von Erik Baron
Die Ruhe liegt wie ein sanftes Kissen über dem Dorf. Wenn der Wind nicht hin und wieder säuseln würde, wäre die Stille fast schon gespenstisch. Ab und zu steigt ein Kampfläufer auf – aber da braucht es schon eine gehörige Portion Glück und Muße, um sie zu erblicken. Nur wenige dieser seltenen Vögel gibt es noch in der Prignitz. Aber das 200-Seelen-Dorf Unterleuten zieht sie mit der magischen Kraft der ländlichen Idylle an. Wie die flüchtenden Großstädter aus Berlin. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, als staune sie selbst über die Möglichkeit des Innehaltens. Wer die frische Landluft von Unterleuten einmal tief in sich eingesogen hat, den hat der Entschleunigungs-Virus erfasst. Jeder aus der Großstadt Zugezogene wird vom Leser neidvoll beäugt.
Doch die Idylle trügt. Die Stille, die über Unterleuten liegt, ist kein Ruhekissen, es ist ein Teppich, unter dem sich jahrelanges Schweigen angesammelt hat. Aber mit diesem Schweigen hat man sich arrangieren gelernt und ein dörfliches Paralleluniversum gestaltet, in dem Konflikte untereinander gelöst wurden. Man lebte schließlich unter sich und brauchte die Außenwelt nicht. In Unterwelten existiert „eine halb-anarchische, fast komplett auf sich gestellte Lebensform, eine Art vorstaatlicher Tauschgesellschaft, unfreiwillig subversiv, fernab vom Zugriff des Staates“. Und man genießt diese Freiheit unter dem Teppich des Schweigens.
Aber wehe, die Außenwelt nähert sich dieser dörflichen Parallelwelt, oder setzt sich gar auf den schwebenden Teppich! Da droht die Idylle wie ein Kartenhaus zusammenzubrechen!
In eine solche Phase führt uns Juli Zeh mit ihrem neuen Roman „Unterleuten“. Ein Windpark soll im Landkreis errichtet werden. Und dieses Projekt rüttelt das soziale Gefüge in Unterleuten gehörig durcheinander. Am Ende jedoch wird es in Juli Zehs Roman gar nicht so sehr um Windräder oder erneuerbare Energie gehen, sondern um jenes Gefüge, das sich als feines Gespinst jahrelang im Paralleluniversum von Unterleuten erhalten konnte. Nun droht es zu zerreißen. Der Teppich des Schweigens, der gleichsam Schutzschild über dem Gespinst schwebte, wird es unter sich begraben.
Kapitel für Kapitel führt Juli Zeh die handelnden Personen ein, die Alteingesessenen und die Zugezogenen. Sie erzählt aus deren Perspektive die besorgniserregende Entwicklung im Dorf. Doch zunächst scheinen alle irgendwie miteinander auszukommen. Bis eines Tages der Bürgermeister eine geheimnisvolle Versammlung einberuft, bei der ein aalglatter Vertreter der Windenergiebranche, einer jener „Arbeitszombies, die keine Angst davor hatten, von einem Dorfmob aufgemischt zu werden“, die Katze alternativlos aus dem Sack lässt: hier soll ein Windpark errichtet werden. Unterstützt wird er vom Bürgermeister, der an seine leere Gemeindekasse denkt, und von Gombrowski, dem Chef vom größten landwirtschaftlichen Arbeitgeber der Region, der in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Mit Hilfe der Windkraft, so deren Überlegung, könne die Region, könne Unterleuten am Leben gehalten werden. Denn nur darum geht es beiden. Aber die Rechnung wird ohne den Wirt, will sagen: ohne die Unterleutner gemacht. Es beginnt sich Widerstand zu regen. Nicht nur vom Vogelschützer-Ehepaar Fließ, zwei Aussteigern aus Berlin, die das Naturschutzgebiet in Gefahr sehen, auch von Kron, dem alteingesessenen Dauerrivalen Gombrowskis, der hinter dessen Engagement wieder nur egoistische Ambitionen vermutet. Deren Rivalität und Hass ist historisch begründet und geht zurück auf die Nachkriegsjahre, als Gombrowskis Vater, Großgrundbesitzer, von den Kommunisten, von solchen wie Kron, enteignet wurde. Und Widerstand regt sich auch von Linda Franzen, einer aus Oldenburg hinzugezogenen Pferdeflüsterin, die den Traum verfolgt, eine eigene Pferdezucht zu eröffnen, für die sie aber anliegendes Land erwerben muss. Und durch das Windparkprojekt sieht sie ihre Pferdezucht in Gefahr, zumal ein Spekulant aus Ingolstadt für 2,5 Millionen Euro 250 Hektar Land im Umkreis erworben hatte, was den Bodenrichtwert maßlos in die Höhe trieb, um eigene Expansionsansprüche realisieren zu können.
Als Eignungsgebiet für den ersten Windpark wird schnell ein 18 Hektar großes Gebiet gefunden, was dem Konflikt zusätzliche Nahrung gibt: acht Hektar davon gehören Gombrowskis GmbH, acht Hektar jenem Immobilienspekulanten Meiler, und das dazwischenliegenden zwei Hektar große Waldgebiet Linda Franzen. Für die Errichtung des Windparks werden jedoch zehn zusammengehörige Hektar Land benötigt! Die Ausgangsposition für Linda Franzen hat sich mit einem Schlag verbessert! Der Kampf kann beginnen! Denn Linda Franzen ist nicht nur Pferdeflüsterin, sie ist auch eine jener erfolgsfixierten Powerfrauen, die mit psychologischer Finesse ihre Kontrahenten an der Nase herumzuführen verstehen. Sie spielt ein doppeltes Spiel, um den größtmöglichen Vorteil für sich herauszuholen und macht sich die Aufspaltung des Dorfes in Windkraftbefürworter und -gegner zu nutze. Aber letztlich reißt dieser Konflikt, der in jede Familie hineinreicht, nur die scheinheilige Maske eines Dorfes vom Gesicht, das dahinter schon lange keine Gemeinschaft mehr war. Zu sehr hat der kapitalistische Zeitgeist an jedem einzelnen Dorfbewohner genagt und unterschwellig den Egoismus-Bazillus verbreitet, der nun, da der Windmühlenstreit auf offener Bühne ausgetragen wird und Existenzängste schürt, vollends zur Entfaltung kommt. Ab jetzt kämpft jeder gegen jeden – ganz wie es der Kapitalismus seinen Kindern beigebracht hat. Das soziale Netz ist zu einem dornigen Heckengestrüpp gewuchert. Nach außen schön anzusehen, innen aber reißt man sich die Haut blutig. Der Mensch ein soziales Wesen? Mitnichten! Ein Egoist durch und durch! Leben ist Kampf. Es überlebt nur der Stärkere! Selbst in einem solch kleinen sozialem Gebilde wie dem Dorf Unterleuten.
Der Konflikt in Unterleuten schwelt unaufhörlich – wie die brennenden Autoreifen, die ein Autowerkstattbesitzer angezündet hat, um seine Nachbarn, die Vogelschützer, auszuräuchern, weil die ihn mit immer neuen Anzeigen drangsaliert haben. Der Konflikt wird weiter angefacht und bricht letztlich zum Flächenbrand aus. Auch, weil er eine soziale Eigendynamik erfährt, da sich Gerüchte verselbständigen und mit der Realität verschmelzen. Neue Allianzen werden geschlossen, Intrigen geschmiedet und Tatsachen geschaffen. Linda Franzen reizt ihr doppeltes Spiel bis zum Ende aus und verkauft ihre zwei Hektar Land als Zünglein an der Waage gleich zweimal. Kron wiegelt die Leute gegen seinen Erzrivalen Gombrowski auf. Kleinkinder verschwinden und tauchen wieder auf. Partnerschaften gehen zu Bruch. Ein Mann stirbt bei einem Autounfall. Es brodelt gehörig in Unterleuten. Es herrscht Krieg. Bis zum bitteren Ende. Das alte Dorf wird es nicht mehr geben, es ist auseinandergefallen. Auf der verbrannten Erde von Unterleuten ist ein neues Zeitalter angebrochen, das „Zeitalter bedingungsloser Egozentrik. Wenn der Glauben an das Gute versagte, mußte er durch den Glauben an das Eigene ersetzt werden.“
„Unterleuten“ ist zweifellos Juli Zehs reifster Roman. Sie entwickelt ein neoliberales Gesellschaftspanorama, herunter gebrochen auf das soziale Gefüge eines kleinen Dorfes in der Prignitz. Sie hält dem gegenwärtigen Kapitalismus erbarmungslos den Spiegel vors Gesicht, indem sie dieses Gefüge just in dem Moment auseinander sprengen lässt, als der Kapitalismus mit seinen Tentakeln nach ihm zu greifen beginnt. Da plötzlich brechen alle Dämme auf, werden bereits verheilte Wunden wieder aufgerissen, weil jeder selbst sein Nächster werden will.
Trotz des umfangreichen Figurenensembles verliert Juli Zeh nie die vielfältigen Handlungsfäden, erweist sich in dieser Frage als geübte Marionettenspielerin, die die Ereignisse jeweils wechselnd aus der Perspektive der Handelnden erzählt, ohne allerdings direkt in deren Rolle zu schlüpfen, sondern aus der Distanz eines Erzählers. Dieser ständige Perspektivwechsel führt dazu, dass auch der Leser bei der Wahrheitsfindung hin- und hergerissen wird und feststellen muss, dass es DIE Wahrheit nicht gibt, sondern eben immer nur unterschiedliche Perspektiven.
Aus dem Epilog erfährt der Leser, dass hinter dem Erzähler eine Journalistin namens Lucy Finkbeiner steckt, die aus einer Pressemeldung auf die merkwürdigen Ereignisse in Unterleuten, gipfelnd in einem bizarren Selbstmord, aufmerksam geworden ist und sich auf dem Weg in das Prignitzer Dorf macht, um vor Ort zu recherchieren und mit den Einwohnern zu reden. Eine Recherche, die sie an ihr „Lieblingsspielzeug aus Kindertagen, ein rotes Kaleidoskop“, erinnert, „in dem man Muster aus winzigen bunten Perlen betrachten konnte. Man drehte ein wenig, und alles sah anders aus… Eine Geschichte wird nicht klarer dadurch, dass viele Leute sie erzählen“. Und dieses Kaleidoskop hat Juli Zeh angedreht und die Geschichte von Unterleuten aus den verschiedenen Perspektiven erzählt.
Schlagwörter: Egoismus, Erik Baron, Gemeinschaft, Juli Zeh, Kapitalismus, Prignitz, Roman, Unterleuten