18. Jahrgang | Nummer 21 | 12. Oktober 2015

Tatschanka

von Lutz Unterseher

Die Moskauer Macht ist bis in die Spitze antisemitisch verseucht. Mein Freund Alexej Arbatow, einst Mitglied der Duma, kassierte in einer Ausschuss­sitzung von einem prominenten Kollegen einen Rippenstoß und die Be­mer­kung: „Du Judensau, irgendwann schlagen wir auch dich tot.“ Nach Nazi­kri­te­rien ist Ale­xej Halbjude und hätte billigerweise erwarten dür­fen, nur halb­tot geschla­gen zu werden, zog es aber vor sich unter die Fittiche der Carnegie Foundation zu begeben.
Als sich dann auf dem Kyiver Maidan antisemitische Rechtsradikale durch besondere Gewalttätigkeit gegen die Repressionsorgane des Präsidenten Ja­nu­ko­witsch hervortaten, bot dies der Moskauer Propaganda eine gute Gele­gen­heit, vom eigenen alltäglichen Faschismus abzulenken. Durch allerlei Tricks ließ man den Bürgerprotest als von „Faschisten“ dominiert erscheinen: so ge­schickt, dass auch westliche Beobachter darauf hereinfielen.
Zwar gibt es in der Ukraine eine antisemitische Tradition. So etwa stellt Ni­kolai Gogol in seiner Novelle „Taras Bulba“ das sporadische Tot­schla­gen von Juden gleichsam als Teil des Brauchtums der freien ukraini­schen Kosa­ken dar. Doch sollte niemand auf die Botschaft hereinfallen, dass auf dem Kyiver Maidan die zivilge­sell­schaft­lichen Kräfte nicht die Mehr­heit und nicht letzt­lich doch das Sagen hatten.
Mit diesen Kräften fielen auch an deren Rand stehende libertäre Elemente der medialen Marginalisierung durch Moskau zum Opfer. Gemeint sind die ukra­inischen Anar­chis­ten. Obwohl auf dem Kyiwer Maidan in einiger Zahl prä­sent, kamen sie – als besonders friedfertige Bürgerinnen und Bürger – we­gen der sich zuspitzen­den Ereignisse kaum zu Wort.
An­ders auf dem Char­kiver Maidan, wo es keine vergleichbare Eskalation der Ge­walt gab. Dort ließ sich die altehrwürdige Programmatik der Anarchisten klarer ver­nehmen: Hinweg mit den repressiven Institutionen des Staates – für einen kooperativen Verbund freier Zusammenschlüsse der Werktätigen!
Ukrainischer Anarchismus? Altehrwürdige Programmatik? Das alles ist vielen kaum noch bewusst. Und dabei gab es auf dem Gebiet der heuti­gen Ukraine sogar einmal so etwas wie einen „anarchistischen Staat“ – eigent­lich ein Wi­der­spruch in sich! Zwischen 1917 und 1921 behauptete sich der ukra­inische Anarchismus ge­gen feindliche Truppen aus dem Westen, Norden und Osten: zuerst gegen das deutsche und das österreichische Heer, dann gegen die Polen sowie schließlich die Weißen und Roten im Kon­text des Bürger­krie­ges in Sowjetrussland. Am Ende musste man vor der Roten Armee mit ihrem Über­gewicht an Menschen und Material weichen.
Der anarchistische Staat hatte – in der damals noch stark agrarisch ge­prägten Ukraine – die Idee und die rapide sich entwickelnde Realität freier As­soziationen von Bauern zur Grundlage. Seine Legitimation bestand darin, deren Entwicklung in einer feind­lichen Umwelt mit militärischen Mitteln zu be­hüten. Der Staat war also wesentlich Armee, und diese konnte sich, wo im­mer sie operierte, auf ihre bäuerliche Basis und deren allerdings beschei­dene Ressour­cen stützen.

Der kleine Feldherr

Die zentrale Figur des ukrainischen Anarchismus war Nestor Iwanowitsch Mach­no. Die von ihm geführte und nach 1917 rasch erstarkende Bewegung hieß „Machnowschtschina“.
Machno war ein Bauernsohn, geboren 1888 in Huljajpole, auf dem Gebiet der heutigen Ostukraine. Die Lückenhaftigkeit seiner Schulbildung suchte er durch eifrige Lektüre zu kompensieren. Schon früh zeigte er sich von den Schrif­ten der russischen Anarchisten Michail Bakunin und Fürst Kropotkin be­ein­druckt.
Seine aufrührerischen Aktivitäten brachten ihm Kontakte mit der zaristi­schen Strafverfolgung ein. Er wurde mehrfach verhaftet und schließlich zum Tode verurteilt, aber auf Bitten seiner Mutter begnadigt. Die Gefängnis­au­fent­halte machten ihn schwer lungenkrank. Als er 1934 im Alter von nur 45 Jahren im Pariser Exil starb, war das eine Folge dieser Erkrankung.
Nestor Machno war ein kleiner, schmächtiger Mann mit schlechten Zäh­nen und einer wallenden Haartolle. Und doch eine große, charismatische Per­sönlichkeit – ein unauffälliger Mensch, der aber im Gespräch ge­wann und über­zeugte. In seinem Anarchismus leuchtete die Freiheitsliebe der Kosaken. Doch deren Verachtung für alles Jüdische war ihm fremd. In der Machnowschtschina fühlten sich auch die jüdischen Gemeinden gut aufgehoben.
Die wesentliche Leistung Machnos lag auf militärischem Gebiet. Aus dem Nichts schuf er eine Streitmacht von bis zu 50.000 zumeist bäuer­lichen, freiwilligen Kämpfern, die den bitter nötigen Schutz des anar­chis­tischen Ex­pe­riments übernahm. Diese Truppe ist als Partisanenarmee bezeichnet wor­den: weil sie bodenständigen Ursprungs war, „aus dem Volke“ kam und Zeichen der Im­pro­visation trug. Eine Charakterisierung, die freilich etwas zu kurz gegriffen erscheint: Die Armee Machnos war hochbeweglich. Sie vermochte rapide über Hunder­te von Kilometern vorzudringen, aber auch flexibel massiven feind­li­chen Angrif­fen ausweichen. Solche Bewegungen wurden auf der Basis einer Ge­samtstrate­gie koordiniert, wobei den unteren Befehlsebenen viel Entscheidungsspiel­raum eingeräumt wurde, um vor Ort sich bietende Chan­cen nutzen zu kön­nen.
Die Gesamtstrategie war ein Eingeständnis der Schwäche. Sie reflektierte die Einsicht, dass sich die Armee nur würde halten können, wenn sich verzeh­ren­de Konfrontationen mit den Gegnern vermeiden ließen. Es sollten nicht Li­ni­en verteidigt, sondern wichtige Räume behauptet oder doch zumindest in den eigenen Wirkradius gebracht werden. Rückzüge in einer Richtung sollten Fort­schritte an anderen Abschnitten ermög­lichen. Infolgedessen hatte die Ukraine der Machnowschtschina keine festen Grenzen, keine fixen Fronten: Alles war im Fluss.
Im Zuge der Kämpfe erlebte die Truppe Machnos einen eindrucksvollen Prozess der Professionalisierung. Die Kader wurden geschult und bewegliche Operationen systematisch geübt. Hinzu kam eine grandiose strukturelle Verein­fachung, die das Führen größerer Verbände auch über beträchtliche Ent­fernun­gen sehr erleichterte. Grundelement dieser Vereinfachung, die zugleich eine Lei­stungssteigerung bedeutete, war die Tatschanka: der mit einem Maschi­nen­gewehr bestückte Pferdewagen.

Ein wunderbarer Wagen

Isaak Babel wurde von Maxim Gorki, der das große dichterische Talent des jun­gen Mannes aus dem Odessaer Ghetto erkannt hatte, mit dem Rat bedacht, „un­ter die Leute“ zu gehen, um Lebenserfahrung zu sammeln. Ba­bel schloss sich daraufhin der roten Kavallerie an, die 1920 in der West­ukraine gegen die dort­hin vorgedrungene polnische Armee focht.
Einige Jahre später schreibt er in seinem Meisterwerk „Budjonnys Reiterarmee“:
„Ein Wagen! Dieses Wort bildete die Grundlage des Dreiecks, das unse­ren Lebensinhalt erschöpfte: das Töten – der Wagen – das Pferd […] Jeder Wagen, ob es die Kalesche eines Popen oder Gerichtsbeamten oder nur ein ganz gewöhnliches Fuhrwerk war, gewann […] Bedeutung und wurde zu einem schrecklichen und beweglichen Kampfmittel, schaffte eine neue […] Taktik, veränderte das altgewohnte Antlitz des Krieges und brach­te Helden und Genies des Wagens hervor. So etwa den von uns erdrück­ten Machno, der den Wagen zur Achse seiner geheimnisvollen und listigen Strate­gie gemacht hatte. Jenen Machno, der die Infanterie, die Artillerie und sogar die Kavallerie abschaffte und an Stelle dieser schwerfälligen Massen drei­hundert Maschinengewehre an Wagen anschraubte. Jenen Machno, der so viel­gestaltig war wie die Natur. […] Ein Hochzeitszug, der vor das Exeku­tivkomitee eines Distrikts fährt, eröffnet, kaum angekommen, ein konzentrisches Feuer, und ein magerer Po­pe entfaltet das schwarze Banner der Anarchie und verlangt von der Behör­de die Aus­lie­fe­rung der Bourgeoisie, die Auslieferung des Proletariats, Wein und Musik.
Eine Armee solcher Wagen verfügt über eine unerhörte Manövrier­fähig­keit. […] Ein unter einem Heuschober vergrabenes Maschinengewehr, ein Wa­gen, der in eine Bauernscheune eingestellt wird, ist eine verschwundene Kampf­ein­heit. Die Punkte, die man so erhält, sind die Voraussetzung einer Addition mit Unbekannten, deren Summe die Struktur des ukrainischen Dorfes ergibt, wie es noch vor kurzem war: wild, aufrührerisch und selbstsüchtig.
Eine solche Armee […] bringt Machno binnen einer Stunde auf die Beine; und noch weniger Zeit ist nötig, um sie wieder verschwinden zu lassen.“
Wie Isaak Babel berichtet, machte sich bald auch die Rote Armee diese Neuerung zueigen: allerdings nur zur Ergänzung und Verstärkung, jedoch nicht als Ersatz der Kavallerie. Diese Anleihe mag unter vielen anderen Gründen mit dazu beigetragen haben, dass die Roten am Ende die Oberhand über die Anar­chisten behielten.
Alsbald wurden die Maschinengewehrwagen der roten Reiterei stan­dar­disiert: eine Vereinheitlichung, die zuvor bereits bei den Truppen Machnos begonnen hatte. Man nahm nicht mehr nur irgendwelche Pferdewagen, son­dern solche, die sich für ihre militärische Aufgabe besonders eigneten: offene, kompakte 3-5-Sitzer mit guter Federung, um im Fahren schießen zu können.
In diesem Sinne lief in Moskau eine Serienproduktion an, die bis gegen Ende des Zweiten Weltkrieges andauerte (!). Der Legende nach soll der Taug­lich­keitstest der Wagen darin bestanden haben, dass diese nach Fertig­stel­lung aus dem zweiten Stock des Fabrikgebäudes geworfen wurden. Das musste die Federung aushalten können (!).
Die nur etwa 500 Kilogramm wiegenden, hölzernen Wagen fuhren typischerweise als Troi­ka, manchmal auch vierspännig, um über Stock und Stein hohe Ge­schwindigkeiten erreichen zu kön­nen.
Die meisten Tatschankas, sowohl diejenigen Machnos als auch die der Ro­ten, wurden mit einem von dem Amerikaner Hiram Maxim für die Armee des Zaren entwickelten Maschinengewehr ausgerüstet. Die Sol­daten nannten dieses MG liebevoll „Maximka“. Vielleicht weil der Ame­rikaner – er war übrigens auch der ursprüng­liche Erfinder des Maschi­nengewehrs (1882) – eine Waf­fe konstruiert hatte, , die sich als zuverlässig erwies und die mit ihrem wegen der Wasserkühlung dick umman­telten, relativ kurzen Lauf ir­gend­wie stups­nasig aussieht, nachgerade gut­mütig.
Während die Truppen Machnos sich noch aus den zaristischen Depots bedienen oder bei den Feinden entsprechende Beute machen mussten, konnten die Roten sich nach wenigen Jahren auf eine eigene Produktion der Waffe stüt­zen, die übrigens – wie die ihres fahrbaren Unter­sat­zes – bis gegen En­de des Zweiten Weltkrieges weiterlief.
Auf der Nostalgieparade, die Michail Gorbatschow 1987 zur siebzig­jähri­gen Feier der Oktoberrevolution in Moskau abhalten ließ, war auch eine Forma­tion Tatschankas zu se­hen, jeweils von vier Pferden im Galopp gezogen. Die Tatschanka ist den Russen etwas genuin Russisches, und es gibt aus den Frühzeiten der Roten Armee sogar ein schönes Lied über den geschwinden Wagen. In der quasi-amtlichen „Liste der russischen Er­findungen“, die offenbar zur Tröstung der vielfach gekränkten russischen Seele erforderlich ist, wird auch die Tatschanka aufgeführt, und zwar mit dem Ursprungsjahr 1917. In der Ru­brik „Erfin­der“ finden wir einen gewissen Nestor Machno. Dem Ukrai­ner hätte diese Vereinnahmung wohl kaum gefallen.

Operation und Taktik

Die Tatschanka-Kriegführung hatte, außer der logistischen Anspruchslosigkeit ihres einfachen Kampfmittels, zwei wesentliche Voraussetzungen für ihren Erfolg: Da war zum einen das flache Land der südukrainischen Steppe, das zü­gi­ge Bewegungen auch über größere Entfernungen erleichterte. Und da war zum anderen die Tatsache, dass selbst umfangreiche Truppenkörper in der Weite des Raumes gleichsam verschwanden. Eine lückenlose Kontrolle des jeweils behaupteten Territoriums schien al­so praktisch unmöglich. So boten sich immer wieder offene Flanken, in die ein militärischer Führer hinein­sto­ßen konnte, um seinen Gegner aus der Balance zu bringen.
Dies geschah auf operativer Ebene, mit größeren Verbänden über be­trächt­liche Distanzen, aber auch im taktischen – räumlich eher begrenzten – Rah­men. Dabei sollte allerdings nicht übersehen werden, dass auch das Gelin­gen massivster Operationen – zunächst einmal und immer wieder – taktischer Er­folge bedarf.
Die MG-Wagen rollten in aufgelockerter Formation über das offene Land: zügig, aber doch die Pferde schonend. Dabei wurde, wann immer mög­lich und operativ-taktisch sinnvoll, der Weg des geringsten Wider­standes ge­sucht, um Raum zu gewinnen. Stieß man dennoch auf Gegenwehr, schlossen die Wagen zu einer Phalanx auf und wendeten auf der eingenommen Linie, um zu feuern. Da die Maschinengewehre auf dem Heck der Wagen standen, konnte nämlich nur im hinteren Winkelbereich geschossen werden.
Um ein Zahlenbeispiel zu bemühen: Wenn eine taktische Einheit von zehn Wagen ihre Maschinengewehre auch nur für drei Sekunden wirken ließ, hatte sie 300 Schuss in Richtung Feind abgegeben – und das vermutlich „kon­zentrisch“ (wie Isaak Babel schreibt). Es waren freilich oft erheblich grö­ßere Formationen unterwegs. So lässt sich also ahnen, dass Tatschanka-Einsätze in vernichtenden Feuerkonzentrationen resultieren konnten.
Dabei wurde allerdings nur Gewehrmunition verschossen, und es stellt sich die Frage, wie die Truppen Machnos mit Artilleriefeuer fertig zu werden trach­teten. Zwei Rezepte lassen sich erkennen: Schoss die gegne­rische Artillerie auf Distanz, galt es, deren Feuer durch er­höh­te Ge­schwin­digkeit der Wagen zu unterlaufen. Wurde man aber im direkten Richten – auf unmittelbare Sicht – beschossen, bestand eine gute Chance, mit der Flut des eigenen leich­ten Feuers die langsamer schießenden schwereren Systeme der anderen Seite hin­weg­zu­fegen .
Die berühmte Gleichung zur Abbildung eines Duells von Systemen, die einander direkt beschießen (sie wurde von dem britischen Mathematiker Frede­rick Lanchaster 1916 aufge­stellt), war Machno und seinen Leuten sicherlich nicht bekannt. Sie handelten aus klugem Instinkt. Doch diese Gleichung erklärt genau das, was damals ge­schah: Sie besagt nämlich, dass sich die relative Dich­te des Feuers in beson­de­rem Maße auszahlt. Es kann nämlich die lineare Zu­nah­me der Waffen­zahl einer Seite nur durch eine quadratische Steigerung der Waf­fen­qua­lität (Treff­genau­ig­keit und Vernichtungskraft) der anderen kompensiert werden.
Was aber, wenn die Kampfkarren im Begriff waren, das Duell dennoch zu ver­lieren? Schutz bot die ungepanzerte Tatschanka kaum. Ihre Besatzung und die Pferde waren dem Feind lohnende Ziele. (Nur der MG-Schütze wurde durch ein kleines Panzerblech an seiner Waffe etwas gedeckt.) Dann lag das Heil in der Flucht. Die Pferde, die ohnehin schon dem Fein­de abgewandt standen, wur­den zu höchster Rennleistung angetrieben. Und die MGs in den Hecks der Fluchtfahrzeuge spuckten in rasender Fahrt defensives Feuer.

Das konzeptionelle Erbe

Nach dem Großen Vaterländischen Krieg wurde die rote Kavallerie aufgelöst. Während des Krieges hatte sie sich, verstärkt durch die MG-Wagen, tapfer ge­schla­gen: allerdings mit gemischtem Erfolg. Ihre Zeit war abge­laufen.
Mochten auch die Kampfkarren alter Art nun als Brennholz dienen: Die Idee der Tatschanka blieb lebendig. Es ist die Idee leichter, geländegän­giger Fahrzeuge großer Reichweite, die feuerstark sind und aus der Tiefe des Raumes die Flanken eines Gegners bedrohen oder auch Knotenpunkte seines Dis­positivs überfallartig nehmen können.
Bereits ab 1943 gab es in der Roten Armee eine Improvisation, mit der pfiffige Frontkommandeure das Konzept der Tatschanka in die moderne Zeit über­setzt hatten. Sie statteten Jeeps, von denen Zehntausende aus den USA ge­liefert worden waren, mit einem Maschinengewehr aus, wobei man zumeist die gute, alte Maximka nahm (amerikanisches MG auf amerikanischem Fahr­zeug!).
Dieses Konstrukt war schneller, geländegängiger, kompakter und weni­ger verwundbar als die Tatschanka mit ihrem Pferdegespann. Auch die Reich­wei­te erschien beeindruckend. Mit solchen MG-Jeeps wurden raum­greifende Auf­klärungsmissionen durchgeführt, was gelegentliche Feuer­über­fäl­le auf expo­nier­te Stellungen der Wehrmacht einschließen konnte.
Schon 1942 nutzten „Commandos“ der briti­schen Armee mit MGs be­stück­te Geländewagen, um aus der Wüste heraus die lange, offene Südflanke der deutschen und italienischen Trup­pen in Nord­afrika zu „beunruhigen“.
Während es sich bei den erwähnten Unternehmungen eher nur um Stör­aktionen handelte, kam es im israelischen Unabhängigkeitskrieg zu taktischen Erfolgen von leichten Truppen auf mit MGs ausgestatteten Jeeps, denen am En­de operative, wenn nicht gar strategische Bedeutung zukam. Nehmen wir zum Beispiel die Operation „Ayin“, mit der um die Jahreswende 1948/49 der Zusam­menbruch der ägyptische Front bewirkt wurde! Entscheidend für diesen Erfolg war, dass durch unerwartet aus der Wüste auftauchende „Jeepim“ ein wichtiger Stütz­pfeiler der ägyptischen Verteidigung von seinen Verbindungen abgeschnit­ten und so neutralisiert werden konnte.
Bis auf den heutigen Tag ist die israelische Aufklärungstruppe vom Geist der „Jeepim“ geprägt, und viele Verbände nutzen immer noch die bewährte Kom­bination von leichtem Geländewagen und Maschinengewehr.
Machen wir einen Sprung in der Zeit! 1978 bis 1987 gab es kriegerische Aus­einandersetzungen zwischen Libyen und der Republik Tschad. Der Diktator Muammar al-Gaddafi, den manche nach seinem Sturz und gewaltsamen Tod als „Stabilitätsgaranten“ heftiglich vermissen, unternahm es, die Kontrolle über den Tschad zu gewinnen, um sein Land zur Vormacht Zentral­af­rikas zu machen. Dazu intervenierte er mehrfach in den damals im Tschad wütenden Bürgerkrieg, in den auch Frankreich zum Schutz der dortigen Regie­rung eingriff.
Gegen Ende des Konfliktes gab es eine großangelegte Invasion der Libyer – mit sowjetischer Unterstützung und dem entsprechenden Angriffsmuster: 300 Kampf­panzer, dazu zahlreiche andere gepanzerte Fahrzeuge in festgefügten Ko­lonnen auf wenigen Marschrouten, unterstützt von schwerer beweglicher Ar­til­lerie und Jagd­bombern.
Die Reaktion der durch Frankreich (und auch die USA) ausgerüsteten Wü­s­ten­krieger der Regierung des Tschad war asymmetrisch, wie man heute sa­gen würde. Es kam zum „Toyota-Krieg“: 400 allradgetriebene Pick­ups des Typs Toyota Hilux, deren Ladeflächen Maschinen­ge­wehre, vor allem aber Panzerab­wehr-Lenkraketenstarter deutsch-französischer Produktion trugen, griffen aus der Wüste über­ra­schend an, konnten Truppenteile der In­va­soren isolieren und Stützpunkte aus der Bewegung überrennen. Gaddafi hat­te den Krieg verloren. Die Verluste seiner Truppen waren siebenmal höher als die der Gegenseite.
Wagen wir einen weiteren Sprung! Gegenwärtig ist die Welt vom so ge­nann­ten Islamischen Staat (IS) beunruhigt, der sich auf den Territo­rien des Iraks und Syriens ausbreitet. Wir erleben ein Déjà-vu: Auch dieses Gebilde besteht im We­sent­lichen nur aus seinen Streitkräften und hat keine festen Grenzen. Und die Kampfweise ist vom Prinzip „Tatschanka“ geprägt.
Aufge­lockerte Formationen, Schwärme von geländegängigen Pickups, die meist mit überschweren MGs oder leichten Maschinenkanonen aus sowje­tisch-russischer Produktion bestückt sind, rollen – durch Luftangriffe kaum zu be­helli­gen – zügig durch die offene Wüste, um sich an verabredeten Brenn­punkten zu kon­zentrieren und über­ra­schend zuzuschlagen.
Zwar verfügt der IS auch über schwere, gepanzerte Kräfte (deren Fahrzeuge als – zumeist leichte – Beute von der gegnerischen Allianz stam­men). Doch spielen sie im Kampf keine zentrale Rolle, sondern dienen eher nur der Er­gän­zung des Tatschanka-Prinzips in besonderen taktischen Lagen. Diese Beschrän­kung erklärt sich auch dadurch, dass schwere Verbände, die in ihrer Bewegung eher als die Pickup-Truppen auf bestimmte Routen angewiesen sind, gute Ziele für den Luftfeind bieten.
Neben den strukturellen Ähnlichkeiten von Islamischem Staat und Mach­now­schtschina besteht jedoch ein krasser Unterschied. Während es den Anar­chisten um den militärisch flexiblen Schutz ihres menschenfreund­lichen Ent­wurfs ging, haben die Islamisten Expansion zur Vernichtung alles Andersartigen im Sinn.