18. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2015

Spiele

von Renate Hoffmann

Zu jeglicher Zeit wurde und wird gespielt. Die Jüngeren dürfen es freiweg, die Älteren, etwas verschämt, suchen nach Bemäntelung, um dem Spiel angemessene Ernsthaftigkeit und Gewichtigkeit zu verleihen. Da nachweislich das Spielen entspannt, erfreut, Körper und Geist anregt, möchte man in Erfahrung bringen, wie es die Generationen vor uns damit hielten; was davon übrig blieb oder in Vergessenheit geriet.
Ich fand ein „Illustrirtes Spielbuch für Knaben“ aus der Mitte des 19. Jahrhunderts (das Pendant für Mädchen hatte ich nicht zur Hand). Hermann Wagner, der Autor, empfiehlt tausend und eine Möglichkeit, dem Spieldrang nachzugeben. Denn er ist der Fünfte unter den Urtrieben: essen, trinken, schlafen, fortpflanzen. – Des Autors Vorschlag 1.001 enthält „Abzähl=Reime“. Sie sollen denjenigen ermitteln, der das Spiel eröffnet. In einer der Strophen verbirgt sich die moralische Quintessenz: „Ene, dene, Tintenfaß, / Geh’ in die Schul’ und lerne was; / Lerne nicht zu viel, / Denke auch an’s Spiel.“
Die munteren Knaben besinnen sich nach der letzten Schulstunde nicht lange und wählen, je nach Lust, Laune und Wetter, unter den tausend „Spielen und Belustigungen im Freien oder im Zimmer“ aus. Der Autor ist ein umsichtiger Lehrmeister. Er warnt die Ungestümen vor Gefahren und spornt die Ängstlichen an. Auch weist er auf das Tragen zweckmäßiger Spielkleidung hin. „Rein, derb, bequem“ soll sie sein (die Forderung „rein“ gilt nur für den Spielbeginn).
Bei längeren Schulwegen können Wettläufe gestartet werden – sofern man sich unterwegs nicht noch Vokabeln abfragen muss. Langweilige Wege, wohin sie auch führen, kann der Knabe mit „Reiftreiben“ in Kurzweil wandeln. Dies taten bereits seine Artgenossen vor mehr als zweitausend Jahren in Griechenland. Die Findigen unter ihnen befestigten damals Metallblättchen an der Innenseite des Reifens. Der Wind klimperte daran und verhalf zu flotter Begleitmusik.
Beliebtes Spiel ist „Räuber und Gendarmen“. Besonders geeignet für Waldgebiete „mit allerlei Schlupfwinkeln, kleinen Hohlwegen, Thälern u.s.w.“ Wenn kein Wald, dann vielleicht eine verkehrsberuhigte städtische Zone! Die Gendarmen werden mit einem „Baumreis an der Mütze“ oder anderweitig gekennzeichnet. Die Räuberbande verschwindet in den Schlupfwinkeln. Sind die Versteckten aufgespürt, so werden sie abgeführt und müssen, wenn der Ruf „Puff“ ertönt, (tot) umfallen.
Wagner nennt es im Vergleich mit der Räuberjagd ein „zahmeres Spiel“, das „Kämmerchen vermiethen“; obzwar es heutzutage bei bestehenden Ähnlichkeiten nicht so zahm abläuft. Im Gegensatz zum vorangegangenen Spiele, sei es in Obst- oder Blumengärten gut angesiedelt. Je nach Anzahl der Knaben verschiedene Bäume oder markierte Stellen – minus einer! – auswählen. Anfrage des Mieters an den Vermieter: „Hast du ein Kämmerchen zu vermiethen?“ – „Nein, ich nicht, aber vielleicht mein Nachbar.“ Inzwischen rasches Auswechseln der Standorte untereinander. Der Mieter muss indessen versuchen, einen der frei werdenden Plätze zu gewinnen. Wer dabei den seinigen verliert, wird der nächste „Kämmerchensuchende“.
Das „Ritter- und Bürgerspiel“ ward vom Turnvater Jahn (Friedrich Ludwig Jahn, 1778-1852, Pädagoge, Begründer der Turnbewegung) erdacht und höchst selbst beschrieben. Man kennt seinen markigen Wahlspruch, den er zwar nicht erfand, jedoch sinngemäß auf das Turnen übertrug: „Frisch, Fromm, Fröhlich, Frei.“ – Zum Spiel: Zwei Parteien in waldiger Gegend, möglichst mit Unterholz und freien Stellen in einer Kiefernschonung. Die Bürger verteidigen ihre Stadt, die Ritter vier Burgen. Durch Gefangennahme sei der Feind zu schwächen. Diese soll mit Hilfe des Ringkampfes ausgetragen werden. Jahn weist an: „Letzterer muß regelrecht vor sich gehen! Jeder Ringende faßt mit dem rechten Arme, unter dem linken Arme des Gegners durch, um dessen Leib. Der linke Arm wird über den rechten Arm des Gegners gelegt. Wer den Feind zu Boden bringt, ist Sieger.“ Sofern sich im Eifer keine Verwechslung der Armarbeit nach Jahn einschleicht, läuft der sportliche Kampf gewiss regelgerecht ab.
Zu den „Suche- und Rathespielen“ gehört natürlich die „Blinde Kuh“. Doch soll die Durchführung „nur auf freiem und ebenem Platze“ stattfinden, damit die „Kuh“ sich nicht verletzt. Schließlich wird sie von allen Seiten „gezupft, geneckt und gefoppt“. Hat sie einen der Fopper erfasst und durch Abtasten identifiziert, darf sie das Blinde-Kuh-Dasein an jenen abgeben. Erleichterung und Aufatmen und endlich wieder klare Sicht.
Die Spiele, vielgestaltig, tragen lustige Namen: „Hühnlein braten“; „Kapinkel, kriech zu Winkel“, „Salzhering“, „Der lahme Fuchs“, „Die wandernden Frösche“. Letztere sei eine vortreffliche Turnübung für die Beinmuskeln. Alle stehen in einer Reihe, begeben sich in Hockstellung und versuchen, „auf den Fußspitzen!“ eine vorab festgelegte Ziellinie zu erreichen. Wer der Erste, der der Beste.
Dass das „Paradieshüpfen“ noch geübt wird, sieht man ab und an auf den Gehwegen. Ein System aus Fächern ist mit Kreide aufgezeichnet. Ein flacher Stein wird in das erste Fach geworfen. Auf einem Bein (auch auf zweien) muss der Knabe nachhüpfen. Dann mit der Fußspitze den Stein ins nächste Fach treiben, ohne die Linien zu treffen. Und so fort… Geschicklichkeits- und Balanceübung mit vielen Varianten. Und nicht vergessen: „Die Arme werden dabei auf die Hüften gestützt.“
Mich interessierte der „Fußball“. Ein Kreis mit Handfassung – in der Mitte der Balltreiber, Hände auf dem Rücken (kein Handspiel!). Er stößt stets mit demselben Fuß – ob links oder rechts, wird zuvor bestimmt – den Ball gegen den Kreis. Dort müssen die Spieler mit dem anderen Fuß, und nur mit diesem, abwehren. Wer fehlt, wird ermahnt (gelbe Karte). Der Treiber versucht, den Ball durch eine Kreislücke nach außen zu schießen. Gelingt es, so muss derjenige, an dessen Seite er (dem festgelegten Fuß entsprechend) durchrollte, die Stelle des Treibers übernehmen (rote Karte). – In England bestanden zu dieser Zeit bereits zwei Mannschaften, die auf einem Spielfeld frei gegeneinander antraten. Die Obrigkeit verbot allerdings zeitweilig das Fußballspielen, „da die Unsitte eingerissen war, beim Ballstoßen die Fußtritte durch absichtliches Versehen gegen die Schienbeine der Mitspielenden zu richten“ (Foul). Das waren dann wohl die erwachsenen Knaben.
Anregungen betreffen nicht nur Spiele zu Land, sondern auch zu Wasser. Da wären zum Exempel Wettschwimmen zu veranstalten. Voran fährt ein Boot mit Musikern und spielt Marschmusik – zur Ermutigung der Schwimmer. Am Ende nimmt ein weiteres Boot die Erschöpften auf und tröstet die Verlierer. Wer am Ufer bleibt, darf das Steinwerfen probieren. Man sucht nach flachen Steinen und wirft sie mit Schwung über die Wasserfläche. Wessen Stein am häufigsten im Bogen das Wasser berührt, der ist der Gewinner.
Für Regentage gibt es mancherlei Zeitvertreib. Belustigungen mit der höheren Magie oder dem Kaleidoskop; wie man einen Geist erscheinen lässt oder Schattenspiele aufführt. Die Kunst, mit geschickter Stellung von Spiegeln durch einen Ziegelstein zu schauen oder Blicke in den Guckkasten zu werfen. – Die Praktiker unter den Knaben finden Anweisungen zum Bau von Windrädern, Drachen und Montgolfieren.
Die Vergnügungen in der kalten Jahreszeit, für draußen und drinnen gedacht, sind zahlreich. Ich wähle eine besondere Attraktion, „Die gefrorenen Seifenblasen“. – Seifenwasser möglichst kalt werden lassen, bis kleine Eiskristalle am Rande erscheinen. Nun vorsichtig und sehr langsam mit dem Halm eine Blase zustande bringen. An ihrer Oberfläche sollen sich „winzige Sternchen und ähnliche wunderzierliche Figuren“ bilden. Anfangs seien sie auf der Seifenblase noch beweglich, „bis letztere gefroren ist.“ – Neugier und Skepsis, und beim Versuch erwarten mich wahrscheinlich kalte Füße.