von Sarcasticus
Was wäre aus Afghanistan ohne den Einmarsch der US-geführten ISAF-Allianz geworden? Jeder Versuch einer Antwort auf diese Frage müsste zwangsläufig spekulativ sein.
Weitgehend spekulationsfrei hingegen lässt sich sagen, was mit der ISAF-Intervention – Politiker, Militärs und Medien bevorzugen den Begriff „Mission“ – aus dem Land geworden ist.
Werfen wir zunächst einen resümierenden Blick auf ISAF selbst.
Das Eingreifen der International Security Assistance Force (ISAF) begann, mandatiert durch die UNO, Ende 2001 und hatte zwei Hauptziele: die Herrschaft der radikalislamischen Taliban in Afghanistan zu beseitigen und dem Terrornetzwerk Al Kaida durch Zerstörung seiner logistischen Basis den Boden zu entziehen. Die „Mission“ endete offiziell am 31. Dezember 2014. Auf ihrem Höhepunkt 2012 waren 50 Nationen mit rund 130.000 Mann daran beteiligt, die USA allein stellten 90.000. (Westliches Militär, jetzt als Resolut Support und ohne UN-Mandat, ist aber immer noch in Afghanistan, zur Ausbildung, Beratung sowie zum Training afghanischer Sicherheitskräfte. Zuletzt waren 13.100 Militärangehörige gemeldet, darunter 850 von der Bundeswehr.)
Zwar ist praktisch nicht ermittelbar, was der Krieg die ISAF-Beteiligten bis Ende 2014 finanziell insgesamt gekostet hat, aber Angaben zu größeren Einzelposten gibt es schon. Die Financial Times hat für die USA Kosten in Höhe von fast einer Billion US-Dollar ermittelt. Für die Bundesrepublik hatte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung vor Jahren 22 Milliarden Euro prognostiziert. Da Frankreich und Italien mit vergleichbaren Militärkontingenten unterwegs waren wie Deutschland, Großbritannien mit einem mehr als doppelt so großen, lässt dies ebenfalls grobe Kostenschätzungen zu.
Die ISAF-Staaten hatten fast 3.500 Tote zu beklagen. (Getötete afghanische Militärangehörige und Aufständische hat niemand erfasst. Die Zahl der zivilen Opfer wird mit bis zu 1,5 Millionen angegeben – so kürzlich von Gunnar Heinsohn im Handelsblatt.)
Ein Jahr nach ISAF-Abschluss kann die Bilanz der „Mission“ebenso knapp gefasst werden, wie sie desaströs ausfällt: Sie ist im Hinblick auf beide Hauptziele gescheitert.
Al Kaida war und ist flexibel genug, sich logistisch zu diversifizieren. Aiman al-Sawahiri, amtierender Chef des Terrornetzwerks, hat erst Anfang November erneut Muslime zu Anschlägen gegen den Westen aufgerufen – weltweit, via Twitter.
Und was die Taliban anbetrifft, so hatten Kenner des Landes wiederholt deren Rückkehr für den Fall eines ISAF-Abzugs prognostiziert. Diese Vorhersage bewahrheitete sich schneller als befürchtet. Exemplarisch dafür: Vor einigen Wochen war die Provinzhauptstadt Kundus, in der die Bundeswehr lange ihr Hauptquartier hatte, zeitweise wieder in der Hand der Taliban. Deren Vertreibung wäre ohne massiven Einsatz von US-Luft- und Bodenstreitkräften nicht möglich gewesen.
Damit sind wir bei der Frage, was aus dem Land in der ISAF-Ära geworden ist.
Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes hat sich die Bedrohungslage in Afghanistan dramatisch verschärft. Details finden sich in einem Lagebericht der deutschen Botschaft in Kabul. Die Ausdehnung der Taliban sei heute größer als zu Beginn des militärischen Eingreifens. Die Gefahr für Leib und Leben sei in jedem zweiten afghanischen Distrikt „hoch“ oder „extrem“. Selbst in Landesteilen, die bisher als relativ sicher galten, nehme die Bedrohung „rasant“ zu.
Omid Nouripour, außen- und sicherheitspolitischer Experte der Bundestagsfraktion der Grünen, schätzte nach Rückkehr von einer Reise an den Hindukusch ein, dass seit dem Ende der Taliban-Herrschaft „die Grundstimmung noch nie so schlecht“ gewesen sei wie heute.
Obwohl die afghanischen Sicherheitskräfte (nominell über 350.000 Mann Armee und Polizei) mit bis zu vier Milliarden US-Dollar jährlich vom Westen alimentiert werden, urteilt der jüngste vertrauliche Bericht des BND zu Afghanistan, dass diese Kräfte den Taliban und anderen islamischen Aufstandsgruppen (auch der IS hat im Lande bereits Wurzeln geschlagen – d.A.) immer weniger standhalten könnten; die „Leistungsfähigkeit, Zuverlässigkeit und Einsatzmoral“ der Truppe sinke.
Die Kehrseite der Medaille: Im ersten Halbjahr 2015 war die Zahl der getöteten Zivilisten die höchste seit dem Sturz der Taliban im Jahre 2001.
Eine Folge: Über 150.000 Menschen haben Afghanistan in diesem Jahr verlassen, vornehmlich in Richtung Europa. Und der Exodus schwillt an, auch wenn die Bundesrepublik in Kabul und andernorts tapfer dagegen plakatieren lässt: „Afghanistan verlassen? Sind Sie sicher?“
„Nein. Und gerade deswegen …“, wäre angesichts der Lage im Lande eine angemessene Antwort. Die könnte ganz gut von der herrschenden einheimischen Elite stammen, die persönlich längst die Konsequenzen gezogen hat. Zwar appelliert Präsident Ashraf Ghani: „Unsere Würde, unser Respekt ist in Afghanistan.“ Doch seine Kinder leben in den USA, wie der afghanische Mitarbeiter der New York Times, Mujib Mashal, recherchiert hat. Und die Familie des Premierministers? In Indien. Die Familien der Vizepräsidenten? In der Türkei und in Iran. Familien hoher Regierungsmitarbeiter wohnten überall auf der Welt – „nur nicht in Kabul“.
Man kann es ihnen nicht verdenken – siehe oben. Auch den Mittelschichtlern nicht, die Hab und Gut veräußern, um an die mindestens 7.000 US-Dollar für die Schleuser zu gelangen, die das Nirwana in Europa versprechen.
Doch zurück zur Bilanz der ISAF-Ära. Am 12. Oktober veröffentlichte Anthony Cordesman, Inhaber des Arleigh A. Burke-Lehrstuhls für Strategie am Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington, eine Studie mit dem Titel „Afghanistan and ‚Failed State Wars‘: The Need for a Realistic Transition“. Darin finden sich folgende Bilanzsachverhalte:
- Vom afghanischen Staatshaushalt in Höhe von 7,6 Milliarden US-Dollar im Jahre 2014 mussten 4,8 Milliarden vom Ausland finanziert werden.
- 2013 standen einem Export im Umfang von drei Milliarden US-Dollar importierte Güter und Dienstleistungen im Wert von zwölf Milliarden gegenüber.
- Der zivile Aufbau sei in der ISAF-Ära sträflich vernachlässigt worden. Außer einigen Straßen sei an Infrastruktur praktisch nichts geschaffen worden. Immer noch herrsche eklatanter Energiemangel.
- Die Landwirtschaft sei nach wie vor nicht in der Lage, die Bevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen.
Letzteres ist ein existenzielles Problem, denn die afghanische Bevölkerung ist eine der am schnellsten wachsenden weltweit. Trotz bis zu drei Millionen Kriegstoten seit 1978 (Einmarsch sowjetischer Streitkräfte) hat sich die Zahl der Afghanen von acht Millionen 1950 auf derzeit 32 Millionen vervierfacht. (64 Prozent davon jünger als 25 Jahre.) Schon 2025 wird die 40-Millionen-Schwelle überschritten sein.
Bei zwei Parametern allerdings, so weist Cordesman aus, ist das Land Weltspitze – bei Korruption und Drogen. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International für 2014 rangierte das Land auf Platz 172 (von 175). Und die Produktion von Opium, Ausgangsstoff von Heroin und Morphin, erlebte in der ISAF-Ära einen unglaublichen Boom – sie stieg von gut 3.000 Tonnen 2002 auf mehr als 8.000 Tonnen 2007. 2014 lieferte Afghanistan laut „World Drug Report 2015“ des UN-Büros für Drogen und Kriminalität6.400 Tonnen – 85 Prozent der Welterzeugung.
Und die Bundesregierung? Anfang Dezember war der afghanische Präsident in Berlin, und die Tagesschau meldete: „Bundeskanzlerin Merkel will mit mehr Soldaten und wirtschaftlicher Hilfe die Fluchtursachen in Afghanistan bekämpfen.“ Das Bundeswehrkontingent soll wieder verstärkt werden – um 130 Mann. Offenbar in der Annahme, dass damit zu richten wäre, was mit 130.000 Mann nicht geklappt hat.
Allerdings verfolgt die Kanzlerin mindestens noch einen weiteren Ansatz: „Merkel wiederholte“, so Die Zeit, „auch die Forderung nach Schutzzonen in Afghanistan, um eine Flucht aus dem Land zu vermeiden. ‚Es geht um innerstaatliche Fluchtalternativen‘, sagte sie. Wenn Afghanen aus einem unsicheren Gebiet fliehen müssten, sollten sie in sicherere Gegenden innerhalb Afghanistans statt ins Ausland ziehen.“ Die Taliban werden um solche Zonen zweifelsfrei einen weiten Bogen machen.
Andreas Schwarzkopf urteilte in der Frankfurter Rundschau: „Symbolpolitik wo man hinschaut.“ Insbesondere das mit den Schutzzonen sei „Unsinn, wie nicht nur die […] Einnahme von Kundus durch die Taliban“ zeige.
Schwarzkopfs Forderung an die hiesigen Außenpolitiker jedoch ist an Blauäugigkeit auch schwer zu toppen: „Statt unnütze Vorschläge zu machen, sollten sie ein überzeugendes Hilfskonzept für Afghanistan erarbeiten.“ Ja wer, lieber Kollege, sollte denn nach 14 Jahren konsequenten, auch deutschen Versagens dazu noch (oder überhaupt) in der Lage sein?
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