19. Jahrgang | Nummer 9 | 25. April 2016

Die Todesschüsse von Uckro

von Frank-Rainer Schurich

„Will man keine Spuren hinterlassen, muss man mit einem Papiertaschentuch ‚sorgfältig‘ die Mordwaffe abwischen und das Papiertaschentuch anschließend verbrennen.“ Dieser Satz, quasi als Lebenshilfe für Mörder, kam 2016 im ARD-Tatort „Die Geschichte vom bösen Friederich“ aus dem Mund eines Kriminalisten. Die Geschichte lehrt aber, dass man gar keine Spuren verwischen braucht, um im Rechtsstaat als Serienmörder ungestraft davonzukommen, wie die folgende tragische Geschichte beweist.
In der Tschechoslowakischen Republik begann am 13. September 1951 eine unfassbare Mordserie, die auf die Kappe der Brüder Josef und Ctirad Mašin und deren Bande ging. Um über Westberlin in das „Mutterland der Freiheit“ USA zu gelangen, brauchten sie Waffen, die sie sich durch Überfälle auf die Polizeistationen in Chlumec nad Cidlinou und Čelákovice beschafften. Das erste Mordopfer, ein tschechischer Polizist, wurde mit einem Wasserrohr kampfunfähig gemacht und erschossen, dem zweiten Mordopfer wurde von Ctirad Mašin höchstpersönlich mit einem Fahrtenmesser die Kehle durchgeschnitten. Gegenüber einem Agenten des US-amerikanischen militärischen Abwehrdienstes Counter Intelligence Corps (CIC) prahlte Ctirad Mašin 1987: „Wir legten ihn aufs Sofa und schläferten ihn mit Chloroform ein. Ich zog mein Fahrtenmesser und erledigte ihn mit einem sauberen Schnitt.“ Ob er die Messer mit einem Taschentuch abgewischt hat, das er später verbrannte, ist nicht überliefert. – Im Obduktionsprotokoll liest sich das allerdings etwas anders: „Tödliche Schussverletzung und Durchtrennung des Kehlkopfes mit einem Messer.“
Nun fehlte noch das nötige Geld, um die beschwerliche Reise nach Westberlin antreten zu können. Also beschloss man, einen Geldtransporter zu überfallen, dessen Besatzung für den Betrieb Kovolis in Hedvikov die Löhne von der Bank geholt hatte. Dabei wurde der Buchhalter kaltblütig erschossen. Beute: 846.000 tschechische Kronen. Am 7. September 1953 kam es dann in der Tschechischen Republik zum pyrotechnischen Finale. Die Verbrecher zündeten 17 Strohschober an, um die kommunistische Wirtschaft zu schädigen; Schadenssumme zirka 700.000 Kronen. Dem Feuerwehrchef, der die Täter verfolgte, schoss Ctirad Mašin in die Brust und ein Auge aus. Das Opfer überlebte, aber ein versuchter Mord kam zu den Verbrechen der Bande nun noch hinzu.
Damit hatte das Morden aber kein Ende. Gestählt im Kampf gegen die Feinde, brachen sie am 3. Oktober 1953 auf, um durch die DDR nach Westberlin zu reisen. Auf dem Bahnhof Uckro im Süden Brandenburgs kamen sie in eine Polizeikontrolle, und sie schossen sich auch hier den Weg frei. Ein viertes Mordopfer, und ein zweiter Volkspolizist wurde schwer verletzt. Unterkommissar Helmut Strempel schossen die Banditen sechsmal in den Bauch und einmal in die Brust. Der letzte Schuss wäre tödlich gewesen, hätte er nicht seinen FDJ-Ausweis in der Brusttasche getragen.
Von den fünf Banditen schafften es drei bis Westberlin: Josef und Ctirad Mašin sowie Milan Paumer. Zuvor hatten sie noch zwei Volkspolizisten heimtückisch (ein Mordmerkmal!) durch Schüsse in den Rücken getötet. Das fünfte und sechste Mordopfer!
Die Haupttäter machten in den USA in den Zeiten des Kalten Krieges und auch danach eine steile antikommunistische Karriere und wurden als Helden für Recht und Freiheit hoch dekoriert. Ein Auslieferungsersuchen der tschechischen Seite wurde damals selbstverständlich in einer Note des US-Außenministeriums vom 18. April 1956 abgelehnt mit der Begründung, dass es sich um politische Delikte handele.
Nach der sogenannten Wende begann aber der eigentliche Siegeszug der Mašins. Sie machten sich, begleitet von ihren Enkeln, 1991 auf den Weg, um ihren Nachkommen in Uckro und anderswo stolz die Stätten ihrer antikommunistischen Morde zu zeigen. Sie luden sogar Helmut Strempel ein, an dieser historischen Reise mitzuwirken, aber der lehnte energisch ab.
Am 28. Februar 2008 verlieh der konservative tschechische Regierungschef Mirek Topolanek während eines USA-Besuchs den Mašin-Brüdern in der tschechischen Botschaft in Washington die neu geschaffene Medaille des Premierministers der Tschechischen Republik, Milan Paumer wurde ein paar Tage später „geehrt“. Drei Jahre zuvor wurden sie in Kanada von der dortigen Vereinigung der Exiltschechen mit dem „Masaryk-Preis“ ausgezeichnet.
Und die Strafverfolger in der BRD? Waren sie wieder auf dem rechten Auge blind? Natürlich! Eine Anwältin erstattete jedenfalls im Auftrag von Familienangehörigen der Opfer Strafanzeige, weil Mord ja nicht verjährt. Die Staatsanwaltschaft Cottbus wies 2001 dieses Ansinnen zurück. Auch die nächste Instanz des Rechtsstaats befand, „dass es an hinreichend sicheren Anhaltspunkten für Mordmerkmale fehlt“. Die ARD drehte, um das Maß voll zu machen, in eben diesem Jahr eine Dokumentation über die Bande – mit Steuergeldern und Pathos natürlich einen Film über die unglaublichen Freiheitshelden und guten Mörder, die sich mit ihren Taten brüsteten und ein freiheitlich verbrieftes Recht hatten, die „Vopos“ abzuknallen.
Ctirad Mašin prahlte im ARD-Interview: „Vom Waldrand näherte sich geduckt ein junger Vopo … Als er ungefähr 30 Meter entfernt war, zielte ich zwischen seine Schulterblätter und schoss. Er fiel lautlos um und blieb mit dem Gesicht zur Erde liegen.“ Der Ermordete hieß Martin Lehmann, arbeitete als Fahndungsoffizier bei der Cottbusser Kriminalpolizei und war Vater von sechs Kindern…
Zu erwähnen wäre aber noch, dass offizielle Vertreter der Bundesregierung wie Markus Meckel bei einer Veranstaltung in der tschechischen Botschaft in Berlin zum 15. Jahrestag der Öffnung der Stasi-Akten Josef Mašin, also einen der Mörder, herzlich willkommen hießen. Er formulierte dann auch, dass es höchste Zeit sei, nicht nur der tschechischen Untergrundkämpfer zu gedenken.
Ehrung und Podium für Mörder – das hat eine lange deutsche Tradition. Waldemar Pabst, der die Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht befahl, entschlief am 29. Mai 1970 friedlich und unbehelligt von der bundesdeutschen Justiz. Von den Nazis gehuldigt und in der BRD gefeiert, setzten ihm seine Angehörigen in der Zeitung Die Welt am 5. Juni 1970 mit einer pompösen Todesannonce ein Denkmal: „Selig sind die Toten, denn ihre Werke folgen ihnen nach.“
Nach dem Krieg hielt sich Pabst klüglich zurück, bis er glaubte, dass seine Zeit wieder gekommen war. Am 15. Januar 1962, genau zum 43. Jahrestag der Ermordung der Arbeiterführer, bekannte sich Pabst öffentlich zu dem von ihm befohlenen Doppelmord: „Man musste den Entschluss fassen, vom Rechtsstandpunkt abzuweichen … Ich vertrete auch weiterhin die Auffassung, dass dieser Entschluss [Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu meucheln – Anm. F.-R. Sch.] auch vom moralisch-theologischen Gesichtspunkt durchaus vertretbar ist.“ Die damalige Bundesregierung billigte in einem Bulletin am 8. Februar 1962 die Mordtaten und fälschte sie in eine „standrechtliche Erschießung“ um.
Und so haben wir gelernt, dass es Mörder gibt, die es nicht nötig haben, ihre Spuren zu verwischen – und dass ein FDJ-Ausweis unter Umständen lebensrettend sein kann.