19. Jahrgang | Nummer 8 | 11. April 2016

Ein fast vergessener Nobelpreisträger

von Wolfgang Schlott

Alfred Hermann Fried (1864-1921) war der erste deutsche Friedensnobelpreisträger. Gemeinsam mit dem niederländischen Rechtsgelehrten Tobias M.C. Asser nahm er die Auszeichnung 1911 in Oslo entgegen. Doch wer weiß das heute noch?
Guido Grünewald bezieht sich in den einleitenden Anmerkungen zu seinem Sammelband auf ein Zitat aus dem ebenfalls 1911 erschienenen „Handbuch der Friedensbewegung“. Darin überträgt Fried dem modernen Pazifisten die Rolle eines Kulturtechnikers, dessen Wirken „in erster Linie der technischen Erweiterung, Erhöhung und Ausgestaltung unserer Zivilisation“ zu dienen habe. Der Autor sei überzeugt, so Grünewald, „dass der Pazifismus […] über das Stadium emotional-sentimentaler Aufrufe und einen allgemeinen gesellschaftlichen Fortschrittsoptimismus hinausgekommen ist und nun auf einer wissenschaftlichen Grundlage beruht.“ Mehr noch: Fried habe geglaubt, dass „die explosionsartige Weiterentwicklung der Technik, des Verkehrswesens, des Handelns und des Wissens nicht nur zur Globalisierung und Herausbildung einer Weltwirtschaft geführte haben, sondern Ausdruck und Triebkräfte eines […] Prozesses sind, der […] in eine internationale Rechtsordnung münden wird.“
Ist seine Prophezeiung rund hundert Jahre nach seinem Tod zumindest teilweise in Erfüllung gegangen? Sicherlich verzeichnet der Prozess der Verrechtlichung mit der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in den Haag eine steigende Zahl an verurteilten Kriegsverbrechern. Doch ist die Menge der Kriege zwischen einzelnen Staaten und innerhalb ethnisch-religiöser Gemeinschaften nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgegangen? Wäre es nicht angesichts von gegenwärtig mehr als 60 Millionen Kriegs- und Klimaflüchtlingen an der Zeit darüber nachzudenken, warum das Wirken eines solch engagierten, aufopferungsbereiten Friedenskämpfers weitgehend in Vergessenheit geraten ist, trotz internationaler Anerkennung, ungeachtet seiner zahlreichen Publikationen und seines organisatorischen Geschicks?
Der 1864 in Wien in einer jüdischen Familie geborene Fried engagierte sich nach einer Buchhändlerlehre in Berlin seit Beginn der 1880er Jahre in der Friedensbewegung. Seit 1892 gab er mit Berta von Suttner die pazifistische Zeitschrift Die Waffen nieder! heraus, er war Mitgründer der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) und festigte in der seit 1899 existierenden Zeitschrift Die Friedens-Warte seine Position innerhalb der sich vor dem Ersten Weltkrieg ausbreitenden Bewegung. Darüber hinaus lernte er Esperanto, um für seine Friedenskonzeption auch im internationalen Kontext zu werben. Trotzdem blieb er, wie Grünewald bestätigt, von der Öffentlichkeit unbeachtet, geriet nach dem Krieg, den er im Schweizer Exil verbrachte, weitgehend in Vergessenheit. Erst 1989 – aus Anlass seines 125. Geburtstags – gab die Österreichische Post eine Sondermarke heraus, am 25. Mai 2011 wurde in Wien-Alsergrund an seinem ehemaligen Wohnhaus eine Gedenktafel enthüllt und der 2013 gestiftete Alfred-Fried-Preis ist von nun an der Friedensfotografie gewidmet. Anlässlich des 100. Jahrestags der Verleihung des Friedensnobelpreises und des 150. Geburtstags fanden einige Ausstellungen statt und österreichische Medien erinnerten an ihren verdienstvollen Landsmann. Ist nunmehr der Durchbruch zu seiner Anerkennung in der europäischen Öffentlichkeit gelungen?
Der Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, der auf einem Symposium im Oktober 2011 in Potsdam beruht und um drei Beiträge erweitert wurde, ist vorsichtig in seiner Wertung. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Fried habe zugenommen, seit Petra Schönemann-Behrens 2004 ihre Biografie zu Leben und Werk des Friedensnobelpreisträgers veröffentlichte. Ihr Wissen und die Beiträge von Dieter Riesenberger (A.H. Fried im Schweizer Exil – Kriegstagebuch…), Walter Göring („Bruder Europa“ – Der Freimaurer Alfred Hermann Fried) und Bernhard Tuider (Alfred H. Frieds Engagement für eine Welthilfssprache und die Esperanto- und Friedensbewegung) hätten das Wissen um und über Fried beträchtlich erweitert. Dennoch bliebe es „angesichts der enormen Publikationstätigkeit und der Spannweite seiner Aktivitäten“ unvollständig.
Eine Reihe weiterer Aufsätze aus diesem Sammelband, die Grünewald eingehend kommentiert, erweitert deshalb das Umfeld, in dem Fried aufgrund seiner vielen Aktivitäten gewirkt hat. Es handelt sich dabei um die Bewertung sozialer Strömungen, die im Vor- und Umfeld des Ersten Weltkriegs existierten, wie Christoph Jahrs Beitrag „Antisemitismus, Militarismus, Nationalismus und das Europäische Staatensystem 1870-1929“ und Sandi E. Coopers Bewertung der ersten pazifistischen Generationen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Andere Beiträge wie Laurie Cohens Einschätzung der Impulse, die Fried der transnationalen Frauenfriedensbewegung gegeben hat, Andreas Landls Untersuchung zur Rolle Frieds bei der Herausbildung von Friedensjournalismus, Klaus Schlichtmanns Thesen zu Frieds Bedeutung bei der Entwicklung des Völkerrechts und Ulrich Schneckeners Frage nach der „Neuorganisation“ der Welt im 21. Jahrhundert und den Herausforderungen für eine globale Ordnungspolitik auf der Grundlage von Frieds Erkenntnissen ergeben eine große Palette von Einsichten in die schwierige Umsetzung von Friedenstheorien, die in zwei weiteren Beiträgen thematisiert wird. Peter van den Dungen fragt nach der Bedeutung des ursächlichen Pazifismus bei Fried, der sich mit grundlegenden Ursachen „für Krieg und Rüstung, der Anarchie bzw. dem Mangel an Organisation auf zwischenstaatlicher Ebene“ beschäftigen müsse, und Dieter Senghaas mahnt mit dem Blick auf die Aktualität der Friedenstheorie Alfred Frieds eine neue Weltordnung an, in der ein ursächlicher Pazifismus an die Stelle von Anarchie treten müsse.
Es ist offensichtlich, das auch dieser Sammelband, in dem die gebündelte Kompetenz zum Stellenwert des Pazifismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts präsent ist, nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur Bewertung einer straff organisierten globalen Ordnungsmacht sein kann, die ungeachtet verheerender Vernichtung von Menschenleben und wertvoller Ressourcen die globalen Verwüstungen verhindern will.
Zahlreiche Abbildungen von Fotografien, Plakaten, Karikaturen und Buchtiteln belegen die verzweifelten und resignierenden Anstrengungen um die Erhaltung von Frieden und die Verurteilung der Kriege; ein umfangreicher Quellenapparat belegt den Fleiß der Friedensforscher, das Personenregister bezeugt, dass Hunderte Wissenschaftler sich auf diesem Gebiet betätigt haben und weiterhin an einer Friedenstheorie arbeiten. Zu loben ist auch der Verleger Donat, der 2005 mit der Herausgabe von Frieds „Mein Kriegstagebuch. 7. August 1914 bis zum 30. Juni 1919“ ein Dokument wieder aufgelegt hat, das den imperialen Weltkrieg aus der Sicht eines wehrhaften Pazifisten mit scharfsinnigen Kommentaren und Bewertungen verurteilt.

Guido Grünewald (Hrsg.): Alfred Hermann Fried: „Organisiert die Welt!“ – Der Friedensnobelpreisträger, sein Leben, Werk und bleibende Impulse. Donat Verlag, Bremen 2015, 271 Seiten, 16,80 Euro.