18. Jahrgang | Nummer 26 | 21. Dezember 2015

Globalisierung, Flüchtlinge und Entropie

von Stephan Wohanka

Globalisierung und Flüchtlinge – na ja, aber Entropie? Fairerweise muss auch ein Gebildeter darüber nicht mehr wissen als dass da Physik im Spiel ist, die Thermodynamik … Eingeweihte sind informiert, dass diese physikalische Kategorie auch mit dem Wirtschaftsleben in Beziehung gesetzt wird. Und dass es dabei um die Endlichkeit des Natürlichen, der Ressourcen geht, also um Ökologisches …
Entropie also. 1865 formulierte Rudolf Clausius das zweite Gesetz der Thermodynamik und führte den Begriff Entropie als Maß der Unordnung des untersuchten Systems ein; eine geläufige, aber auch umstrittene Definition. Folgt man ihr, so enthüllt sie den Grad, den der Prozess vom „Zustand der Ordnung“ zum „Zustand der Unordnung“ erreicht, also den fortschreitenden Ausgleich zwischen unterschiedlichen (Energie)Niveaus. An ihrem Ausgangspunkt ist die physische Welt maximal uneinheitlich; im Moment ihres finalen Zustands ist sie extrem einheitlich; ihre Entropie hat das (kosmische) Maximum erreicht. Jede Art von Tätigkeit und namentlich die Lebenserhaltung lebendiger Organismen erfordert jedoch die Uneinheitlichkeit, die Vielfalt, jedwede „Bewegung“ bedarf der Unterschiedlichkeit der Potenziale. Entropie verbindet also zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Grundsätze – den von der Erhaltung der Energie und den von ihrer Degradierung: Der erste sagt aus, dass die Masse der Energie unveränderlich ist, während der zweite behauptet, ihre Wiederverwendung sei unmöglich.
Globalisierung und ganz aktuell Flüchtlinge – Kürzel für etwas, was viele von uns zutiefst verunsichert. Sie bündeln jeweils – auch abhängig von der Häufigkeit des medialen Auftritts – die verborgenen Ängste der deutschen Gesellschaft und vermengen sie zu einem politisch-explosiven Gemisch. Von der Globalisierung profitierten vor allem die Eliten aus Wirtschaft und Politik, während zunehmend mehr Menschen sich ängstigen, nur deren negativen Wirkungen ausgesetzt zu sein – in Gestalt von Arbeitsplatzexporten, Lohndumping oder Migranten. Die national Gesinnten, die sich schon vor „Überfremdung“ fürchteten, als noch kein Ausländer in Sicht war, sind nun in „brennender“ Sorge um ihre Heimat. Die Armen fürchten um ihre Hartz-IV-Bezüge, ihre Renten, ihre Existenz. Den Verbitterungsmilieus gemeinsam sind erhebliche Zweifel in den Institutionen der Demokratie, die Abkehr von den „Altparteien“, von den als „Lügenpresse“ denunzierten Massenmedien und dergleichen. Die politischen Reaktionen namentlich rechtspopulistischer Gruppierungen und Parteien auf beide Phänomene sind Abschottung, Dichtmachen, Zurückweisen, Rückkehr zum Nationalstaat. Können diese Antworten „funktionieren“, können sie wirklich vor den „Gefahren“ schützen, den Ängstlichen die Angst nehmen? Können wir überhaupt zurück zu den „Ausgangspunkten“?
Ich denke – nein! Um mit der Angst zu beginnen; die kann, da als Gefühl, das sich in als bedrohlich empfundenen Situationen als Besorgnis und Erregung äußert, höchst subjektiver Natur, niemandem, der sie hat, einfach „genommen“ werden.
Ausgangspunkt jeglicher internationaler Ökonomie ist die „Unterschiedlichkeit der Ordnung“, vulgo die ungleichgemäße Verteilung der Ressourcen, der Klimazonen, auch die kulturellen Unterschiede und vieles mehr, die den Warenaustausch zwischen den Gemeinwesen und den Volkswirtschaften schon früher bedingten und heute noch bedingen; sie liegt folglich dem Weltmarkt und damit letztlich der Globalisierung zugrunde. Die Praxis des internationalen Handels und Wandels zeigt, dass der Lebensstandard letztlich aller daran beteiligten Länder steigt, da nicht nur hochproduktive Länder aus internationalem Austausch Vorteile ziehen. Dem steht gegenüber, dass es trotzdem nicht zu einer vollständigen Spezialisierung aller Volkswirtschaften gekommen ist und dass die intensivste Handelstätigkeit zwischen Ländern mit ähnlichen, nicht unterschiedlichen Produktivitätsniveaus und Güterpaletten stattfindet.
Die Flüchtlinge „gibt uns die Globalisierung als Aufgabe“ (Angela Merkel). Heute werden nicht nur Waren und Geld „globalisiert“, sondern auch Menschen, in Teilen gar Völker. Die zunehmenden Migrationsbewegungen auf diesem Globus lassen sich nur als Teil der zunehmenden globalen Vernetzung verstehen. Mal sind es schlicht wirtschaftliche Gründe („meinen Kindern soll es besser ergehen“), mal politische oder religiöse Verfolgung, im Extremfall Ressourcenmangel, Krieg, Zerstörung und Barbarei. Natürlich lassen sich Flüchtlinge wieder abschieben, ihre Zahl lässt sich begrenzen, doch wie sollten Migrationsbewegungen gänzlich ausgesetzt werden können, wie sollte eine „Entmischung“ vor sich gehen (können)? Damit ist keinem Multikulturalismus das Wort geredet, sondern es geht um die „Begegnung“ unterschiedlicher Lebensformen und Wertehaltungen bei Bejahung und auf der Basis einer Ordnung, die auf verbindlichen Werten und Gesetzen gründet. Auch intellektueller Kapazitäten; so sind zum Beispiel aktuelle Hochtechnologien (Computer, Internet, Industrie 4.0) Resultate einer derartigen ideellen Interkulturalität.
Oben war gesagt worden, dass es bei Entropie im Wirtschaftsleben um die Endlichkeit des Natürlichen, der Ressourcen gehe: Aus Rohstoffen wird durch ihre Zerstreuung und Vermischung letztlich nicht mehr verwertbarer Müll, Wärmeenergie fließt aufgrund von Temperaturunterschieden, wodurch aus höherwertiger Energie niedrigwertige wird. Das Charakteristikum dieser „materiellen“ oder „energetischen“ Entropie ist ihre Unumkehrbarkeit. Die Frage: Kann es nicht auch eine soziale und kulturelle Entropie geben? Dergestalt, dass auch Vorgänge, Prozesse auf diesen Feldern zu Nivellierungen führen; wichtiger noch, dass auch sie irreversibel sind? Bei aller Skepsis, die Erklärung gesellschaftlicher Sachverhalte an etwas „Objektives“, ein Prinzip, ein „Gesetz“ zu binden? Auch wohl wissend, dass man Naturgesetze nicht umstandslos soziokulturellen Phänomenen – und sowohl die Globalisierung sowie die Flüchtlinge sind solche – überstülpen kann. „Entropisch“ gesprochen entspräche der Prozess der Internationalisierung der nationalen Wirtschaften bis zur Globalisierung dem Übergang von einem ökonomischen „Zustand der Ordnung“ zu einem „Zustand der Unordnung“, also dem fortschreitenden Ausgleich zwischen unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozio-kulturellen Niveaus. Den Wanderungsbewegungen und Migrationsströmen läge desgleichen eine Transformation von im Ursprungssinn völkischer „Ordnung“ zu „Unordnung“, ein Ausgleich von „Potenzialen“, zugrunde –in welchen konkreten Formen auch immer. War die Welt an ihrem Ausgangspunkt noch „uneinheitlich“, so ist sie im Moment wesentlich „einheitlicher“; extrem einheitlich ist sie nicht und wird es nicht werden, sonst erstürbe sie. Ich bezweifle, dass aus der ursprünglichen „Ordnung“ eines Landes nach dem Durchlaufen einer (internationalen) Phase der „Unordnung“ wieder eine (nationale) „Ordnung“ herstellbar wäre, und halte analog zur Unumkehrbarkeit physischer Vorgänge auch soziokulturelle Prozesse des Kalibers „Globalisierung“ samt grundlegenden Folgen für nicht revidierbar. Ihre zukünftige Gestaltung kann nur in Referenz auf Gegebenes, jedoch nicht über die Restitution überholter Formen gelingen. Vorstellungen und Programme rechts-, aber auch cum grano salis linkspopulistischer Provenienz – also die Nationalisierung von Banken und Industrien, Einführung von Schutzzöllen für heimische Produkte, Austritt aus der Eurozone und Befürwortung eines abgeschlossenen Nationalstaates – sind daher unrealistisch. Sie sind eben reiner Populismus, Bauernfängerei und führen letztlich – nach untauglichem Versuch ihrer Realisierung oder auch nur als leere Wahlversprechen – zu noch größerer politischer und ideeller Frustration und Skepsis der Menschen.