von Heino Bosselmann
Es verwundert, wie selbstverständlich gerade jetzt vorausgesetzt wird, religiöse Differenzen ließen sich weltbürgerlich vernünftig, also kultiviert einvernehmlich überwinden. Als Angela Merkel nach ihrer jüngst in Bern verliehenen Ehrendoktorwürde von einer Studentin mit Blick auf die massierte Religionszuwanderung nach den Gefahren der Islamisierung gefragt wurde, riet sie sogleich zu einer Besinnung auf das Christentum. Den Muslimen aber das Kreuz entgegenzuhalten, dürfte lediglich zur Fortsetzung des uralten Gezänks unter den monotheistischen Religionen führen, die, jede für sich, grundsätzlich totalitär denken und handeln. Dass deren Differenzen, ja deren latenter Hass in Toleranz auflösbar wäre, darin bestand schon die fatale Illusion Lessings in dessen „Nathan der Weise“. Die Geschichte weist das eindrucksvoll nach.
Man wird einwenden: Was im Mittelalter und in der frühen Neuzeit pimitiverweise in Gewalt und Glaubenskriege mündete, das wird ja wohl heute in „gewaltfreier Kommunikation“ und mit gegenseitigem Respekt voreinander einvernehmlich mittels Vernunft zu moderieren sein. Aber Vernunft dürfte wohl nicht so voraussetzungslos als menschliches Attribut anzunehmen sein, wie es sich die Aufklärung wünschte. Ganz abgesehen davon, dass der Islam in seiner Geschichte von der Aufklärung recht unberührt blieb und seinen Koran noch immer als göttliche Offenbarung an sich selbst versteht, der gegenüber keinerlei Revision statthaft erscheint. Des Weiteren gehören meines Erachtens Religionen nun mal nicht in eine Gegenwart, die das Risiko eingeht, sich auf kritische Urteilskraft von Menschen zu verlassen. Vielmehr transportieren sie archaische Mythen, bestenfalls figural ausgestattete gleichnishafte Metaphysiken für eine naive Menschheit oder – wie gerade eindrucksvoll am Beispiel des ausartenden IS-Terrors zu erleben – tatsächlich „Opium fürs Volk“, also Rauschmittel für die Unterprivilegierten, Bildungsarmen oder sonst Frustrierten.
Dort aber, wo Religionen ihre ursprünglich mythische Kraft verlieren, wo sie also nicht mehr auf ihre ausschließlichen Geltungsansprüche setzen und darauf verzichten, zu erwecken oder zu fanatisieren, dort sind sie nun mal keine authentischen und Menschen mobilisierende Religionen mehr. Sie sind nur noch Dekorelemente einer weitgehend profanisierten Alltagskultur, die – weitgehend durchrationalisiert – ab und an Rituale der Selbstvergewisserung und Beglückung im Sinne von Kompensationsübungen für ein neurotisiertes Bewusstsein ihrer selbst nötig haben, etwa auf Kirchentagen oder anlässlich alter religiöser Feste, deren tieferer Sinn den meisten längst verborgen ist und wiederum kommerzialisiert wird.
Religionen im Sinne ihres ursprünglichen Anspruchs erscheinen tendenziell fundamentalistisch, indem sie an wörtlich genommene Offenbarungsereignisse oder die Auskunft heiliger Bücher anzuschließen versuchen, in einer Weise, wie sie sich zwischen amerikanischen Evangelikalen und islamistischen Salafisten abstrakt angesehen wenig unterscheidet. Einwendungen einer sich modern verstehenden Vernunft sind sie gerade nicht zugänglich. – Man lese einfach das apostolische Glaubensbekenntnis und frage sich, was man daran zu glauben vermag und welche Phrasen einem wirklich als wahr oder auch nur möglich erscheinen. Aber alles, was den Glauben – welcher Religion auch immer! – mit der Vernunft zu versöhnen oder gar zu verbinden trachtet, ist dem Gläubigen, der vor allem eines will, nämlich glauben, von weit geringerem Interesse oder gilt ihm als „Irrlehre“. Von Anselm von Canterburys „Credo ut intelligam!“ über Luthers Freiheit und Verantwortung des Christenmenschen bis in die dialektische Theologie Karl Barths legt die christliche Kirche zwar eine philosophisch eindrucksvolle Bilanz vor, aber die führt letztendlich eher aus einer „allein selig machenden Kirche“ heraus als in sie hinein.
Wer die Vernunft sucht, insofern sich die nicht ebenso wie Gott als Illusion herausstellen mag, der sollte sie jenseits eines totalitären Bekenntnisses zum einen Gott und dessen nicht verifizierbaren Offenbarungen zu finden verstehen oder sich auf das Wagnis eines selbst zu verantwortenden Existentialismus einlassen, der auf Kierkegaards „Sprung“ ins Absurde der Religion verzichtet.
In seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ leitete Marx 1844 optimistisch ein: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“ – So recht er mit dem zweiten Teilsatz hat, als so illusionär erweist sich der erste. Wie es aussieht, haben wir doch wieder von vorn zu beginnen. Mit der Kritik der Religion.
Von Epikur über d’Holbach und von Schopenhauer bis Norbert Hoerster hat die Philosophie der Religion vieles entgegengehalten, was der Gläubige im Gegensatz zu seinen offenbarten Büchern gar nicht oder nur unter Schmerzen lesen mochte und vielleicht am liebsten auf den bewährten Scheiterhaufen verbracht hätte. Sie hat aber immer klar darin gesehen, dass die Religion gerade einfachen Menschen die eingängigsten Identifizierungs-, Trost- und Schutzangebote ermöglicht, ebenso wie ihre modernen Platzhalter im säkularisierten Zeitalter, die Ideologien – mit totalem Geltungsanspruch und einem Wirkungspotential, das aus Sinnsuchern pervertierte Kämpfer für die eine Sache macht und eine quasireligiöse Symbolik ersinnt: „Denn die Fahne ist mehr als der Tod!“
Worin gegenwärtig die konstruktive Kraft des Religiösen liegen soll, ist schwer verständlich. Vermutlich wieder mal in einem großen, selbst suggerierten Als-Ob oder im verzweifelten Versuch, Gegengewichte zur durchkommerzialisierten Welt und den damit verbundenen Entfremdungseffekten zu schaffen. Möglichst einfach, wirksam und volkstümlich. Denn ein Bekenntnis zu sprechen, obwohl das darin Bekannte passagenweise als völlig absurd anmutet, ist immer noch unkomplizierter möglich, als sich mit Natur- und Wirtschaftswissenschaften oder dem unübersichtlichen Spektrum des Philosophischen zu befassen. Was letztlich eher Herausforderungen oder gar Desillusionierungen und tiefe Hoffnungslosigkeit bereithält und was in Anbetracht der Tragödie alles Menschlichen ein couragiertes „Trotzdem!“ erfordert, das darf weniger auf Zulauf hoffen als der Glaube, der jedem seinen Segen gibt und den Rest dem Ratschluss Gottes überlässt. Transzendenzvermeidung ist weniger werbewirksam als Transzendenzverheißung.
Es ist so fruchtlos wie gefährlich, Heilsbotschaft gegen Heilsbotschaft setzen: Christentum statt Islam! Eigenes Abendland hier, fremdes Morgenland dort! Identitäre gegen Fremde! – Will man aber dem religiösen Irrsinn im Allgemeinen und seine im Islamismus Ideologie und Politik werdende drohende Gestalt im Besonderen begegnen, sollte man statt auf Glaubenszwist auf einen offensiven Laizismus setzen, der religiöse Erweckungen auf das privat zu Zelebrierende beschränkt. Schwierig genug. Was Religion stets für sich einklagt, Pietät nämlich, ist sie nie und nimmer bereit, dem Andersgläubigen, dem Freidenker oder gar dem Atheisten zu gewähren. Schon gar nicht, wenn sie zur Macht gelangt.
Selbst die Linke lässt derzeit eine klare atheistische oder mindestens laizistische Linie vermissen, da ihr die Pauschalbekenntnisse zu Toleranz und bunter Republik über jede Konsequenz gehen. Mehr denn je scheint der Freidenker im 21. Jahrhundert auf verlorenem Posten zu stehen.
Schlagwörter: Fundamentalismus, Heino Bosselmann, Ideologie, Laizismus, Religion, Vernunft