein Ingenieur der franzisko-josephinischen Ära gebaut. Es war aber, wohl mit Blick aufs seinerzeit modische Modell der Theaterarchitekten-Klassiker Fellner & Helmer, die halb Osteuropa vertheaterten (auch ein K.u.K.-Erbe), es war der prominente Berliner Baumeister Heinrich Seeling. – Nun aber endlich hinein ins BE. Zu Friedrich Schillers seinerzeitigem Skandal-Drama „Die Räuber“, inszeniert von Leander Haußmann.
Um es gleich zu sagen: Bis zur Pause war es das wohl spannendste, intelligenteste, fantasiereichste „Räuber“-Theater, das ich in meinen vielen Kritiker-Jahren je erlebt habe. Im Zentrum dabei die überwältigende One-Man-Show von Matthias Mosbach als oberschlau durchtriebene Kanaille Franz Moor. Zum Heulen, Lachen, Küssen und In-den-Arsch-Treten. Doch nach der Pause war‘s vorbei mit der im Revoluzzer-Pop-Sound dröhnenden Show, in der Tragik und Komik, Kindisches und Kluges, Erhabenes und Fieses orkanhaft ineinander rasen – wie Schiller es wollte. Der von Bühnenbildner Achim Freyer mit dreckigen, schwarz-roten Tuchwolkenfetzen der Anarchie verhangene Bühnenhimmel ist nun gähnend leer, das tolldreist juckende und juxende Chaos aufgebraucht, die Sturm-(und Drang)-Maschine ausgeschaltet. Ab jetzt regieren pathetisch ausgewalzte Ernüchterungen und depressiv sich auskotzende Katerstimmung bis hin zum Absturz in den moralischen, letztlich mörderischen Abgrund. Wäre Haußmann dabei nur halb so viel eingefallen wir zur Beschwörung des Wahnsinns-Anfangs hätte man sagen können, er habe einen Kontrast ausstellen wollen: Erst alles zerkochende Überhitze, dann Vereisung, die vom Entsetzen über das Grauen ausgelöste Schockstarre mit dem Schillerschen Stich ins Surreale nebst den irren Augenaufschlägen himmelwärts. Doch dem war nicht so. Es war zwar Überkochen, doch dann elendes Köcheln auf lahmer Flamme. Letztlich war’s also der sozusagen halbe Schiller. Wie schade. Es hätte der ultimative, zwischen Hohn und Bitterkeit, wüstem Menschenwahn und hehrer Transzendenz schillernde Klassiker werden können.
Nun verstarb kurz nach der Premiere Haußmanns Mutter. Vielleicht aber findet Leander dennoch die Kraft und den Mut, nochmal heftig nachzuarbeiten an seinen „Räubern“. Und zu Beginn der neuen Spielzeit hätten wir womöglich den ganzen Schiller. Möge Direktor Peymann seinem begnadeten Regisseur die nötigen Ressourcen gewähren für ein Work-in-Progress!