von Wolfgang Brauer
1894 malte Edvard Munch seine skandalumwitterte „Madonna“, Max Liebermann hatte seinen impressionistischen Personalstil voll ausgeprägt und im Jahr zuvor erschienen Hauptmanns „Weber“ auf der Bühne. In Paris wurde Claude Debussys „Prélude à l’après-midi d’un faune“ uraufgeführt, Rodin arbeitete schon seit einigen Jahren am „Höllentor“. Die politischen und wirtschaftlichen Zeitläufte schienen sich in einem fiebrigen Taumel zu überschlagen. Und mittendrin, auch topographisch, in diesen Umbrüchen baute ein junger Maler aus Bremen einen mittelalterlich geprägten Rückzugsort.
1894 begegnete der Zweiundzwanzigjährige am Rande eines norddeutschen Moores einem vierzehnjährigen Mädchen. Er malte es im selben Jahre in altdeutscher Manier und nannte das Bild „Martha von Hembarg“ (Privatbesitz). 1901 sollte er die junge Frau heiraten, sie trug fortan den Namen Martha Vogeler. Ein gutes Dutzend Jahre lang lebte der Künstler, Heinrich Vogeler, einen Traum. Es war der Traum von einem jungen Ritter, der die schöne Melusine freite und glücklich ist bis zum Ende aller Tage. Schönstes Sinnbild dieses Traumes von irdischer Minne-Glückseligkeit ist sicher die von Vogeler 1896 geschaffene Radierung: „Liebe“. Das Blatt zeigt ein in sich versunkenes Paar am Rande eines Birkenwäldchens, im Hintergrund eine gotische Burg. Den Vordergrund nimmt ein nur auf ihr Spiel konzentriertes Harfenmädchen ein. Diese Szenerie ist dermaßen unwirklich rückwärtsgewandt, dass sie selbst für den deutschen Jugendstil etwas heftig aufgetragen erscheint. Dennoch ist es ein zauberhaftes Blatt. Im Jahr darauf radierte Vogeler wieder ein Paar: „Im Mai“. Auch dieses sitzt auf einer Bank am Rande eines Berges, blickt jetzt nicht auf ein Schloss, sondern auf ein Gehöft am Rande des Moores. Zweifellos handelt es sich um Vogelers Barkenhoff in Worpswede. Das Paar, wir sehen auch hier nur die Rückenansicht, ist inzwischen alt geworden, eine Vision sozusagen. Deren Verwirklichung war den beiden nicht gegönnt. Die Ehe zerbrach schon vor dem Ersten Weltkrieg unter fürchterlichen Umständen. Der Künstler hatte sich auf dem Barkenhoff eine perfekt gestaltete Scheinwelt eingerichtet, die mit der fiebrigen Zeit in den benachbarten Großstädten Bremen und Hamburg nicht das Geringste zu tun hatte.
Mit einer Ausnahme: Heinrich Vogelers künstlerische Arbeiten, die zauberhaften Zeichnungen und Grafiken, die traumhaften Bilder, die exquisit gearbeiteten Gebrauchsgegenstände – das Wort „Gebrauch“ verbietet sich eigentlich angesichts dieser Ikonen moderner Designgeschichte – waren stilbildend, sie gehören zu den Höhepunkten des deutschen Jugendstils und erwiesen sich als Kassenschlager. Eine beeindruckende Auswahl dieser grafischen Arbeiten eröffnet den Reigen von gut 180 Exponaten Heinrich Vogelers, den momentan das Kunsthaus Apolda präsentiert. Höhepunkt dieser Abteilung ist sicherlich das Gemälde „Träume II“ (1912) aus der Sammlung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. Es scheint fast wie ein Pendant auf Munchs erwähnte Madonna: Im Zentrum eine junge Frau, sitzend in einer von floralen Strukturen dominierten Landschaft. Der Bildaufbau ist streng geometrisch, fast wie die Illustration eines Euklidschen Lehrbuches. Dreieck und Kugel dominieren. Das blaue Gewand umfließt den Körper. Dennoch ist da nichts Erotisches mehr. Aus den Spermien am Rande der Arbeit Munchs wurde ein florales Dekor auf vergoldetem Rahmen. Dargestellt ist übrigens Martha Vogeler. Die Ehe war noch nicht geschieden. Aber die junge Frau verweigerte sich zunehmend entschiedener der Rolle eines lebenden, wenngleich sehr stilvollen Hausinventars. Das Bild ist ein Abgesang auf diese große, lang verloschene Liebe – und ein Abgesang auf eine Kunstauffassung und einen Stil, den auch Vogeler wohl nicht mehr als zeitgemäß betrachtete.
1903 hatte er die Tochter Mieke im Garten des Barkenhoffs gemalt („Im Frühling“, Haus im Schluh Worpswede), ein fröhliches Bild. 1913 malte er Mieke wieder: „Am Teich I“ (Kunsthalle Bielefeld). Das Bild ist in der Apoldaer Ausstellung zu sehen. Es atmet Wehmut und Melancholie. Mieke sollte ihm genauso gründlich verlorengehen, wie die beiden anderen Töchter auch. Der hochsensible Maler scheint das gefühlt zu haben. Die spätere Ehefrau Gustav Reglers starb 1945 in Mexiko.
Kurz nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges meldete sich Vogeler freiwillig zum Kriegsdienst bei den Oldenburger Dragonern. Die persönlichen Bedrängnisse spielten dabei eine Rolle. Kriegsgegner war er zu dieser Zeit mitnichten. Eingesetzt wurde er als Mitglied der Nachrichtenabteilung des XXIV. Reserve-Armeekorps an der Karpatenfront. Zu seinen Aufgaben gehörte auch das Zeichnen gegnerischer Befestigungen, von Landschaftsprofilen und ähnlich militärisch Nützlichem. Vogeler zeichnete fleißig und akkurat, sehr früh auch an eine mögliche Vermarktung seiner Produkte in Postkartenform denkend. 1916 erschien ein Teil dieser Arbeiten in einem Mappenwerk des Charlottenburger Felsing-Verlages: „Aus dem Osten. 60 Kriegs-Zeichnungen aus dem Kriegsgebiet Karpathen, Galizien-Polen und Russland“. Die Originalzeichnungen befinden sich – neben einem guten Dutzend anderer Handzeichnungen des Künstlers aus den Kriegsjahren – im Oldenburger Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte. Sie bilden einen merkwürdig berührenden Schwerpunkt der Apoldaer Schau. Gloria Köpnick und Rainer Stamm bemerken im Katalog, dass sich Vogeler „fast nie direkt dem Kampfgeschehen ausgesetzt sah, sondern pittoresk-verklärende Eindrücke“ wiedergegeben habe. Tatsächlich liegen Welten zwischen den Radierungen des Otto Dix – die erst 1923/24 entstanden – und den Arbeiten Heinrich Vogelers. Das große Massenschlachten an der Westfront hat Vogeler nicht erlebt. Aber deshalb dem Sterben im Osten eine vergleichsweise „Harmlosigkeit“ zu unterstellen, geht an den Realitäten der Metzeleien in den Karpaten weit vorbei. Dennoch fällt auf, dass er nur auf einem einzigen erhaltenem Blatt tote Soldaten dargestellt hat: „Gefallene“ (Federzeichnung, vermutlich 1915/16). „Mal’n Se mir bloß keene Leichen!“ wurde er einmal von seinem Kommandeur angeranzt.
Das Erlebte muss dennoch hochgradig traumatisierend gewesen sein. Er selbst urteilte Jahre später: „Der Krieg hat aus mir einen Kommunisten gemacht.“ Am 20. Januar 1918 schrieb Heinrich Vogeler während eines Heimaturlaubs an Wilhelm II. einen Brief in Märchenform. „Das Märchen vom lieben Gott“ endet mit einer Aufforderung an den Kaiser: „Sei Friedensfürst, setze an die Stelle des Wortes die Tat, Demut an die Stelle der Siegereitelkeit, Wahrheit anstatt Lüge, Aufbau anstatt Zerstörung. In die Knie vor der Liebe Gottes, sei Erlöser, habe die Kraft des Dienens, Kaiser!“ Er wurde nicht – wie er zunächst selbst erwartete – erschossen. Man versuchte, ihn in der Psychiatrie wegzusperren. Das gelang nicht. Der Künstler wurde unter Polizeiaufsicht auf den Barkenhoff entlassen.
1918 war auch künstlerisch für Heinrich Vogeler ein Umbruchsjahr. Er fertigte die sehr vielschichtige und stark expressive Radierung „Die sieben Schalen des Zorns/Offenbarung Johannis“ an. In seiner Ausdrucksstärke gemahnt das Blatt an Ludwig Meidners „Apokalyptische Landschaften“. Im Bildaufbau wird viel von den späteren „Komplexbildern“ Vogelers vorweggenommen.
Ebenfalls in der Ausstellung das anrührende Ölgemälde „Die Leiden der Frau im Kriege“ (1918, Große Kunstschau Worpswede) – das Bild liest sich wie eine direkte Antwort auf die esoterische Idyllik des erwähnten „Träume II“. Jene Welt war in den Gräbern des Weltkrieges versunken. Heinrich Vogeler muss dies schmerzhaft empfunden haben. Er suchte neue Orientierungen in der Kunst, in der Politik und im Privaten. Über gescheiterte Versuche mit einer Arbeitskommune auf dem Barkenhoff führte sein Lebensweg 1931 in die Sowjetunion. Dieses „Werden“ (so der Titel einer Radierung aus dem Jahre 1921) kann in der Apoldaer Schau nur angedeutet werden. Für den Künstler selbst sollte es tragisch enden. Nach dem Ausbruch des Krieges gegen die UdSSR wurde er nach Kasachstan deportiert und verhungerte dort im Jahre 1942 – bis zuletzt von der Hoffnung auf die neue, bessere Welt des Kommunismus gefangen.
Die Ausstellung lohnt den Weg nach Apolda. Sie wird begleitet von einem vorzüglich edierten Katalog.
Heinrich Vogeler: Traum vom Frieden. Kunsthaus Apolda Avantgarde, bis 13. Dezember 2015, Dienstag bis Sonntag 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr; Katalog Andrea Fromm / Tom Beege im Donat Verlag Bremen, 176 Seiten, 19,80 Euro.
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