von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal eine unmögliche Liebschaft zwischen Kloster und Königshof sowie ein Warteraum voller Figurengedingse…
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Wie viele Musiker seiner Zeit ging auch Gaetano Donizetti irgendwann einmal nach Paris. Der aus Bergamo stammende und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Komponist war bei dieser Reise freilich schon 41 Jahre alt und ein berühmter Mann. Und zudem einer der fleißigsten seiner Zunft – am Ende seines Lebens, er hatte nur noch zehn Jahre, bevor ihn 1848 die Syphilis hinwegraffte, liegen rund 600 Werke von ihm vor, darunter 75 Opern und 16 Sinfonien. Heinrich Heine lästerte bewundernd, Donizettis kreative „Fruchtbarkeit“ übertreffe noch die von Kaninchen. Inzwischen gilt er neben Rossini und Bellini als Dritter im sagenhaften Trio der bedeutenden Belcanto-Komponisten.
Doch zurück ins Paris von 1838. Ein super Auftrag hatte ihn in die Stadt gelockt; aber eben auch der hohe künstlerische Standard und die opulente Ausstattung des dortigen Opernbetriebs sowie üppige Honorare und eine vergleichsweise freizügige Zensurpraxis. Hinzu kamen private wie berufliche Schicksalsschläge, die ihn aus Italien trieben: der Tod seiner Frau Virginia, seine miese Entlohnung am Konservatorium in Neapel, das ihm obendrein den Direktionsposten verweigerte, sowie das Aufführungsverbot seiner Oper „Poliuto“ durch die neapolitanische Zensoren. In Paris hingegen stand der Auftrag für zwei Opern, die er teils schon fertig geschrieben hatte.
Doch dann kam es überraschend anders: nämlich ein neuer Auftrag. Aus Teilen von vorhandenen ganz unterschiedlichen Opern bzw. Opernfragmenten Donizettis soll er eilends unter dem Titel „La Favorite“ ein völlig neues Werk formen unter Mithilfe von maßgeblichen Librettisten, darunter der berühmte Literat Eugène Scribe.
Die Handlung ist voller Intrigen, Herz, Schmerz; spielend in spektakulär gegensätzlichen Milieus (Kloster, Königshof): Der Novize Ferdinand verlässt aus Liebe zu einer Frau das Kloster und gerät dadurch ins böse Intrigenspiel von Kirche und Staat; weil: Seine Herzensdame entpuppt sich als Mätresse des Königs. – Alle Figuren sind also leidenschaftlich verhakt in einem Netz aus lustvoller Neigung und harter Pflicht, aus Religion, Staatsraison und persönlichem Ehrenkodex.
In den vier Akten seiner 63. Oper vollbringt nun Donizetti durch die Neuformung des Arbeitsauftrags das tolle Kunststück, kontrastierende Teile von Kompositionen im (neu modischen) französischen und (älteren) italienischen Stil in eins zu bringen, in ein homogenes Ganzes – als tragische Belcanto-Oper á la francaise. Der Musikwissenschaft gilt die singuläre, interpretatorisch-technisch höchste Ansprüche stellende Stil-Synthese als eine der geschlossensten und ausdrucksstärksten musikdramatischen Leistungen Gaetano Donizettis. Der legendäre Dirigent Arturo Toscanini nannte sie „durchweg schön; der letzte Akt aber: jede Note ein Meisterwerk“. Uraufführung war am 2. Dezember 1840.
Erstaunlicherweise wird dieses herrliche, so herzbewegende wie spannende Meisterwerk kaum gespielt im deutschsprachigen Opernbetrieb; womöglich auch auf Grund seiner enormen künstlerischen Anforderungen, die eine optimale Besetzung eben nicht leicht machen. Umso verdienstvoller und auch wagemutiger ist jetzt die Produktion dieser kostbaren Rarität am Staatstheater Cottbus, das vor drei Jahren schon bejubelt wurde bei Donizettis Belcanto-Hit „Lucia di Lammermoor“. Die Direktion des allein schon architektonisch herrlichen Hauses (reiner Jugendstil, perfekt saniert) fällt immer wieder auch überregional auf durch im dramaturgischen wie ästhetischen vorbildliche Leistungen („Elektra“, „Alcina“).
Und jetzt also „Die Favoritin“, intelligent gefasst, mit schlüssiger, den Suspense fein auskostender Regie von Martin Schüler, die das Sujet in seinem historischen Kontext belässt, es also nicht aufdringlich aktualisiert, sondern in vernünftig abstrahierter Form frei von Schnörkelei präsentiert in vielen schönen Schaubildern. Und dazu, ganz wichtig: Eine prima Besetzung. Das Philharmonische Orchester (Ivo Hentschel) sowie der Opernchor sind selbstredend in Hochform. Ein herrlicher Abend, ein großer Abend nicht nur für Cottbus.
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Da tapst das kleine Männchen mit Stock, Schlips, Hut chaplinesk aus dem Zuschauerraum heraus verschüchtert nach vorn: Milan Peschel allein auf der Bühne. Wartend auf Münchhausen, den sein Kollege geben soll, der aber nicht kommt, weil der Schlawiner wohl wieder (die miese Gage) jobbt beim Versandhaus Zalando.
Aber es geht ja hier im Deutschen Theater Berlin überhaupt nicht um Münchhausen, sondern ums Warten und mithin um die prima Gelegenheit, die Wartezeit aufzufüllen mit einem opulenten selbstdarstellerischen Monolog für einen großartigen Schauspieler – eben für Milan Peschel; der kleine quirlige Kerl ist ja längst ein Star im Theater wie im Film. Dreißig Seiten hat der Autor (Regisseur und jetzt Stuttgarter Theaterdirektor) Armin Petras dafür vollgeschrieben; zwanzig hätten es aber auch getan.
Klar, dass es da ums Theater geht. Um Realitäten und Abbilder („dieses Figurengedingse“), ums Menschsein („das Leben eine Krisenüberprüfungsanordnung“) und ums Rollenspiel als Schauspieler („ein irres Gefühl der werden zu können, den man sich erträumt hat“). Und um Talent und Neugier, Regisseure, Kritiker und Publikum, mit dem man schon mal kollektiv Atmen übt (überflüssig). Oder aus dem man sich jemanden aus der ersten Reihe grapscht, um mit ihm bei Käsebrötchen und Bier rumzublödeln auf der Bühne (noch überflüssiger).
Der ziemlich längliche Petras-Monolog trägt den Titel „Münchhausen“ allein deshalb, weil das lust- oder leidvolle Schwindeln eine existenzstiftende Grundlage allen Lebens und mithin allen Theaters überhaupt ist – „die Lüge als zentrales Element von dem, was wir hier machen, von unserem Leben überhaupt“, erklärt Peschel. Ist etwas kryptisch formuliert, aber er bringt es total plausibel über die Lippen. Wie auch diesen komisch vertrackten Satz, mit dem er geradezu absurd herumspielt: „Ja, das ist möglich, weil es ja ein Stück über mich, also nicht nur, aber eben auch doch zum größten Teil schon…“
Es geht also nicht nur, aber auch und vor allem um Milan Peschel, der da aus dem prall gefüllten (beruflichen) Nähkästchen plaudern darf (Berliner Volksbühne, die Kollegen dort, Castorf, Tschechow, Tolstoi). Immer zwischen Parodie, Melancholie, Sarkasmus, Ulk. Dazu köstliche kleine Improvisationen, aus dem Augenblick geborene spielerische Arabesken, die immerhin zu Sternviertelstündchen virtuoser Peschelei werden. Zum Niederknien. Zwischendurch lässt es der Autor immer wieder platt dahin plappern; Peschel überspielt es tapfer, auch wenn er dafür angestrengt Genet und Nietzsche bemühen muss. Regisseur Jan Bosse hätte mutig mit dem Rotstift arbeiten sollen – zwei Stunden sind hier 40 Minuten zu viel und verhindern, dass dieser Abend wirklich groß wird. Ganz groß. Schade. Aber trotzdem: Den Milan muss man lieben!
Schlagwörter: Armin Petras, Deutsches Theater Berlin, Geatano Donizetti, Martin Schüler, Milan Peschel, Reinhard Wengierek, Staatstheater Cottbus