14. Jahrgang | Nummer 5 | 7. März 2011

Dunkle Erinnerung

von Erhard Weinholz

An die dunklen Zeiten solle man sich erinnern, an die Nazi- und die DDR-Herrschaft, schrieb neulich unser Beinahe-Bundespräsident. Dunkel war es tatsächlich in dieser DDR, ich muss es wissen: Ich bin nämlich einen Tag älter als sie. Dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint … – von wegen: In Wahrheit schien sie im Osten überhaupt nicht. Vierzig Jahre Finsternis. Nicht einmal der Mond war zu sehen, denn ohne Sonnen- auch kein Mondschein. Nur die Sterne standen den ganzen Tag treu und brav am Himmel. Es soll Leute gegeben haben, die beim Sternenlicht das „Neue Deutschland“ lesen konnten. Jedenfalls die Überschriften, den Rest konnte man sich ohnehin sparen. Wenn nun so ein DDR-Bürger ins Ausland fuhr – nicht in die Sowjetunion, dort war es noch finsterer, sondern in den Westen –, war er wie geblendet. Also: Sonnenbrille auf, selbst wenn man damit wie Erich Mielke aussah. Viele Westler glaubten dann auch, der ganze Osten sei bei der Stasi. Was ja nun wirklich nicht stimmt.
Natürlich wurde das Fehlen von Sonne und Mond in der DDR-Presse standhaft geleugnet. SA, SU, MA, MU hieß es immer am Schluss der Wetterberichte. Die in der „Berliner Zeitung“ schmückte bis in die 70er Jahre hinein sogar eine Sonnen-Vignette: ein Männchen (sonderbarerweise, obwohl die Sonne doch weiblich ist) mit großem, rundem Kopf, das mal eine Wolke hinter sich her zog, mal einem Schmetterling nachjagte, mal grübelnd auf den Regenschirm schaute. Wir Jüngeren hielten diese Figur übrigens für einen Luftballon mit Beinen, die Sonne kannten wir gar nicht. Unsere Jahre vergingen im Schein der Rüböllampen, mit denen man damals auch die Ostberliner Straßen zu erhellen versuchte – alle fünfzig Meter hing so eine trübe Leuchte. Daher die bei Westlern gelegentlich anzutreffende irrige Meinung – gerade unlängst las ich dergleichen wieder –, auf Straßenbeleuchtung habe man im Osten völlig verzichtet.
Wo es finster ist, weiß ein Kinderlied, ist es auch bitterkalt. Eigentlich war, so scheint es mir jetzt, die meiste Zeit Winter. Schon bei den Nazis begann Sibirien gleich hinter der Elbe – siehe Celines „Von einem Schloß zum anderen“ –, und in der ostorientierten DDR dann erst recht. Schneestürme sausten über den Alex, hier und da eine vermummte Gestalt, und in den Büschen heulten die Wölfe. Es war eben die Zeit des kalten Krieges, trösteten wir uns. Doch auch die schlechten Zeiten haben ihr Gutes: Junge und auch nicht mehr ganz so junge Männer lockten zum Beispiel mit dem Vorschlag, sich gemeinsam aufzuwärmen, Kommilitoninnen oder Kolleginnen oder einfach irgendwelche Zufallsbekanntschaften ins Bett, und wenn dann der berühmte Funke übersprang, waren die kalten Füße bald passé.
Halbwegs warm war es nur in den Kaufhallen, sie waren die sozialistischen Wärmestuben. Dank Rohbraunkohle rauchte der Schornstein, man saß da, spielte Karten oder quatschte über Gott und die Welt und die neuesten Schoten aus dem Politbüro – jeder kam mit jedem ins Gespräch. Es war urgemütlich, wie in einer großen Familie. Zu kaufen gab es natürlich nichts, die DDR war ja das Land der leeren Regale. Regal reihte sich an Regal, und alle waren leer. Einzig die schon erwähnten Zeitungen und Schnaps hatte man im Angebot, sowjetischen Wodka der Marke „Staryj Stalinist“ etwa oder Kaulsdorfer „Saurer Apfel“ oder einen Kräuterlikör namens „Warzenpeter“, der mit dem Spruch beworben wurde (doch, doch, es gab sogar Werbung in der DDR): „Mancher früher, mancher später, jeder trinkt mal‚ Warzenpeter“. Ein Entrinnen war unmöglich.
Aber wovon hat man denn gelebt in diesem Land, die ganzen vierzig Jahre? Ein Hallenser Psychotherapeut, dessen Namen ich mir partout nicht merken kann, behauptet, die Ostler hätten das alles verdrängt. Aber auch das stimmt nicht, sie halten es vielmehr geheim. Nur so viel: Mittels magischer Formeln, die in den jährlichen Mailosungen des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei versteckt waren, gewannen sie in ihrem Inneren aus den DDR-spezifischen Stellvertretern der vier Elemente, nämlich Sternenschein, Schnaps, Schornsteinrauch und Zeitungen, auf mystisch-alchymische Weise Energie. Aber das sind Dinge, die der Westler nie verstehen wird.