von Julius Berrien
Sie steht uns gut, die neue Fremdenfreundlichkeit. Die Kanzlerin und der Bundespräsident schwören ihr Volk auf Willkommenskultur ein. Deutschland ist in puncto Flüchtlingssolidarität jetzt schon gefühlter Europameister.
Dabei wünschte man zuweilen, die Debatten würden weniger ideologisch und mehr rational geführt. In der Öffentlichkeit und den sozialen Netzwerken herrscht zum Teil ein Schwarz-Weiß-Denken, welches die Bevölkerung in gute Flüchtlingshelfer und böse Einwanderungskritiker unterteilt. Fast traut man sich nicht, Bedenken zu äußern, ob die friedliche Integration von so vielen Asylsuchenden gelingen kann. Auch nicht, ob jene Flüchtlinge, die in Ungarn Wasser und Nahrungsmittel von der Polizei ablehnen, nicht eigentlich dankbar sein müssten, in einem Auffanglager Schutz zu finden, egal in welchem Land.
Die Menschen, die bei uns Zuflucht vor Krieg und Terror suchen, verdienen unsere Hilfe. Der Schwerpunkt aller seriösen Anstrengungen muss jedoch auf der Beseitigung der Ursachen der Krise liegen. Von Irakkrieg, Sturz Muammar al-Gaddafis und Destabilisierung Syriens führt ein direkter Weg zur gegenwärtigen Flüchtlingskatastrophe. Auch im Kosovo hat der Westen auf völkerrechtlich zweifelhafte Weise ein dysfunktionales Staatsgebilde geschaffen, aus dem die Menschen nun zu uns fliehen. Wir hätten allen Grund, jenen Flächenstaat südlich von Kanada ins Gebet zu nehmen, der für die Destabilisierung des Nahen Ostens maßgeblich Verantwortung trägt und auch ein einiges Vorgehen mit Russland in der Syrienkrise zu verhindern wusste. Bisher ist von Angela Merkel diesbezüglich jedoch wenig zu hören. Stattdessen heißt es: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit…“
Doch die Flüchtlingskatastrophe ist selbst nur der Anfang einer großen globalen Wanderbewegung aus den Armenhäusern dieser Erde. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung spricht von einem immer größeren Flüchtlingsstrom vom globalen Süden in den globalen Norden. Dabei ist weder die völlige Abschottung noch die unkontrollierte Zuwanderung eine geeignete Lösung, so Institutschef Dr. Reiner Klingholz in Die Welt. Denn letztere schüre die Angst der einheimischen Bevölkerung vor Überfremdung und verschaffe rechtsextremen Parteien Zulauf.
Es ist eine Frage der Fairness gegenüber den Völkern Europas, diese globalen Entwicklungen deutlich zu kommunizieren und die Unionsbürger selbst entscheiden zu lassen, inwieweit sie ihre Grenzen für Migration öffnen möchten. Was in mancher Diskussionsrunde wie ein Angriff auf die europäische Werteidee und Humanität dargestellt wird, ist in Wirklichkeit eines der grundlegendsten Rechte eines Staates. Wer das Recht, die eigenen Grenzen zu sichern, negiert, stellt zugleich die Staatlichkeit der betreffenden EU-Mitgliedsstaaten in Frage.
Mutig wäre es, das Volk über die Anzahl der aufzunehmenden Flüchtlinge in einer Volksabstimmung entscheiden zu lassen. Immerhin verändert die starke Zuwanderung auch das Gesicht eines Landes.
Ebenso haben es die Menschen in den Krisenregionen und Entwicklungsländern verdient, klare Signale zu erhalten, wie viele von ihnen wir in Zukunft aufnehmen können und wollen. Vor allem aber brauchen die an Kriegsgebiete angrenzenden Länder wie Jordanien, Libanon und Irak mehr humanitäre Unterstützung. Während die Mittel zur Flüchtlingsversorgung in Deutschland um weitere Milliarden steigen, werden in Flüchtlingscamps des Libanon aus Geldmangel die Essensrationen gekürzt, weil internationale Hilfe ausbleibt. Wen wundert es da, dass sich täglich mehr Menschen auf den Weg nach Europa machen?
Peter Singer, Ethikprofessor an der Princeton-Universität stellte in einem Online-Artikel auf Project Syndicate eine wichtige Frage: Wer gibt uns das Recht, diejenigen Menschen, die den Weg nach Europa geschafft haben, vor denjenigen zu bevorzugen, die nicht zur Flucht fähig waren? Es sei emotional belastender, Menschen abzuschieben, die am Ende einer gefährlichen Reise in Europa angekommen sind. Aus moralischer Sicht müsse aber das Leid aller Flüchtlinge gleich gewichtet werden, egal in welchem Land sie sich befinden.
Wir kreieren die Hölle für die Vielen. Unsere Hilfe konzentriert sich hingegen auf die Wenigen, die es in unser Land schaffen. Fast mutet es grotesk an, wenn Menschen nach langer Flucht unter dem Applaus der Deutschen durch die Ziellinie laufen. Das Flüchtlingsdrama gerät zu einer Reality Show, in der für die Überlebenden die Blue Card winkt. Auf lange Sicht kann der Dammbruch aus den Entwicklungsländern nur verhindert werden, wenn das Wohlstandsgefälle zu den reichen Industrienationen verringert wird. Hierzu braucht es faire Handelsbeziehungen anstelle von EU-Wirtschaftsprotektionismus und der erzwungenen „Öffnung“ der Märkte Afrikas für westliche Billigprodukte, mit denen die einheimischen Fabrikanten nicht konkurrieren können.
Viel hat Angela Merkel in ihren bisherigen drei Amtsperioden diesbezüglich nicht unternommen. Bleibt zu hoffen, dass die gegenwärtige Krise in der Politik genügend Momentum generiert, um diese Themenblöcke in Angriff zu nehmen. Wir müssen die Balance zwischen Herz und Verstand finden und vor allem zu Weltmeistern der fairen Handelsbeziehungen und der Friedenspolitik werden, wenn auch den Flüchtlingen und Notleidenden, die sich keine teure Flucht über das Mittelmeer leisten konnten, geholfen werden soll.
Schlagwörter: Angela Merkel, Deutschland, Flüchtlingskatastrophe, Flüchtlingspolitik, Julius Berrien