18. Jahrgang | Nummer 18 | 31. August 2015

Ein Werk mit Zukunft

von Wolfgang Brauer

Christa Wolf verstarb 2011, zwei Jahre später gründete sich unter dem Vorsitz der Literaturwissenschaftlerin Therese Hörnigk die „Internationale Christa Wolf Gesellschaft“. Sie legte nunmehr den ersten Band ihrer Schriftenreihe unter dem Titel „Zwischen Moskauer Novelle und Stadt der Engel“ vor, der die Beiträge eines gleichnamigen Kolloquiums der Gesellschaft und der Berliner Humboldt-Universität 2014 anlässlich des 85. Geburtstages der Schriftstellerin vereint. Das klingt nach gelehrter Germanistik und soll „neue Perspektiven auf das Lebenswerk von Christa Wolf“ – so der Untertitel – aufzeigen.
Das ist etwas überzogen formuliert. Diesen Anspruch, um es gleich am Anfang zu sagen, erfüllt der Band kaum. Er bilanziert aber die internationale Forschung, er untersucht Rezeptionsmuster, er klopft Teile dieses großen Erzählwerkes („Kindheitsmuster“, „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“, „Nachruf auf Lebende“) auf seine Zukunftsfähigkeit ab. Das ist nicht wenig. Über so manchem Zugang zum Wolfschen Werk liegen noch immer der geistige Trümmerschutt des Kalten Krieges und der Unrat fortgesetzter Versuche, die Autorin nach dem Zusammenbruch der DDR in den Orkus des Vergessens zu spülen. Sie galt nicht zu Unrecht als eine der lautersten Stimmen, die es vermochten, aus ihrem insularen Land weltweites Gehör zu finden. Dass dieses Vergessen-Machen nicht gelang, zeigen die Beiträge zur Wolf-Rezeption in Frankreich, Spanien, Italien, Polen, den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, Irland, China, Südkorea und Israel. Hier ist nicht der Platz, diese Beiträge in ihrer Vielschichtigkeit zu referieren. Während hierzulande die Texte der Wolf vielfach als gestrig – die freundlichere Variante der Denunziation eines Lebenswerkes – abgetan werden, sind sie in den Augen israelischer Leser, folgt man den Beobachtungen von Charlotte Misselwitz, sehr heutig. Sie zitiert den Literaturwissenschaftler Ofer Waldmann, der am Beispiel der Rezeption der „Kassandra“-Erzählung feststellt, dass die israelischen Leserinnen und Leser ihre eigenen Entfremdungserfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem Text Christa Wolfs über die sich an realen und gesellschaftlichen Mauern stoßende Seherin reflektieren können. Wenn Misselwitz allerdings postuliert, dass Christa Wolf „den Kassandra-Mythos Trojas 1983 in erster Linie in Analogie auf die DDR wiedererzählt“ habe, so ist das keine sonderlich originelle Beobachtung und reduziert zudem die enorme Vielschichtigkeit dieses Textes. Zudem trifft das wohl auf (fast) jeden Text der Autorin zu. Welches wesentliche Werk der Weltliteratur setzt sich nicht auf die eine oder andere Weise mit dem Unbehagen seiner Verfasserin, seines Verfassers mit den eigenen Zeitläuften auseinander? Dass „Kassandra“ weit mehr als eine Schlüsselerzählung über die Befindlichkeit einer Intellektuellen in einem eingemauerten System ist, zeigt ihre Aufnahme bei der westeuropäischen Leserschaft vor und nach dem Ende der DDR. José Fernández Pérez zitiert in seinem Beitrag über die Rezeption Christa Wolfs in Spanien Margarita Blanco Hölscher: „Das Werk von Christa Wolf ist zweifellos von universalem Interesse, völlig unabhängig von ideologischen, genderspezifischen oder nationalen Kriterien.“ Man kann es auch ganz knapp sagen: Christa Wolf schrieb Weltliteratur. Zumindest aus der Sicht der nicht-deutschen Literaturwissenschaft. Pérez vermerkt mit der Höflichkeit des Gastreferenten, dass in Spanien „eher ein Erstaunen über den ‚neuen’ Umgang“ mit dem Werk und der Person Christa Wolfs nach 1989 vorherrsche. Ein Befund, den übrigens die Turiner Literaturwissenschaftlerin Anna Chiarloni für die italienischen Leser bestätigt. Dieses Werk sei attraktiv für einen Leser, „der sich für eine Literatur interessiert, in der die Rolle des Individuums in der Gesellschaft, die unterschiedlichen Gesellschaftsmodelle und der literarische Schaffensprozess thematisiert werden.“ Auch diese Bewertung stammt von der von Pérez zitierten Germanistin Hölscher.
„Was für eine herausfordernde Biographie“, schreibt Volker Braun in seinem „Grußwort“ eingangs dieses Sammelbandes. Ich habe ihn mit Gewinn gelesen. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung eigener Leseerfahrungen mit einzelnen Postulaten seiner Beiträger – aber das gehört zum Wesen eines guten Gespräches. Ich bin auf die Fortsetzung gespannt.

Therese Hörnigk / Carsten Gansel (Hg.): Zwischen Moskauer Novelle und Stadt der Engel. Neue Perspektiven auf das Lebenswerk von Christa Wolf, Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2015, 272 Seiten, 24,99 Euro.