19. Jahrgang | Nummer 8 | 11. April 2016

Erlesenes – Von der Allgegenwart des Vergangenen

von Wolfgang Brauer

Der Titel mag zunächst abschrecken: „Krötenliebe“ – das assoziiert glitschige, warzenbehaftete Lurche. Man muss Kröten wirklich mögen, um sie lieben zu können. Und genaugenommen geht es in Julya Rabinowichs gleichnamigem Roman gar nicht um Kröten, es geht um Alma Mahler-Werfel. Natürlich geht es auch um Oskar Kokoschka und seine berühmte Alma-Puppe. Und natürlich greift die Autorin – sie lebt schließlich in Wien – in den psychoanalytischen Werkzeugkasten und lässt uns mit Klein-Alma durch das Schlüsselloch des mütterlichen Schlafzimmers gucken. Das ist an sich nicht besonders neu, auch wenn die Kokoschka-Kapitel des Romans nicht nur wegen der Fetisch-Puppe spannend zu lesen sind. Julya Rabinowich versucht, das Geheimnis der „Trophäenjägerin“ Alma Mahler zu ergründen. Alma habe sich nur für Männer interessiert, die sie zu ihrem künstlerischen Höhepunkt habe treiben können, da ihr das eigene Künstlerdasein nicht zuletzt durch Gustav Mahler ausgetrieben wurde: „Die Männer um sie herum waren Urmaterie, die es zu formen und zu prägen galt, und sie war Gott ihres Universums, nein, eine Göttin, die den passiven Part einer Frau in den der treibenden Urkraft umkehrte.“ Auch wenn die Ausführung dieser These gelegentlich hart an der ästhetischen Schmerzgrenze vorbeischrammt – das hat etwas. Die Autorin hat geschickt ein Mittel gefunden, der Sogkraft der realen Lebensgeschichte dieser wohl rätselhaftesten femme fatale der österreichischen Kulturgeschichte nicht zu erliegen. Sie zerreißt immer wieder den Faden geradlinigen Erzählens, wechselt den Handlungsort von Dresden über Wien und Venedig bis nach Moskau und verweigert sich zugleich jeder Chronologie klassischen Erzählens. „Alles ist zu jedem Augenblick, und nichts ist vergangen“, erklärt Rabinowich im Prolog. Und sie konfrontiert – jetzt kommen wir endlich zu den Kröten – den Maler Oskar Kokoschka mit dem Biologen Paul Kammerer. Der Name dürfte nur Wenigen noch etwas sagen. Dabei war Paul Kammerer eine Berühmtheit und hätte beinahe den Darwinismus – ausgerechnet durch die experimentelle Bestätigung der überwunden gedachten Theorie Jean-Baptiste de Lamarcks, dass von Lebewesen erworbene Eigenschaften und Verhaltensweisen an die folgenden Generationen vererbt werden würden – ins Wanken gebracht. Das brachte ihm eine Berufung an die Moskauer Akademie der Wissenschaften ein. Diese Theorie schien passgerecht für die Konstrukteure des neuen sowjetischen Menschen zu sein.
Kammerer arbeitete hauptsächlich mit Salamandern und Geburtshelferkröten („Die Kröten konnten ganz gut mit ihm umgehen. Die Menschen ab und zu weniger.“) Er erschoss sich am 23. September 1926 am Schneeberg in der Nähe von Wien. An seinem tragischen Ende traf Alma Mahler kaum eine Schuld. Auch nicht am Sterben von Kammerers Mentor Hans Przibram. Das Erzählen davon gehört zu den stärksten Abschnitten des Romans.
Das sei hier betont: „Krötenliebe“ ist ein Roman. Solide recherchiert und gut erzählt – aber das Buch ist ein Roman. Als solcher ist er natürlich Fiktion und vermag, Erklärungsmuster zu liefern für Dinge, die auch die penibelste Kulturgeschichtsforschung nicht zu ergründen vermag. Julya Rabinowich sieht in der schlafenden Alma eine Frau, „die sich ein Nest aus Sehnsucht gebaut hatte, eine schlafende Sirene, die man besser nicht weckte“. Hier liegt ein möglicher Schlüssel für die Erklärung der lebenslangen, ihren Männern gegenüber oft sehr brutalen Suche der Alma Mahler-Werfel nach dem Lebensglück verborgen. Bei Paul Kammerer muss Alma übrigens eine Zeitlang Gottesanbeterinnen füttern.
„Vielleicht war es so, aber vielleicht auch ganz anders.“ Gute Literatur ist immer ein Spiel mit den Möglichkeiten menschlichen Lebens. Julya Rabinowich hat einen guten Roman geschrieben.

Julya Rabinowich: Krötenliebe. Roman, Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016, 190 Seiten, 19,90 Euro.

*

Das 1. Buch Mose schildert im 3. Kapitel den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies. „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“, schleudert der HERR seinen Bannfluch über Adam, „bis dass du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.“ Dieser so gar nicht tröstliche Vers der Genesis ist das Leitmotiv des 2014 in Kraków bei Wydawnictwo Literackie erschienenen Romans „Drach“ von Szczepan Twardoch. Rowohlt Berlin legte das Buch jetzt in der Übertragung von Olaf Kühl vor. Wir haben seinerzeit bereits Twardochs Erstling „Morphin“ in höchsten Tönen gelobt – nicht Steigerbares sollte man nicht zu steigern versuchen.
Die Erzählerperspektive in „Drach“ nimmt die Erde selbst ein. Sie ist das menschenspeiende und menschenverdauende Über-Ich von Anbeginn an: „… in mir sind die Werte absolut“. Egal wie die Wesen auf ihrer, der Erde, Haut herumirren, egal ob Rehbock oder Menschenkind, sie weiß ihren Anfang und ihr Ende: „… ich aber sehe es, denn ich sehe alles und sehe alles gleichzeitig“. Alles gleichzeitig ist aber nicht erzählbar – also konzentriert sich die Erzählung auf den Mann Josef Magnor, geboren im Jahre 1888 und versehentlich erschossen im Jahre 1945. Erzählt werden sein Sündenfall, die tödliche Liebe zur Schülerin Caroline Ebersbach, und die nachfolgende Vertreibung aus einem Paradies, das nie ein Paradies war – jedenfalls nicht für Josef und seinen Kameraden Adalbert Czoik, der bald Wojciech heißen und deshalb in Mauthausen sterben wird. Erzählt wird Josefs Verwicklung in einen Aufstand, in den er eigentlich nicht verwickelt werden wollte, den polnischen gegen die schlesischen Teilungspläne der Alliierten nach dem ersten Weltkrieg. Erzählt wird die schlesische Tragödie, nein es ist nur die polnisch-deutsche Tragödie rund um Gliwice/Gleiwitz zwischen Schönwald und Rybnik. Erzählt wird die Geschichte von Gela Czoik und Ernst Magnor, die zueinander finden und deren Geschichte in der ihres Enkels Nikodem Gemander, des schlesischen Stararchitekten, einmündet, mit dessen Sündenfall alles endet. „Alles endet in mir“, sagt die Erde. „Ausnahmen gibt es nicht, ich brauche nur zu warten, und dafür habe ich eine Ewigkeit.“
Die Geschichte, die Twardoch den Drachen Erde seine Leser erzählen lässt, macht es diesen nicht leicht. Alles geschieht zur selben Zeit, aber einiges viele Jahre später, oder auch einige Jahre eher. Und da ist für den Einzelnen überhaupt keine Erlösung. Die Verdammung der gefallenen Helden geschieht mit alttestamentarischer Wucht. Dieses Buch zwingt auch hartgesottene Leser in die Knie. Es legt mit überwältigender Sprachgewalt Zeugnis ab von einem Jahrhundert, das den Menschen auf diesem Planeten nicht wohlgesinnt war. Szczepan Twardochs Buch lotste der Gott der vollgestopften Bücherregale bei mir in die Lücke neben den Romanen Alfred Döblins. Und genau da gehört er auch hin.

Szczepan Twardoch: Drach. Roman, Rowohlt – Berlin Verlag, Berlin 2016, 416 Seiten, 22,95 Euro.