19. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2016

„Keine Wiener Juden“

von Dieter Naumann

Auf einer von Binz in die Heimat, nach Wien, verschickten Karte schwärmt der Absender, „das ungebundene Strandleben des Lido ist es nicht, aber auch frische Luft und herrliche Wälder, auch schön… Täglich Bad. Herrliche Buchen- und Kiefernwälder.“ Ausdruck des Wohlbefindens sollte wohl auch die Bemerkung sein „keine Wiener Juden, die norddeutschen erkennt man nicht“.
Die Karte wurde im Juli 1908 geschrieben und zeigt auf der Bildseite das im Juli 1890 eingeweihte alte Binzer Kurhaus, einen Fachwerkbau, der am 1. Mai 1906 vermutlich als Folge von Brandstiftung abbrennt. Nach einigen Querelen um das richtige Grundstück kann das neue, nach den Plänen des Charlottenburger Oberpostbaurates Otto Wilhelm Spalding (1863-1945) und mit einem Aufwand von 1,4 Millionen Mark errichtete Kurhaus bereits am 3. Juli 1908 unweit des alten Standortes in der Gestalt eröffnet werden, wie wir es – abgesehen von modernen An- und Umbauten – noch heute kennen.
Im Reiseführer von Schuster (1913-1914) wird das Kurhaus beschrieben als „monumentaler Prachtbau mit großem Theater- und Reunionssaal, Konditorei, Wein- und Bier-Restaurant, prachtvolle Logierzimmer mit herrlicher Aussicht“. Den Gästen standen anfangs 40 Zimmer, davon drei mit Bad zur Verfügung. Der Saal war ausgestattet mit „vollständiger, technisch vollendeter Bühneneinrichtung“. In der Hauptsaison soll es wöchentlich bis zu vier Aufführungen gegeben haben. „Die Operette und das moderne Lustspiel wird besonders gepflegt. Die Truppe ist erstklassig; Gastspiele bekannter Künstler sind häufig“, warb eine Broschüre der Badedirektion 1909. Im August 1913 fand sogar das „Sensations-Gastspiel der berühmten Tanz-Künstlerin Adorée Villany mit ihrem Tänzer Charles Groubert“ statt. Die eigentlich Erna Reich heißende Nackttänzerin (!) war ein Jahr zuvor aus Bayern ausgewiesen worden, wegen „Vergehen gegen die Sittlichkeit“.
Nach einigen Pächterwechseln (erster Pächter war ein Herr Richter aus Hamburg) übernimmt die Gemeinde das Haus. Vor allem im Zusammenhang mit den Mindereinnahmen während des ersten Weltkrieges verschuldet sie sich jedoch zunehmend und muss das Kurhaus und den benachbarten Kaiserhof schließlich im Januar 1923 für 165.000.000 Mark an den ungarischen Juden Adalbert Bela Kaba-Klein und drei weitere jüdische Investoren (Direktor Abram Lemo, polnischer Staatsbürger, Rechtsanwalt Armin Reichard und Apotheker Eugen Reichard, beide mit ungarischer Staatsbürgerschaft) verkaufen. Kaufmann und Hotelier Klein (1895–1962) wird als groß, kräftig und sportlich interessiert beschrieben. Er spielte Schach mit den Honoratioren und war Mittelstürmer im Binzer Fußballverein, SPD-Mitglied. Hin und wieder soll er auch etwas „verrückt“ gewesen sein. So sei er zum Gaudi der Badegäste oft mit einer Sau an der Leine spazieren gegangen, die ihm wie ein Hund gehorcht habe.
Klein hatte zusammen mit seiner nichtjüdischen deutschen Frau Dora das Kurhaus zu einem Hotel von internationalem Rang entwickelt, im Ballsaal und in der Kakadu-Bar vergnügten sich die reichen Gäste, hier feierte man auch größere oder kleinere Familienfestlichkeiten. Rundfunkgrößen der damaligen Zeit wie der Berliner Orchesterleiter und Komponist Karl Friedrich Otto Kermbach, Many Ziemer oder Bruno Fritz traten auf oder gaben Konzerte, zu den Gästen gehörten Hans Albers, Willy Fritsch und Lilian Harvey. Das Kurhaus war auch nach 1933 gut besucht, die Gäste schätzten Küche und Service, ihnen war es offenbar gleichgültig, ob die Besitzer Juden waren oder nicht.
Dabei konnte man schon bei oberflächlicher Sichtung der zeitgenössischen Reiseführer Beispiele dafür entdecken, wie zunächst jüdische Gäste, später aber auch die jüdischen Besitzer von Hotels, Gaststätten und Pensionen diskriminiert wurden: So ist im Annoncenteil des Reiseführers von Gauge von 1905-1906 zum Hotel Potenberg in Binz zu lesen: „jüdischer Besuch verbeten“, im Reiseführer von Grieben von 1910-1911 heißt es zum gleichen Hotel: „antisemitisch, auch Christen, welche äußerlich für Juden gehalten werden können, seien vor diesem Hause gewarnt“. 1922 fühlt sich das Haus Gaebel in Binz zu dem Zusatz verpflichtet, „Israeliten werden nicht aufgenommen“ (Reiseführer  Grieben von 1922).
Im Zuge der „Arisierung“ des als „judenfreundlich“ geltenden Binz wurde mehrfach versucht, Kaba-Klein das Kurhaus Binz wegzunehmen. Der damalige Bürgermeister Paul Heide tat sich dabei besonders hervor. So denunzierte er Kaba-Klein bei der Gestapo, weil dieser keine Rücksicht nehme auf die „sittlichen Belange der guten deutschen Volksgenossen“. Die Intrigen gegen Klein waren vielfältiger Art und führten teilweise sogar zu diplomatischen Konflikten mit der ungarischen Botschaft in Berlin, so zum Beispiel als Bürgermeister Heide Flugblätter verteilen ließ, auf denen die „Volksgenossen“ zum Boykott des Kurhauses aufgefordert wurden.
Ein Pachtvertrag zwischen der Deutschen-Gaststätten-Treuhand G.m.b.H. und Klein im Frühjahr 1938 wurde schließlich als „Arisierung“ des Kurhauses gefeiert. Die Kurhaus-Binz G.m.b.H. machte jedoch umfangreiche Verluste und war beim Amtsgericht Bergen nicht rechtskräftig eingetragen. Auch die Verhandlungen mit Klein, der den Verkaufspreis nicht weiter drücken lassen wollte, kamen nicht recht voran. Bürgermeister Heide war zwar wackerer Parteigenosse, als Geschäftsführer der GmbH aber offenbar weniger erfolgreich. Letztendlich kauften Walter Schäfer, Kaufmann und Lichtspieltheaterbesitzer aus Berlin-Charlottenburg, und seine Frau Marga Kurhaus und Kaiserhof im Juni 1940 für 360.000 Reichsmark (!). Dass Klein, der sich zu dieser Zeit bereits in Ungarn aufgehalten haben soll, wenigstens dieses Geld erhalten hat, ist eher unwahrscheinlich.
Das weitere Schicksal von Kaba-Klein wird in der Literatur unterschiedlich beschrieben, so wird von seiner Verhaftung, der Flucht bei einem Transport und sogar seiner Verschleppung in ein KZ berichtet. Nach der wahrscheinlicheren Variante versteckte er sich in Ungarn und überlebte so den Holocaust.
Kaba-Klein übernahm das Hotel nach dem zweiten Weltkrieg treuhänderisch. Das Landgericht Greifswald gab 1950 ihm und seinen damaligen Miteigentümern im Rechtsstreit um Rückübertragung und Anfechtung der Grundbucheintragung mit den Schäfers Recht; zwei der Mitinhaber von Klein sollen den Holocaust jedoch nicht überlebt haben (Lemo wurde 1942 ermordet, das Schicksal der beiden Reichards ist nicht gänzlich geklärt, Armin soll kurz nach Kriegsende verstorben sein). Noch im gleichen Jahr schloss Klein mit der Sozialversicherungskasse der deutsch-sowjetischen Aktiengesellschaft (SDAG) „Wismut“ Pachtverträge über die Nutzung des Kurhauses. Wieder gelingt es Klein bekannte Künstler nach Binz zu holen, so die zu ihrer Zeit beliebten Schlagersänger Sonja Siewert und Herbert Klein.
Während der „Aktion Rose“ wurde Kaba-Klein verhaftet. Er soll im Hof des Kurhauses mit Küchenabfällen 60 Schweine gefüttert und diese unerlaubterweise geschlachtet und an seine Gäste „verköstigt“ haben. Klein wurde deshalb Ende April 1953 zu zehn Jahren Haft verurteilt. Damals, am 21.04.1953, titelte die Ostsee-Zeitung: „Zehn Jahre Zuchthaus für Schieber Kaba-Klein“. Nach zwei Jahren wegen Haftunfähigkeit vorzeitig entlassen, starb Klein 1962 in Westberlin. An die vier früheren Besitzer des Kurhauses Binz erinnern heute Stolpersteine.