18. Jahrgang | Nummer 21 | 12. Oktober 2015

Alles mal anstellen!

von Heino Bosselmann

Montags gab es Eintopf, also Kohl-, Bohnen-, Linsen-, Gemüseeintopf, oder einfach Brühreis, dafür aber Schokopudding mit Vanille-Soße oder umgekehrt, dienstags Nudeln mit Tomatensoße und Jägerschnitzel, einer panierten und gebratenen Scheibe Jagdwurst, als Nachtisch Gurkensalat. Mittwochs Fisch mit Kartoffeln und einer hellen Soße mit Dill, danach Rote Beete in geriffelten Scheiben oder Reibemöhren, Donnerstag Bouletten mit Mischgemüse, dazu den in der DDR allgegenwärtigen frischen Krautsalat, wahlweise gehobelt aus Rot- oder Weißkohl, am Freitag Lungenhaschee, ein mittlerweile vergessenes Gericht, dazu etwas zerfleddert aussehendes Mischobst oder harte eingeweckte Birnen als Kompott, und am Sonnabend einfach Grießbrei mit Fruchtsuppe, weil es jeder eilig hatte, das Essen herunterzuschlingen und mit dem Bus ins kurze Wochenende abzubrausen.
Nachschlag war immer drin, aber nicht immer mit Fleisch oder mit Kompott. Und wie immer musste man zu den Küchenfrauen freundlich sein und auch „Bitte …“ sagen. Manchmal wurde getauscht: Ein Jägerschnitzel für einen Pudding. Die Kurse schwankten.
Weitere Klassiker: Spinat mit Spiegelei, Schmorgurken mit Speck und hartgekochtem Ei, Schnitzel mit Erbsen und Möhren, desgleichen gebratene Leber mit Zwiebelringen und Kartoffelpüree, Grützwurst oder Bratwurst mit Sauerkraut, oft Fisch, weil das Land eine der größten Hochseefischerei-Flotten unterhielt.
Am Milchreis schieden sich die Geister. Ähnlich wie bei Grützwurst und Spinat gab es nur Total-Bekenner oder Total-Verweigerer, aber die Lehrer passten auf: „Du musst was essen, Junge, und wenn du eben nur Kartoffeln und Soße nimmst. Und der Nachtisch schmeckt dir doch sowieso.“
Die Schulspeisung war so konzipiert, dass sie gleich noch die Rentner des Ortes mitversorgte. Sie saßen in einem eigenen Abteil, sorgten aber gleich für Ruhe, wenn wir mal abdrehten. – Alle Speisereste wurden in Kübeln gesammelt und direkt zum Schweinestall der LPG gebracht. Wiederverwertung auf eine Weise, die heute verboten ist. Warum eigentlich? Jeder in der DDR kannte die „Specki-Tonne“. Darauf war ein Schweinchen mit Latz und Besteck abgebildet. In seine Sprechblase hinein sagte es: „Sammelt Küchenabfälle für uns.“
Ausnahmsweise geht es mal nicht um Nostalgie, sondern um Ernährung. Ich wuchs mit „Himmel und Erde“ auf, einem einfachen Gericht aus gestampften Kartoffeln und eingerührten Boskop-Äpfeln, das seine deftige Würze gebratenem Speck und angeschwitzten Zwiebeln verdankte. Außerdem gab es „Schwarzsauer“, düster und suppig aus Schweinblut angerührt und pikant säuerlich abgeschmeckt.
In der ersten vormittäglichen Schul-Pause, der Milch-Pause, schleppte ein dafür eingeteilter Schüler einen Kasten mit Viertelliter-Flaschen Milch, Fruchtmilch oder Kakao herein. Jeder griff sich das von ihm Bestellte, drückte zwei Löcher in den Stanniol-Deckel und trank. Kalzium rein, für die Knochen. Manche bestellten gleich zwei Flaschen. Eine auf ex, eine in Ruhe. Dazu aß man sein Frühstücksbrot.
Die DDR-Schulspeisung war nicht diätisch, sondern kräftig. Mit ihren besseren Gerichten auch das, was heute mit „gut-bürgerlich“ gemeint sein mag. Oder mit „deutscher Küche“. Aber beides sollten wir so gerade nicht werden, „bürgerlich“ und „deutsch“. Wir sollten reinhauen, weil wir ja lernen mussten und außerdem andauernd Sport hatten oder Arbeitseinsätze oder was Politisches. Vegetarier oder Veganer sind mir damals nicht begegnet. Ich hörte, solche gab es im Westen. Sie hätten es schwer gehabt bei einem Speiseplan, der von Frauen aufgestellt wurde, die aus der Landwirtschaft kamen und für die ein kräftiges Essen die Grundlage für harte körperliche Arbeit darstellte.
Wer richtig reinhaute, der konnte richtig ranklotzen; und wer richtig ranklotzte, der musste eben reinhauen. Es hieß: So wie einer isst, arbeitet er auch. Tatsächlich: Kaum einer war fett. Die Dicken wurden – leider – oft verspottet, aber dies auch, weil sie etwas Besonderes waren und auffielen. Ab und an kamen sie zur Kur: Schön abnehmen! Zur Kur mussten aber noch mehr die Dünnen: Sich mal schön rausfressen! Die allermeisten kamen nie zur Kur, sondern standen weiter in der Schulspeisungsschlange an.
Der staatliche Großhandel „Obst, Gemüse, Speisekartoffeln“ hieß im Volksmund nur „Obst & Gammel“. Und dennoch: Was es da so gab, sieht aus wie heute im Bioladen – ungenormt, ungelackt, ungebeizt, erdig, schrundig, alles regional, alles saisonal, alles frisch. Für Konservierung fehlten die Mittel, selbst bei der Milch und beim Bier. Nichts Exotisches dabei, nichts, was um den Erdball transportiert werden musste. Ja, Bananen fehlten meist. Ja, nach Südfrüchten stand man an. Sogar der Kaffee war zuweilen knapp. Sauerkraut aber gab es immer, überhaupt Kohl in allen Varianten, Kartoffeln sowieso. Wir Schüler mussten zu jeder Ernte hinter der Kombine her und nachstoppeln.
Mitunter denke ich darüber nach, ob gewisse Defizite in der Bildung heute wirklich allein kulturelle und soziale Ursachen haben. Ich bin kein Mediziner, frage mich aber, ob das, was die „Kids“ so essen, überhaupt geeignet ist, einen belastbaren Körper und eine komplexe Hirnstruktur aufzubauen: vieles aus Weizen-Auszugsmehl, alles sehr süß, nicht nur die Süßigkeiten selbst, das meiste fett.
Sicher, der flotte Spruch „Du bist, was du isst“ dürfte materialistisch und naturalistisch verkürzt sein. Aber dennoch hat die Ernährung ja wohl materiell tatsächlich mit dem zu tun, was der Heranwachsende physisch – also beispielsweise auch neurologisch – aufbaut. Anders gefragt: Vertragen sich Nutella-Brötchen und „Junk-Food“ mit Textanalyse und Differentialrechnung? Erklärt die problematische Ernährung das geistige Retardieren und Degenerieren vielleicht doch zum Teil mit? Vom Sport mal ganz zu schweigen. Der ist heutzutage ja – glücklicherweise? – eine Spaßveranstaltung, anstatt, wie zu meiner schlimmen Zeit, auf Wehrertüchtigung ausgerichtet zu sein.
Apropos: Was wir aus der Schulspeisung kannten, fanden wir als Rekruten in den blechernen Armee-Essgeschirren wieder. Nur dass die Rote Beete dann gleich über die Königsberger – oder zuweilen „Kaliningrader“ – Klopse und deren weiße Kapernsoße geschwappt wurde, was ich immer sehr grenzwertig fand und kopfschüttelnd (mit Stahlhelm!) aß.