von Stephan Jakubowski
Europa macht mobil. Der eilig beschlossene Bombenkrieg zur Rettung der europäischen Wertegemeinschaft soll dem ins Wanken geratenen babylonischen Turm eine neue (illusorische) Stütze bieten. Doch das Fundament – wenn es das je gab – zerfällt angesichts permanenter Krise als direkter Folge unserer gesellschaftlichen und politischen Entwicklung. Humanität, Solidarität und Fairness zerschellen im Verteilungskampf an den Pfeilern neoliberaler Realität und nationalstaatlicher Interessenpolitik. Die Degeneration nimmt zu, wenn der historisch „bewährte“ Versuch, sich mittels einer Konzentration auf äußere Aggression über innere Konflikte hinwegzutäuschen, wiederbelebt wird. Und so kommt die EU mit einer härteren Außen- und Sicherheitspolitik dem breiten Wunsch nach einer Rückbesinnung auf vermeintlich bessere Zeiten nach – Identität, die sich in Grenzen und Abgrenzung findet.
So sieht auch der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio in den Pariser Anschlägen „eine Herausforderung an die Verteidigungsfähigkeit westlicher Demokratien“. In der Rheinischen Post (RP) bügelt er in einer Sprache, die die Atmosphäre eines edlen Salons mit gemütlichem Kaminfeuer versprüht, jede Härte reeller Kluften in Politik und Gesellschaft einfach glatt. Ist alles halb so wild, möchte man glauben. Wir müssen uns nur auf uns selbst besinnen, dann wird alles schön.
Di Fabio spricht vom „Kern westlicher Identität“, der sich aus Toleranz und dem Gebot ergibt, „den Anderen auch im Streit zu achten und nicht zu vernichten“. Davon, dass man sich gegen Angreifer wehren, aber sich nicht deren Regeln aufzwingen lassen darf. Der Westen wird bei ihm nicht nur zur defensiven Bastion der Menschlichkeit. Er muss nur den präzisierten Hightech-Krieg führen, den er stets propagiert und gewinnbringend exportiert, um durch gewahrte europäische Ritterlichkeit den Terrorismus samt seiner zukünftigen Wurzeln zu eliminieren. Di Fabio schwenkt rhetorisch wie argumentativ den guten Cognac und entspannt sich in der Geborgenheit einer idealisierten, durchgehend westlichen Perspektive, die die Außenwelt wie ein schwerer Vorhang so herrlich entrückt. In seinem Salon wird alles vereinfacht, strukturelle Hintergründe oder gar Kontroversen werden bestenfalls tangiert. Und so kommt der Professor nach kurzem Umweg über die Universalität der Menschenrechte zum Kern seiner Aussage: der „manchmal schwer zu vermittelnde[n] Erkenntnis, dass die Kontrolle über Grenzen der Mitgliedstaaten und ihrer EU eine Bedingung offener Staatlichkeit ist und Grundlage für verantwortungsethisches Handeln“.
Die Grenzen Europas sind, so die Aussage des Autors, Grundlage von demokratischem Rechtsstaat, gesellschaftlicher Identität und Fortbestand der westlichen Welt. Genauer bedeutet das, strenger kontrollierte Grenzen sind der Garant unserer Werte sowie demokratisch legitimierte Grund- und Identitätsbedingung und dienen so letztlich auch dem Sieg über den Terror.
Der angerissene Zweifel am Ansatz des kulturimperialen Exports unseres westlichen Gesellschaftsmodells und dessen universeller Anwendung auf andere Gesellschaften und Kulturen ist trotz seiner Oberflächlichkeit richtig. Doch sollte man sich nicht täuschen. Dem beinahe „lupenreinen Konservativen“, wie Die Welt schreibt, geht es nicht nur zwischen den Zeilen ums „Wir zuerst“. In einem Artikel in der FAZ findet der Verfassungsrichter a.D. deutlichere Worte. Dort schlägt er eine Kombination dreier wesentlicher Punkte vor. Erstens fordert er eine Art Super-Frontex zur „Zentralisierung der Grenzsicherung“ durch eine „paramilitärische Streitmacht von erheblichem Gewicht“. Dem Autor, der sich gegenüber Aleppo und Homs so ausdrücklich empathisch zeigt, reichen Zäune nicht. Seine Definition von staatlicher Grenz-Identität baut auf Abwehr mit Waffengewalt. Das passt ins Bild, denn bei all der Gemütlichkeit wird die Darstellung des netten Konservativen erst komplett, wenn man bedenkt, dass er bereitwillig Horst Seehofers Auftrag annahm, eine Klage gegen den Bund vorzubereiten. Gegenstand dessen war es zu prüfen, ob das Verhalten der Bundesregierung an den nationalen Grenzen einen Verfassungsbruch darstellt und man auf diese Weise eine härtere Grenzpolitik erzwingen könnte.
Di Fabio sinniert bei seinem Lösungsansatz weiter, dass uns auch eine Verringerung sozialpolitischer Anreize als Migrationsziel weniger attraktiv machen würde. In der menschenwürdigen Unterbringung Asylsuchender sieht er weniger eine grundsätzliche Pflicht als eine Streitfrage bei Verteilungskompetenzen innerhalb der EU. Seiner Meinung nach würden weniger Geflüchtete die Strapazen und Schikanen in Teilen der europäischen Peripherie auf sich nehmen, wenn sie hierzulande nicht so viel zu erwarten hätten. Er sieht darin ein „race-to-the-bottom“, bei dem diejenigen Staaten verlieren, die ihre humanitäre Hilfe nicht schnell genug drosseln. Einen allgemein hohen Standard anzuvisieren, kommt ihm nicht in den Sinn. Dass aber die Illegalisierung von Einwanderung und Flucht diese genauso wenig wie Schlepperaktivitäten mindert, sondern in die Professionalität treibt, liegt auf der Hand. Zudem sind die europäischen Mauern längst höher, als wir sie sehen können. Sie sind nicht nur an die territorialen Grenzen gebunden, sondern gehen darüber hinaus, indem beispielsweise mit der EU-Richtlinie 2001/51/EG „Flug- oder Fährgesellschaften, die eine Person ohne gültiges Visum in die EU bringen, […] hohe Kosten [riskieren]. Hat die betreffende Person keinen Anspruch auf Asyl, müssen die Transportgesellschaften die Kosten für Rückfahrt, Unterkunft und Verwaltung bezahlen. Das deutsche Aufenthaltsrecht sieht zudem ein Zwangsgeld von 1.000 bis 5.000 Euro pro Person vor, die ohne Pass und Visum befördert wurde.“ Wie Sonja Dolinsek bei Analyse & Kritik zusammenfasst, „hebelt die [EU-Richtlinie die] Flüchtlingskonvention aus, ohne dass die EU-Staaten offiziell gegen sie verstoßen“. Der fatale Denkfehler Di Fabios und seinesgleichen ist die Annahme, durch eine Verringerung sozialpolitischer Leistungen könne man die Anzahl Flüchtender mindern. Doch jedes Jahr überqueren mehr als 350.000 Menschen illegal die Grenze zu den USA – trotz Zäunen, Nationalgarde und einer unerbittlichen Natur. Sie tun dies nicht einfach wegen zu erwartender Sozialleistungen, sondern wegen der bloßen Hoffnung auf eine Chance!
Drittens braucht es eine Stabilisierung der Regionen, aus denen Geflüchtete kommen. Der Autor reißt die weitreichende Problematik einer gesunden Stabilisierung Iraks oder Syriens nur peripher an und bleibt thematisch lieber innerhalb europäischer Grenzen. Doch bei seinem kurzen Exkurs zur Thematik zeichnet er ein gängiges Bild. Egal ob es um die Zerrüttung oder den Wiederaufbau der Regionen des Nahen und Mittleren Ostens geht, in unserer westlichen Wahrnehmung tragen allein „wir“ die Verantwortung und haben nur wir die Befähigung, das geopolitische Gefüge zu formen. Wenngleich natürlich der moderne Imperialismus Strukturschwächen solcher Regionen gleichermaßen schafft und ausnutzt, so wird doch stets in der festen Überzeugung von der Sendungskraft des „Weißen Mannes“ all jenen regionalen Machthabern, die sich für kein schmutziges Geschäft zur Verfolgung eigener Macht- und Finanzinteressen zu schade sind und waren, jede Verantwortung abgeschrieben. Wir sind und bleiben eben die besseren Menschen!
Man will in Di Fabios Salon stürmen, die Vorhänge herunterreißen, den Cognac gegen die Wand werfen und ihm, den Finger auf die Außenwelt gerichtet, entgegenbrüllen: „Outside your window of comfort, it´s like night of the living dead!“ (Draußen, vor deinem komfortablen Fensterplatz ist es wie im Horrorfilm), wie die Band „Misery Index“ sang. Für die selbstgemachten modernen Krisen braucht es moderne, solidarische und menschenwürdige Lösungen statt Abkehr und Einmauern für einen Status quo, den es so längst nicht mehr gibt.
Schlagwörter: EU, Flüchtlinge, Frontex, Grenzen, Stephan Jakubowski, Udo Di Fabio