von Andreas Heyer
Im Umgang mit der DDR hat sich in den letzten Jahren die Tendenz durchgesetzt, die Geschichte gleichsam von „hinten“ zu interpretieren, das heißt als ein System, das den ideologischen Vorgaben der SED mehr als nur hilflos ausgeliefert war. Stützen, wenn auch nur wacklig, kann sich diese Überlegung auf die sehr früh einsetzende Gängelung so manches kulturellen Bereichs. Erinnert sei nur an die Auseinandersetzung um Bertolt Brecht – noch bevor dieser einen Fuß nach Berlin setzte.
Nun steht, gerade wenn man von „hinten“ schaut, die Philosophie natürlich besonders im Blickpunkt. In den 1980er Jahren war sie, geleitet von Manfred Buhr, Kurt Hager und manch anderem, kaum in der Lage, über den eigenen Tellerrand hinaus zu sehen. Jeder Versuch, diesseits oder jenseits des Dogmas zu denken, wurde von der Partei unterdrückt. Die Geschichte des letzten Leidtragenden dieser Politik, Peter Ruben, hat Hans-Christoph Rauh nach der Wende der Öffentlichkeit vorgestellt.
Gerade – man kann auch sagen ausgerechnet – die Philosophie in der DDR war jedoch nicht immer so gewesen, wie sie zum Schluss, 1989, sich präsentierte. Ganz im Gegenteil. In den ersten Jahren der DDR konnte ziemlich frei diskutiert werden. Natürlich gab es ganz bestimmte ideologische Tabuthemen, Grenzen, die nicht überschritten werden durften. Aber innerhalb dieses Rahmens atmete die junge Philosophie den Geist des Aufbruchs, der Neugestaltung, der endgültigen Überwindung des Faschismus. Und zwar nicht, weil diese Haltung von oben verordnet gewesen wäre, es war die Einstellung der damaligen Protagonisten selbst.
Mit welch großen Hoffnungen und damit auch Hypotheken die DDR sich aus der SBZ entwickelte, zeigten die ersten Schriftstellerkongresse, die seit 1947 regelmäßig stattfanden. Ziel war nicht mehr und nicht weniger als die Bündelung aller Kräfte für den Neuanfang. Während sich im kulturellen Bereich sehr schnell erste Probleme und restriktive Maßnahmen einstellten, lebte die Philosophie eine Debatten- und Diskussions-Kultur vor, die heute entweder nicht mehr bekannt ist oder tunlichst verschwiegen wird.
Kritisch und kontrovers gesprochen wurde über viele Dinge: Über das Verhältnis der Entdeckungen der modernen Physik zum Materialismus, das anzutretende Erbe in philosophischer, literarischer oder musikalischer Hinsicht (erwähnt sei nur die Zelebrierung der Jubiläen von Goethe, Beethoven und Bach) oder über die Interpretation des Marxismus. Die vielleicht zentralste Debatte war die über Hegels Philosophie, um den Stellenwert der Hegelschen Theorien sowie ihr Verhältnis zum Marxismus und zur reaktionären Weltanschauung. Georg Lukács, Ernst Bloch, Wolfgang Harich und viele andere engagierten sich auf dem Gebiet. Der wichtige Band mit den entsprechenden Schriften Wolfgang Harichs „Hegel zwischen Feuerbach und Marx“ liegt inzwischen vor.
Neben diesen Themen gab es einen weiteren Bereich, der hart umkämpft war: die Logik. Der Auslöser für die Debatte war Stalins Schrift „Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft“. Ging es doch in der kleinen Broschüre um die Bestimmung von Basis und Überbau und damit um die Frage, welche wissenschaftlichen Felder in den sozialistischen Staaten völlig neu ausgestaltet und welche auf der Basis der so genannten bürgerlichen Errungenschaften weitergeführt werden könnten. In der Sowjetunion und auch in der DDR fanden zahlreiche Konferenzen statt, in denen es darum ging, die Geistesblitze des größten Philosophen aller Zeiten, gemeint war Stalin, in die akademische Realität zu transformieren.
Am 17. und 18. November 1951 wurde in Jena die Konferenz zu „Fragen der Logik“ durchgeführt, auf der Ernst Hoffmann im Auftrag der SED den Versuch unternahm, die Thesen von Stalin auf das Gebiet der Logik anzuwenden. Dabei tat sich für ihn freilich von Anfang an ein echtes Problem auf. Denn von Logik verstand er nichts. Also kompilierte er alle Zitate von Friedrich Engels, Plechanow und Lenin, derer er habhaft werden konnte. Diese hatten ihrerseits die Logik freilich auch mehr als nur missverstanden. Das Ergebnis war die absurde Konstruktion der dialektischen Logik, die nunmehr, nach dem Sieg des Sozialismus, die formale Logik ablösen sollte.
Viele Teilnehmer der Jenaer Konferenz bekundeten sofort Widerspruch: Karl Schröter, Günther Jacoby, Klaus Zweiling, Ernst Bloch. Selbst Kurt Hager war diese Konzeption nicht geheuer. Denn die formale Logik besteht nun einmal aus Bausteinen, die sich nicht dialektisch umbiegen lassen. So etwa mit der Aussage, dass etwas nicht zugleich sein und nicht sein kann. Die Grundlagen der formalen Logik sind also die Grundlagen dialektischen Denkens, die Dialektik kann nicht als eine Art „neuer“ oder „höherer“ Logik die formale Logik aufheben. Wenn Dialektik ernst genommen werden will, dann muss sie die Logik akzeptieren. Ernst Hoffmann sah dies aber völlig anders und bastelte mit dem Bausteinkasten marxistischer „Klassiker-Zitate“ seine dialektische Logik zusammen.
In Jena zeigte sich eine Debattenkultur, die man der DDR-Philosophie heute so nicht mehr zutraut. Paul F. Linke intervenierte aus dem Zuhörerraum insgesamt 36 Mal mit Zwischenrufen in das Schlusswort Hoffmanns. Im Anschluss an die Konferenz begann eine intensive publizistische Diskussion. Sogar die Einheit, die offizielle Theoriezeitschrift der SED, musste ihre Seiten den Kritikern Hoffmanns öffnen. Die Deutsche Zeitschrift für Philosophie (DZfPhil) verdankte ihre Gründung auch der Logik-Debatte, die in ihr ab 1953 intensiv geführt wurde. Die treibende Kraft war Harich, der als Chefredakteur alles in seiner Macht stehende tat, um gegen Hoffmanns Konzept vorzugehen. Und dabei konnte er sich ausgerechnet auf Stalins Schrift stützen, die ja erst zur Logik-Konferenz geführt hatte. Denn natürlich ist es völliger Unfug, die formale Logik mit ihren grundlegenden Prämissen und Thesen zum Überbau zu rechnen und durch eine neue, sozialistische, dialektische Logik ersetzen zu wollen.
Die Logik-Debatte war ein Erfolg. Und zwar einer, der verführte. Den Intellektuellen in der DDR gelang es, ihre Position durchzusetzen und die Konzeption von Hoffmann zu Fall zu bringen. Aber auch die SED zog ihre Lehren aus der Debatte: Nie wieder sollte es passieren, dass die Parteiposition, sie sei nun richtig oder falsch, derart öffentlich zur Diskussion gestellt werden dürfe.
Wie die SED das meinte, zeigt die sich parallel voll entfaltende Hegel-Debatte. Auch dort gab es Diskussionen und Auseinandersetzungen. Der Druck der Hegel-Bücher von Lukács („Der junge Hegel“) und Ernst Bloch („Subjekt-Objekt“) wurde lange Zeit verhindert. Erst nach verschiedenen Kämpfen konnten sie erscheinen. Und in der DZfPhil wurde zwar intensiv gestritten. Doch als es die politischen Geschehnisse von 1956 ermöglichten, schlug die SED hart zu und reagierte nicht nur politisch restriktiv auf die gesellschaftlichen Krisen, sondern nutzte auch in der Philosophie ihre ganze Macht hemmungslos aus. Das fünfte Heft der DZfPhil, mit den Hegel-Aufsätzen von Bloch und Lukács wurde trotz erfolgter Drucklegung eingezogen und eingestampft. Ebenso erging es beispielsweise dem bereits gedruckten Band der großen Konferenz „Das Problem der Freiheit im Lichte des wissenschaftlichen Sozialismus“, der eines der bedeutendsten philosophischen Zeugnisse der DDR präsentieren sollte.
Lukács wurde in Ungarn von der sowjetischen Militärmacht interniert. In der DDR begann man im November mit den Säuberungen – Harich, Walter Janka und einige andere erhielten teilweise hohe Zuchthausstrafen. Dies alles geschah zuvorderst wegen des politischen Engagements der Genannten. Aber dass man die laufenden philosophischen Dispute gleich mit unterdrücken und ebenfalls als Revisionismus und „Weg zur Konterrevolution“ diskreditieren konnte, war mehr als nur ein zufälliger Nebeneffekt. Und dennoch dürfen alle diese und die noch folgenden zahlreichen Unterdrückungsmechanismen der SED, die gerade persönliches Leid in großem Umfang bewusst produzierten, nicht den Blick auf die Anfänge versperren. Sonst diktiert uns die SED erneut ihre Position.
Schlagwörter: Andreas Heye, Georg Lukàcs, Logik-Debatte, Philosophie, Wolfgang Harich