von Otfried Nassauer
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel betont gewöhnlich nur zu gerne, dass er eine restriktivere Genehmigungspolitik für Rüstungsexporte will und praktiziert. Doch was macht der Minister, wenn er zugeben muss, dass er im letzten Jahr weit mehr Exporte genehmigt hat, als je irgendeiner seiner Vorgänger?
Das war am 19.Februar während einer Pressekonferenz in Berlin zu beobachten. Sigmar Gabriel verkaufte das Allzeithoch der Genehmigungen als Halbzeitbilanz einer erfolgreichen, restriktiven Genehmigungspolitik, stiftete gezielt (Zahlen-)Verwirrung und rundete seinen Vortrag mit dem Argument ab, letztlich komme es doch gar nicht auf die Höhe der Zahlen an, sondern vor allem auf die Qualität der genehmigten Waffenexporte und die Art der Empfänger. Chuzpe, wenn man so will. Eine Meisterprüfung in PR, die mit Bravour bestanden wurde. Ganz freiwillig tat Gabriel das nicht. Der Abgeordnete Jan van Aken hatte ihm schriftliche Fragen gestellt, die ihn zwangen, die Eckdaten für den deutschen Rüstungsexport 2015 an diesem Tag vorzulegen. Gabriel wollte sich die Lufthoheit über die Interpretation seiner Zahlen sichern und ging deshalb vor der Bundespressekonferenz in die Offensive. Dem Abgeordneten lieferte er die Antwort auf dessen Fragen erst danach.
Betrachten wir zunächst nur die nüchternen Fakten: Nach vorläufigen Zahlen hat die Bundesregierung 2015 Einzelausfuhrgenehmigungen im Wert von 7,85 Milliarden Euro und Sammelausfuhrgenehmigungen im Wert von 4,96 Milliarden erteilt. Zusammen gab es also 2015 Genehmigungen in Höhe von 12,81 Milliarden Euro. Im Jahr 2011, dem bisherigen Rekordjahr deutscher Rüstungsexportgenehmigungen, waren es 10,79 Milliarden Euro, von denen je 5,4 Milliarden auf die Einzelgenehmigungen und die Sammelausfuhrgenehmigungen entfielen. 2015 wurden also rund zwei Milliarden mehr genehmigt als im alten Rekordjahr. Ein riesiges Plus gab es mit 2,45 Milliarden Euro vor allem im Bereich der Einzelausfuhrgenehmigungen.
Noch drastischer fällt der Vergleich zum Vorjahr, also 2014 aus. Hier kam es praktisch zu einer Verdopplung, sowohl bei den Einzelausfuhrgenehmigungen (von 3,97 Milliarden auf 7,85 Milliarden) als auch bei den Sammelausfuhrgenehmigungen (von 2,5 Milliarden auf knapp 5 Milliarden Euro und damit natürlich auch des Gesamtumfangs der erteilten Genehmigungen.
Wie verkaufte Gabriel diese Zahlen? Er stückelte sie. Zunächst erklärte er ausführlich, dass es ihm gelungen sei, den Kleinwaffenexport einzudämmen und im Falle Saudi-Arabiens 2015 keine G-36-Genehmigungen mehr zu erteilen. Lizenzfertigungen von Kleinwaffen werde es künftig in Drittländern nicht mehr geben. Die G-36-Fabrik in Saudi-Arabien werde nicht mehr mit Bauteilen für die „Viertelmillion“ Gewehre beliefert, die früher einmal genehmigt worden sei. Alles richtig und der Zuhörer begann, dem Minister zu vertrauen. Der erläuterte sodann seine Schwerpunktthemen Transparenz und Kontrolle des Endverbleibs.
Erst gegen Ende seines Vortrags kam Gabriel zum eigentlichen Anlass der Pressekonferenz, den Gesamtzahlen für 2015. Es seien von ihm politisch zu verantwortende Einzelausfuhrgenehmigungen im Wert von 5,9 Milliarden Euro erteilt worden, darunter einige Genehmigungen, die einen Sondereffekt darstellen wie zum Beispiel vier große Tankflugzeuge für Großbritannien im Wert von alleine 1,1 Milliarden Euro oder Lieferungen nach Südkorea für eine halbe Milliarde. Deshalb liege der Wert etwas über den üblichen vier bis fünf Milliarden Euro im Jahr. Zudem zeige sich, das 2015 54 Prozent aller Genehmigungen Exporte für NATO-, EU- und gleichgestellte Länder ausgestellt worden seien und nicht wie früher nur knapp 40 Prozent. Eine gute Entwicklung. Seine restriktivere Politik trage also Früchte, so der Minister.
Es gebe aber auch die Schatten aus der Vergangenheit: Es sei politisch nicht gelungen, die Genehmigung der Vorgängerregierung für den Export von Leopard-Panzern nach Katar im Wert von 1,6 Milliarden Euro rückgängig zu machen. Dieser habe deshalb genehmigt werden müssen, genau wie die Ausfuhr eines U-Boots nach Israel für 351 Millionen Euro. „Einen Moment bitte, Herr Minister“, mochte man rufen: „5,9 Milliarden, für die Sie politisch die Verantwortung übernehmen, plus 1,6 Milliarden für die von Ihnen ungeliebten Panzer und nochmal 0,35 Milliarden für das U-Boot – das macht doch 7,85 Milliarden Euro, den höchsten Wert in der Geschichte der Bundesrepublik.“ Gabriel überließ diese Addition schlicht seinen Zuhörern.
Als nach Redaktionsschluss der meisten Medien der Abgeordnete van Aken die schriftliche Antwort auf seine Fragen bekam, enthielt diese auch den von Gabriel nicht genannten Wert der Sammelausfuhrgenehmigungen: weitere 4,96 Milliarden Euro. Es zeigte sich, dass dieses Schreiben bei Gabriels Vortrag offenbar Pate gestanden hatte. Auch hier werden die Zahlen gestückelt, keine Summen gebildet und politische Wertungen allein auf jene Exporte beschränkt, für die sich Gabriel politisch verantwortlich sieht.
In einer wunderbar übersichtlichen Tabelle sind dort zum Beispiel die größten Empfänger der Gabrielschen Rüstungsexportgenehmigungen gelistet. Das NATO-Land Großbritannien steht an der Spitze, gefolgt von Südkorea und den USA. Israel steht mit knapp 158 Millionen Euro auf Platz sieben. Katar findet sich in dieser Tabelle gar nicht. Nach dieser Tabelle folgt dann ein Absatz, in dem erklärt wird, das noch etwas aus der Verantwortung früherer Regierungen hinzu komme: Die erwähnten Panzer für Katar im Wert von rund 1,6 Milliarden und das U-Boot für Israel mit 351 Millionen Euro. Also fast zwei Milliarden. Die Addition unterblieb auch hier. Nimmt man sie vor, so ändert sich das Bild gleich mehrfach. Israel rückt vom siebten auf den vierten Platz der großen Empfänger vor und Katar springt sogar von Null auf Platz eins. Es bekam neben den Panzern weitere Genehmigungen für mehr als 60 Millionen Euro. Katar und Israel sind beide Drittländer. Damit ändert sich auch die Verteilung der Genehmigungen auf NATO, EU und Gleichgestellte sowie Drittstaaten. Sie beträgt nicht mehr 54 Prozent zu 46 Prozent, wie Gabriel positiv hervorgehoben hatte, sondern 41 Prozent zu 59 Prozent. Eine deutliche Mehrheit des Genehmigungswertes betraf Drittländer, ganz so wie in den Vorjahren.
Explizit betonte Gabriel während der Pressekonferenz, dass die gegenwärtige Bundesregierung im Blick auf ihre Rüstungsexportgenehmigungen mehr Transparenz praktiziere als jede Vorgängerregierung. Diese Feststellung würden auch die meisten Beobachter dieses Politikfeldes unterschreiben, selbst jene, die kritisieren, dass die Transparenz nicht weit genug geht. Anders war es aber bei dieser Pressekonferenz: Gabriel übte sich primär in der Vernebelung der Realität und der Entwicklungen während seiner Amtsführung. Dafür gab es auch einen Grund: Der Minister hatte sich zu sehr im Netz jener Halbwahrheiten und Erklärungen verheddert, mit denen er seine Genehmigungspolitik früher als Erfolg verkauft hat.
Noch vor einem Jahr hatte der Minister stolz Genehmigungszahlen für das Jahr 2014 präsentiert, die seine These, er praktiziere eine restriktivere Genehmigungspolitik als die schwarz-gelbe Vorgängerregierung scheinbar stützten. Nur 6,5 Milliarden Euro betrug damals der Gesamtwert der Genehmigungen, die er im ersten vollen Jahr seiner Amtszeit erteilt hatte. Das waren mindestens zwei Milliarden weniger als in den Vorjahren und gar vier Milliarden weniger als im schwarz-gelben Rekordjahr 2011. Gabriel wollte damals kein Wasser in den Wein gießen und unterließ es, die Öffentlichkeit über einen entscheidenden Sondereffekt im Jahr 2014 zu informieren: Unsicher, ob das Bundesverfassungsgericht die bisherige Genehmigungspraxis für Rüstungsexporte nicht grundsätzlich infrage stellen würde, entschied die neu ins Amt gekommene Bundesregierung, bis zum Vorliegen des Richterspruchs nur über Exporte zu entscheiden, bei denen sie dies aufgrund existierender Verpflichtungen musste. Alles andere wurde weitgehend zurückgestellt.
Da die Richter unerwartet spät urteilten, hatte dies deutliche Auswirkungen auf die Genehmigungsstatistik 2014. Die Werte sanken, weil vieles nicht entschieden wurde und gleichzeitig wuchs der Berg nicht bearbeiteter Vorgänge. Nach dem Richterspruch musste dieser Berg abgearbeitet werden – überwiegend im Jahr 2015. Beobachter hatten deshalb bereits 2014 vorhergesagt, dass die politische Aussagekraft der Zahlen für 2014 gering sei und erst nach Vorliegen der Zahlen für 2015 deutlich werde, ob die Politik der Bundesregierung insgesamt restriktiver geworden sei.
Nimmt man heute beide Jahre zusammen, so wurden 2014 und 2015 Genehmigungen für Rüstungsexporte im Wert von deutlich mehr als 19 Milliarden von der Großen Koalition erteilt, in jedem der beiden Jahre also durchschnittlich mehr als 9,5 Milliarden Euro. Dieser Wert liegt mehr als eine Milliarde über den schwarz-gelben Vorjahren, aber auch mehr als eine Milliarde unter dem Wert des Rekordjahres dieser Regierung, 2011.
Gabriels Behauptung einer restriktiveren Praxis der Genehmigung von Rüstungsexporten decken diese Zahlen also nicht. Im Gegenteil: Sie deuten auf ein insgesamt stabiles strukturelles Wachstum beim deutschen Rüstungsexport hin, das auch nach Ablösung der schwarz-gelben durch die Große Koalition anhält. Trotz vereinzelter restriktiver Entscheidungen Gabriels wie zum Beispiel bei den Gewehren für Saudi-Arabien. Daran dürfte sich auch in diesem Jahr kaum etwas grundlegend ändern, obwohl die Zahlen für 2016 kaum erneut den Rekordumfang von 2015 erreichen werden.
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