von Renate Hoffmann
Zuerst war das große Nichts. Dann folgten – nach dem Urknall, beziehungsweise nach Mose, Erstes Buch, 1;1-31 (Genesis) – Himmel und Erde, Tag und Nacht, die Gestirne. „Gras und Kraut“; das Getier zu Wasser, zu Land und in der Luft. Und zum Schluss, nach einem Ruhetag, der Mensch. Entweder „aus einem Erdenkloß“ (Mose, Erstes Buch, 2; 7-8). Oder nach Darwin, als derzeitiges Endprodukt der Evolution. Wie dem auch gewesen sein mag – der Ärger begann: Eva; der Baum der Erkenntnis, die Schlange, der Apfel von selbigem Baum und Flucht ins Gebüsch vor dem zürnenden Gott. Daraufhin erscholl – nach Mose, (Erstes Buch, 3; 9) ein Ruf wie Donnerhall: „Adam, wo bist du?“
Mit Schimpf und Schande aus dem Paradies gejagt, ging er mit Eva, seinem Weibe, auf die Suche nach einer neuen Bleibe. Ungeachtet aller weltlichen und geistlichen Theorien siedelte er in Mauer und erlangte dort große Berühmtheit als „Homo heidelbergensis“. Die Ortschaft Mauer findet man bei Neckargemünd bei Ziegelhausen bei Heidelberg.
Aus der Stadt hinaus, an einem vom nächtlichen Regen frischgewaschenen Morgen, neckaraufwärts. Vorbei am Benediktinerkloster Stift Neuburg mit dem malerischen Talblick und weiter nach Ziegelhausen. Rechts und links die Höhen des Odenwaldes und in der Mitte der Schlängelfluss. Über das Wasser in die Gassen von Neckargemünd. Was hier mündet ist die Elsenz. Sie durchfließt ein Tälchen, naturgeschützt, welches durchaus paradiesisch anmutet.
Am Ortseingang von Mauer lenkt ein Hinweisschild den Neugierigen unverzüglich zu „Adams“ Fundstelle. Den Waldweg begleiten Informationstafeln. Sie setzen das Denken in großen Zeitspannen voraus und verdeutlichen, wie lange sich unser Geschlecht schon auf der Erde tummelt. „Zeitenpfad. 600 000 Jahre Menschheitsgeschichte.“ (Man schrumpft sofort zum Staubkorn.) Dazu als beweisführendes Piktogramm: ein gedrungener, kräftiger, menschlicher Unterkiefer (Mandibula). Um die Zeiträume „in den Tritt“ zu bekommen, soll ein großer Wanderschritt etwa 600 Jahren entsprechen.
Der Pfad führt zu einer aufgelassenen Sandgrube. Ein großer Gedenkstein erörtert das Geschehen: „daniel hartmann fand am 21. Okt. 1907 in 24,6 M Tiefe, 93 M von hier den homo heidelbergensis 50 000 jahre alten (inzwischen zeitlich korrigiert – R.H.) menschlichen unterkiefer. Mauer 21. Okt. 1977.“ Ein seitlich gelegenes Monument berichtet ähnlich.
Der Zeitenpfad erweitert auf einer Länge von 1.100 Metern das Wissen über unsere ungewöhnliche Entwicklung. „Vor 450 000 Jahren. Der Mensch von Tautavel (französische Partnergemeinde von Mauer) bewohnte die ARAGO-HÖHLE im Roussillon.“ Region Languedoc-Roussillon, Südfrankreich. Und noch ein Wegstück weiter: „Vor 300 000 Jahren. Der Homo heidelbergensis hinterlässt seine Fußspuren in der versteinerten Vulkanasche eines süditalienischen Bergmassivs.“ Aufmerksam mustere ich den abgebildeten Fußabdruck. Er hat fünf Zehen!
Folgerichtig und gut geführt vom Zeitenpfad, gelangt man zum „Urgeschichtlichen Museum“, untergebracht im Rathaus. Die Welt unserer Vorfahren öffnet sich. Was auf den ersten Blick als eine simple große Knochensammlung erscheint, lässt bei näherem Hinsehen, unterstützt durch ausführliche Erläuterungen, das Lebensumfeld des Homo heidelbergensis erstehen. Über 5.000 fossile Funde beherbergt das Haus; vom riesenhaften Beckenknochen des Waldelefanten bis zu kleinkleinsten Mäusezähnen. Die Schaustücke wurden sämtlich in und um Mauer geborgen und fügen ein genaues Bild der Flusslandschaft des „Urneckars“ und der Artenfülle seiner Tiere.
Eine nicht mehr vorhandene trockengefallene Neckarschlinge aus dem Pleistozän zog von Neckargemünd bis nach Mauer, führte Sand und Kies mit sich und Knochen einst hier lebender Tiere. Und ebenso das berühmte Teilstück des Homo heidelbergensis. Vielleicht war der vollständige Homo h. in den Fluss gefallen und konnte nicht schwimmen, oder ein Hochwasser hat ihn hinweg geschwemmt. Die Fossilien wurden in den Sedimenten abgelagert und nach und nach ans Licht gehoben. Nun weiß man, was sich dort außer dem bewussten Homo aufhielt: Waldelefant, Nashorn, Riesenbiber und Flusspferd; Rot- und Rehwild. Unter den kleinen Säugetieren gab es Mäuse, Maulwurf und Flughörnchen. Unter den großen Fleischfressern auch Löwe, Bär und Wolf. Das Klima war günstig und die Vegetation überreich.
Die Arbeiter in den „Mauerer Sanden“ wussten um die Wichtigkeit der fossilen Raritäten und gingen beim Abbau umsichtig vor. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass am Abend des 21. Oktobers Daniel Hartmann im Mauerer „Gasthaus Hochschwender“ sachkundig und stolz verkündete: „Heit hawwi de Adam gfunne.“
Ein Signal, das die Paläoanthropologen aufhorchen ließ und zu kritischem Überdenken ihrer bisherigen Abstammungstheorien anregte. Denn: So viele Funde – so viele Berichte. Der entdeckte „Heidelberger“ war älter als der „Neandertaler“. Dieser starb aus, jener blieb. Im Museum wird anhand von Übersichten ein gegenwärtig vertretener Ablauf unseres Werdegangs gegeben (gültig bis zum nächsten Fund, panta rhei). Der Stammbaum zählt auf – vereinfachte Darstellung: Urmensch „Homo erectus“ (vor einer Million Jahren); ansässig in Afrika (wo auch das Paradies gelegen haben soll). Dieser, gut vermehrt, breitet sich aus, auch in den europäischen Raum hinein. Aus „Erectus“ entwickelt sich Homo heidelbergensis (etwa vor 700.000 bis 600.000 Jahren). Aus diesem wiederum der „Homo neanderthalensis“. Und wir! „Homo sapiens“, der „weise“ Mensch (obgleich es mit der Weisheit nicht weit her ist). – Der „Heidelberger“ gewinnt nun eine Schlüsselstellung. Nähme man es genau, so müsste er eigentlich „Homo mauerensis“ heißen. Zwar ruht sein Unterkiefer in der Heidelberger Universität, doch sein Fundort ist und bleibt Mauer.
In der Vitrine „Großfamilie Homo heidelbergensis“ sind Nachbildungen von menschlichen Schädelfunden aus Afrika und Europa versammelt. Man staunt, wie wir uns verändert haben. Ein anschauliches Beispiel der Evolution. Demnach führen unsere Wurzeln zum afrikanischen Kontinent. Und der Ur-Adam war ein Afrikaner.
Homo h. besitzt, gründlich erforscht und in der Ausstellung nachlesbar, seinen amtlichen Steckbrief: „Unterkiefer mit fast vollständigem Gebiss, ohne die beiden linken Vorbackenzähne. Fundort: Sandgrube Grafenrain bei Mauer in den Sanden des Urneckars aus der früh-mittelpleistozänen Mauerer Waldzeit. Name und Erstbeschreibung: Homo heidelbergensis, durch Otto Schoetensack (1908 – R.H.). Lebensalter: nach dem Gebiss 20 bis 30 Jahre. Geschlecht: nach der Stärke des Unterkiefers eher männlich. Größe: ca. 1,65 m.“
Das außergewöhnliche Ereignis fand umgehend in der Presse sein Echo. Im „Heidelberger Tageblatt“ wird bereits am 24. Oktober 1907 berichtet: „Mauer. [Prähistorischer Fund.] In der hiesigen Sandgrube des Herrn I. Rösch wurde ein seltener Fund gemacht, nämlich die untere Kinnlade mit sämtlichen und sehr gut erhaltenen Zähnen eines Urmenschen. [?] Die Menschenkinnlade lag 20 Meter unter der Erdoberfläche. Es ist in dieser Gegend der erste Fund eines vorgeschichtlichen Menschenknochens, während Knochenteile urweltlicher Tiere schon häufiger in der hiesigen Sandgrube gefunden worden sind.“
Es bleibt zu ergänzen, dass Homo heidelbergensis an einem Montag aus der Sandgrube gebuddelt wurde. Und Adam in der Genesis, mit höherer Hilfe, ebenfalls an einem Montag, vom „Erdenkloß“ zum Paradiesbewohner aufstieg.
Belehrt und verwirrt zugleich, kehre ich in die Gegenwart zurück.
Urgeschichtliches Museum Mauer, Heidelbergerstraße 34; 69256 Mauer. Öffnungszeiten: Montag-Freitag: 8:00-12:00 Uhr; Montag: 13:30-18:00 Uhr; Dienstag-Donnerstag: 13:30-16:00 Uhr.
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