18. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2015

Querbeet (LXV)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Geburtstagskind in der Wintersonnenwende …

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Hälfte des Lebens, und die Schauspielerin Jutta Wachowiak ist – mit ihren dreißig Jahren – beruflich ganz weit oben in er DDR. Im weltberühmten Deutschen Theater Berlin (DT). Wow! Das Entrée-Billett für die ostdeutsche Theaterspitze erspielte sich die Absolventin der Babelsberger Filmhochschule in Karl-Marx-Stadt: als Schillers Luise. Dann, im ersten DT-Jahrzehnt, gleich die feine große Tschechow-Linie: Von Sonja aus „Onkel Wanja“ zur Arkadina aus „Die Möwe“. Eine Herausforderung. Und schönste Gelegenheit, darstellerischen Reichtum auszubreiten. Sonja: Die kleine graue Maus, in der die Liebe ihres Lebens schwelt. Im unscheinbar Treusorgenden das Drängen der unerwiderten Herzensergießung. Im verhalten Komischen das Tieftraurige. – Arkadina: Die kühl gleißende Diva mit ihrer späten, verkrampften Liebe; das Souveräne durchsetzt mit feiner Lächerlichkeit und elender Verzweiflung. Das Publikum ist hingerissen. Frühes Schauspielerinnenglück.
Dabei hing bereits Wachowiaks Einstieg am DT an einer Sensation: Ihre Rolle der zart-frechen Freundin Charly des seinerzeit spektakulärsten DDR-Alternativen Edgar Wibeau in Plenzdorfs Aussteiger-Stück „Die neuen Leiden des jungen W.“ (304 Vorstellungen!). Das war ein keckes Trotzdem, die subtile Verbreitung eines Grans Hoffnung auf ein bisschen Frischluft im vermufften Land; eine Hoffnung, die man nicht müde wurde hochzuhalten oder vorzugaukeln, auch am DDR-Staatstheater.
Jutta Wachowiak prägte bis in die Nachwende-Jahre das DT-Ensemble. Ihr Radius vermochte weit zu greifen: vom bitter wehen Glücksentsagen bis hin zum forschen Glückskampf. Sie war Proletin und Bürgersfrau, Königin, Göre und sogar Volksfigur. Als Mutter Wolffen in Hauptmanns „Biberpelz“ berlinerte sie wie eine Kalaschnikow.
Die Herbfeine mit den blitzenden, zuweilen gar scharf stechenden Augen, die übrigens sehr schön singen kann (etwa in den in eisigen Zeiten erschütternd dramatischen, auch mal sentimental dahin schmelzenden DT-Volksliederabenden), diese so robuste Weibsbild-Dame mit äußerst hellhörigem Herzen ist eine penible Seelenerkunderin. – Ein Schauspieler, schrieb Max Reinhardt, Ahnherr des DT, sei ein Mensch an der äußersten Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, er stehe mit beiden Füßen in beiden Reichen. – Wie die Wachowiak. Das wurde zum geradezu massenwirksamen (und seltenen) Kunstereignis in dem eigentlich hoch politisch konzipierten Film „Die Verlobte“, den W. zur so erschütternden wie, ja doch, trostreichen Liebestragödie empor schraubte; völlig frei von jedwedem Heldisch-Heroischen, von Rührstück-Posen oder entrücktem Über-den-Dingen-Stehen. Es war ihre subtile Kunst, im Dreck der Welt (hier: als Kommunistin im Nazi-Kerker) wie selbstverständlich die Schönheit hell und unverwüstlich aufscheinen zu lassen.
Für ihre Kunst, aber auch für ihr bürgerrechtliches Engagement in der Wendezeit, bekam Jutta Wachowiak als eine der ersten aus dem Osten das Bundeverdienstkreuz. Erst dann, mit der völligen Neuformierung des DT-Ensembles, kam für sie die eigentliche Zäsur: Sie fühlte sich nur noch als „verwaltete Altlast“. Depression. 2005 verließ sie nach 35 Jahren „ihr“ DT; ein Jahr vor der Rente. Mutig. Und ging mit einem hoffnungsvollen Jungregisseur zurück in die Provinz, diesmal Westen, Essen. „Ich war ratlos, wollte mich aber nicht abkoppeln, wollte dahinterkommen, warum Künstler jetzt zu ganz anderen Bildern kommen bei Problemen, die ja eigentlich doch immer ähnlich bleiben.“
Sie lernte einiges im Ruhrpott; „ich fand mich hier passend“. Auch als fremde und dennoch vertraute große Alte unter einem Haufen anfangender, mithin Großes wollender Jugend.
Inzwischen ist sie wieder in Berlin. Und wieder, gelegentlich, an ihrem altvertrauten („die Gerüche!“), dennoch „völlig neuen“ DT. Der Intendant besinnt sich klugerweise auf die lebensweisen Kunst-Könner „von früher“, die doch hier zu Stars wurden und es nach wie vor sind für sehr viele nicht nur in Berlin. Am 13. Dezember wird die verehrte „Altlast“ 75. Aber erst eine Woche später steht sie in „Wintersonnenwende“ (sinniger Titel) auf der Bühne, die ihr für so lange Zeit alles bedeutete, dann schmerzlichst fast gar nichts mehr. Und jetzt wieder allerhand. Und alles ist wieder wie am Anfang: das Lampenfieber, das Sich-Behaupten-Müssen, die mehr oder weniger kleinen Kräche, der Ärger über Missratenes, das Glück des gelungenen Spiels, der Beifall. Alles eigentlich wie immer in ihrem entsetzlich schönen Beruf.

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Es fängt üblich-kabarettistisch an in Roland Schimmelpfennigs Konversationsstück „Wintersonnenwende“ am Deutschen Theater Berlin. Da ist ein bloß mäßig erfolgreiches, trotzdem gut verdienendes Mittelstandsehepaar mit Vorschulkind im Berliner Kreativen-Milieu: Albert (Felix Goeser als Weichei in rosa Klamotten), der seit Jahren Bücher ähnlichen Inhalts schreibt unter Titeln wie „Die Zukunft der Vergangenheit“, Bettina (Judith Hofmann als scharfzüngige Zicke), die schwer verkäufliche Filme inszeniert. Hinzu kommt Bettinas Mutter Corinna (Jutta Wachowiak als schicke, taffe Alte mit einem Schuss gepflegter Dämlichkeit). Sie ist zu Besuch, es ist kurz vor Weihnachten, und sie geht der Kleinfamilie gehörig auf die Nerven, während zwischen allen noch der ewig klamme Maler und weinerliche Familienfreund Konrad geistert (Edgar Eckert). Es dauert nicht lange, und eine familiäre Schlammschlacht bricht aus, in der jeder jeden beleidigt und erniedrigt. Wutexplosionen und Hassausbrüche wechseln mit heulendem Selbstmitleid und hektischem Aneinander-vorbei-Quatschen, befeuert vom Rotwein.
Regisseur Jan Bosse arrangiert das Gezänk flott hinauf, unter und neben einem riesigen, für wirkliche Kommunikation wenig tauglichen Wohnzimmertisch. Das sperrige Möbel beherrscht die Mitte der ansonsten leeren schwarzen Bühne. Wir kapieren: Hier herrscht kalte Abstraktion, hallt Verallgemeinerung, gähnt Finsternis stellvertretend für jeden Weltenort – hier geht‘s also um mehr als bloß eine gängig gutbürgerliche Wohnzimmerschlacht. Die solide situierte, ostentativ linksliberal gefärbte Kleinbürgerwelt ist eben überhaupt nicht solide, sondern brüchig. Und das offenbart sich vor allem durch einen gewissen Rudolph Mayer, den Überraschungsgast des Abends, den Bernd Stempel unheimlich bieder als graue, schließlich grauenvolle Eminenz funkelnd vorführt.
Dieser seltsame, diskret exotisch erscheinende ältere Herr mit korrekter Krawatte, Deutscher, aus Paraguay kommend, ist eine Zufallsbekanntschaft von Großmutter Corinna. Sie hat den Arzt unterwegs im Intercity aufgegabelt und spontan eingeladen. Mayer plaudert gepflegt über altdeutsche Vornamen, über schöne, „doch leider verlorene“ deutsche Vokabeln wie „ritterlich“, „anständig“, „stolz“, über Kunst und ihre Aufgabe, „ins Licht zu führen“. Sonderlich eloquent vermag er Musik in Worte zu fassen (tolles Solo für Stempel). Dann spielt er auch noch Chopin und Bach. So sind denn alle hingerissen, bis auf den wehleidigen, tablettensüchtigen Albert, der zunehmend „Druck auf den Brustkorb“ bekommt und ahnt: „Mit Mayer stimmt was nicht.“
Auch unsereins im Parkett schwant längst: Mit dieser Figur, offenbar ein Abkömmling deutscher Uralt-Nazis, die einst in Südamerika untertauchten, mit diesem Bügelfalten-Biedermayer kam etwas Böses in diese adventliche Gesellschaft, die selbstgerecht denkt, damit nun überhaupt nichts am Hut zu haben. Es ist das hier verführerisch süß schmeckende Gift faschistoider Ideologie, die poetisch vom Garten schwärmt, der von Blattläusen gesäubert sein müsse, von der Vermischung mit Unkraut. Denn immer und überall müssten Ordnung und Reinheit über dreckiges Chaos triumphieren, womit selbstredend unsere liberal-libertinäre Glaubens- und Orientierungslosigkeit gemeint ist. Dieser Schlaffi-Gesellschaft drohe der Untergang, so wie in der Natur das Niedere und Schwächere dem Höheren, Gesunden, Stärkeren weichen müsse.
Damit ist in Schimmelpfennigs neuem Opus (deutschsprachige Erstaufführung) endlich heraus, was im schwarz abstrahierten Bühnenbild schon angedroht wurde: Nämlich Schlimmes, eben kein Kabarett, keine Satire. Doch zuvor gibt es genau das und einigermaßen ausgeleiert. Quasi als grobkörniges Vorspiel zum subtil gedachten Menetekel: Nämlich die notorische Anfälligkeit der total demokratisierten, total freiheitlich sich dünkenden, dabei ziellosen Bürgerlichkeit (und nicht nur der!) fürs Totalitäre mit seinen klaren Ansagen. Die kommen in der letzten halben Stunde durch Mayers aberwitzig geschliffener Philippika gegen das Ungeziefer, das sich zersetzend einniste im Abendland, das dafür mit seiner individualistischen, jammerlappenhaften Verweichlichung den Nährboden liefere; wobei dem immer strammer werdenden Bildungsbürger-Nazi unversehens schon mal das Wort „Saujude“ von den Lippen flutscht. Zum absurden Finale vereint sich die verzankte Sippe zu einer Art Abendmahl, das Mayer austeilt. Alle schlucken ein Glas irgendwie geweihtes Wasser als „Destillat des Lebens, als Vermächtnis und Auftrag …“ Auch Albert schluckt, dabei schreibt er gerade an einem neuen Buch; Titel: „Weihnachten in Auschwitz“ …
Der mutige Autor kapert ein virulentes Thema: Den Hang des einzelnen zur schönen Freiheit sowie zur bequemen Ein- und Unterordnung; seine Kühnheit und zugleich Ängstlichkeit. Bei Schönwetter mag sich das austarieren, bei Schlechtwetter kippt es schnell – Wintersonnenwenden … – Eine Angst- und Frust-Kompanie wird da unversehens zur erlösungssüchtigen Fascho-Gemeinde. Großes Thema, aus dem aber doch nur ein hölzernes Thesenstück wuchs. Man hätte es kühn zur rasenden und federnden Satire, zur abgründigen Polit-Farce straffen sollen. O du fröhliche …, aber unheimlich ätzend.