von Norman Paech
Gut einhundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, knapp 70 Jahre nach Ende des Zweiten und 20 Jahre nach dem Kosovokrieg ist der heiße Krieg nach Europa, nämlich in die Ostukraine, zurückgekehrt. Nach dem zweiten Waffenstillstandsabkommen (Minsk II) werden die Truppen der ukrainischen Regierung und der Separatisten zwar durch einen entmilitarisierten Korridor voneinander getrennt. Doch noch ist völlig unabsehbar, ob das höchst fragile Abkommen diesmal Bestand hat. Während die meisten EU-Mitglieder vorgeben, eine Verständigung mit Russland durch Verschärfung der Sanktionen erreichen zu können, drängen die Hardliner in Washington und Nato-Oberbefehlshaber Philip Breedlove auf Waffenlieferungen und die Aufrüstung der ukrainischen Armee.1
Bereits Ende vergangenen Jahres hat der US-Kongress eine Resolution (Nr. 758) verabschiedet, die einer Kriegserklärung an Russland nahekommt. Sie ruft dazu auf, Russland zu isolieren und das US-Militär umfassend für eine Konfrontation zu rüsten: eine militärische Eskalation in Europa, die zu einer atomaren Katastrophe führen kann. Dies ist die alte Politik der Konfrontation, die George F. Kennan schon 1997 in der New York Times als den „schicksalsschwersten Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg“ geißelte. Drei Jahre zuvor hatte sich US-Präsident Bill Clinton für eine „stetige, bewusste und offene“ Ausdehnung der Nato ausgesprochen und damit das Versprechen zurückgenommen, das Außenminister James Baker im Februar 1990 dem damaligen Präsidenten Gorbatschow gegeben hatte, keine Ausweitung nach Osten zu unternehmen. Erinnern wir uns: 1999 bombardierte die Nato ohne UN-Mandat Exjugoslawien, traten Polen, Ungarn und die Tschechische Republik der Nato bei. 2004 folgten Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, die Slowakei, Bulgarien und Rumänien. Albanien und Kroatien kamen 2009 hinzu, der Kosovo wurde 2008 endgültig von Serbien getrennt. Jetzt stehen Georgien und die Ukraine zur Aufnahme bereit. Putin hat den Beitritt beider Staaten als rote Linie bezeichnet, die nicht überschritten werden dürfe. Den Zugriff auf die Ukraine hat er mit der völkerrechtswidrigen Einverleibung der Krim in die Russische Föderation gekontert. Aber die Frage bleibt: Bis wohin wollen die USA die Isolation Russlands treiben?
Offenbar steckt hinter der Resolution 758 eine Zwangsvorstellung, die der Ko-Direktor des US-Think-Tanks Group on Grand Design, James Rogers, im März 2014 für die amerikanische Politik so formuliert hat: „Osteuropa ist das Tor zwischen den riesigen Ressourcen Asiens und den dichtbesiedelten und technisch fortgeschrittenen Bevölkerungen Europas. Das bedeutet, dass es entweder vom imperialen Despotismus Russlands oder der demokratischen Zivilisation Europas kontrolliert werden wird. Aufgrund seiner geographischen Lage wird derjenige, der den Zugang zu dieser wesentlichen Zone gewinnen wird, auch Einfluss über den gesamteurasischen Superkontinent erhalten. Sollte Osteuropa von Moskau kontrolliert werden, werden die Europäer – und zudem auch die Nordamerikaner – Gefangene sein, wie sie es die meiste Zeit des Kalten Krieges waren. Sollte Osteuropa von Brüssel (und ebenso von London, Paris und Berlin) – wie darüber hinaus auch von Washington – geformt werden, wird Russland geschwächt und relativ harmlos zurückgelassen, so wie es die meiste Zeit in den 1990ern und 2000ern war.“
Das klassische Weltkriegsszenario des Kalten Krieges, das Mitteleuropa in Schutt und Asche legt, droht damit wieder aufzuleben. Dabei schien sich der Krieg zuvor eher an die Peripherie verlagert zu haben, wo die alten Kolonialmächte schon immer militärisch aktiv waren. Auch heute gibt es kaum einen Krieg in Afrika, Asien oder Lateinamerika, bei dem die imperialen Kriegsmächte nicht in der einen oder anderen Weise beteiligt sind.
Das Heidelberger Institut für Konfliktforschung hat für das Jahr 2013 mehr als 220 bewaffnete Konflikte gezählt. Der Krieg wird um die entscheidenden Ressourcen des Überlebens geführt, weltweit und permanent. Wir müssen nur über die Grenzen Europas schauen, um die wahren Dimensionen des Krieges in der Gegenwart zu begreifen. In der Demokratischen Republik Kongo wütet seit 1997 mit wenigen Unterbrechungen ein Krieg, der bislang weit über vier Millionen Tote gefordert hat und den die frühere US-amerikanische Außenministerin Madeleine Albright als „ersten afrikanischen Weltkrieg“ bezeichnet hat. An ihm ist die UNO mit ihrem größten Militärkontingent, 15.000 Soldaten der MONUSCO, beteiligt, ohne dass sich ein Frieden für das Land und seine Menschen abzeichnen würde. „Es geht um Rohstoffe, vor allem für den Westen“, wie die „Zeit“ bereits im Jahr 2003 schrieb.
Die Hoffnung, mit der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes begänne eine Epoche des Friedens, hat sich als gründliche Illusion erwiesen. „Denn in Wahrheit“, so sieht es der indische Schriftsteller Amitav Gosh aus der Perspektive Kalkuttas im Jahr 2005, „deuten die weltweiten Erfahrungen der vergangenen 15 Jahre viel eher darauf hin, dass ungebremster Kapitalismus unweigerlich imperiale Kriege und die Expansion von Imperien auslöst. […] Wir befinden uns in einer Periode außergewöhnlicher Instabilität und Angst, konfrontiert mit der Aussicht auf eine ständige Ausbreitung nur notdürftig getarnter Kolonialkriege. […] Mit anderen Worten: Die Verbindung von Kapitalismus und Imperium bedeutet ein Programm des permanenten Krieges, jener Vorstellung, […] die sich jene Neokonservativen aufs Neue zu eigen machen, die das ‚Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert‘ ersonnen haben.“2 Gosh nennt zwar George W. Bush nicht, aber er hätte ebenso gut aus dessen Rede am 21. September 2001 zitieren können, als Bush seinen weltweiten Krieg gegen den Terror ankündigte und damit drohte, dass dieser „nicht enden“ werde, „bis jede terroristische Gruppe von globaler Reichweite gefunden, gestoppt und geschlagen ist. […] Jedes Land in jeder Region muss sich entscheiden – entweder es steht an unserer Seite oder an der Seite der Terroristen.“ Bush hat Wort gehalten und Präsident Obama ist ihm mit einigen rhetorischen Verkleidungen gefolgt. Der Kriegsschauplatz hat sich inzwischen über den ganzen Nahen und Mittleren Osten ausgedehnt, der zum Paradigma des ewigen Krieges geworden ist.
Der regionale Urkonflikt liegt dabei in Palästina. Seit der Gründung Israels 1948 wird die Auseinandersetzung zwischen dem neuen Staat und den Palästinensern mit den Mitteln des Krieges geführt. Seit 1967 sind das Westjordanland und die Golanhöhen völkerrechtswidrig besetzt. Die Zeiten des Waffenstillstandes und die immer wieder vergebliche Neuauflage sogenannter Friedensgespräche können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Region sich in einem permanenten Kriegszustand befindet, der immer wieder zu Gewaltexzessen führt – wie die Libanonkriege von 1982 und 2006 oder die Gazakriege 2008/2009 und 2014.
Auch wenn das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Israel in letzter Zeit deutlich abgekühlt ist (insbesondere zwischen Präsident Barack Obama und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu), dulden die USA und die Staaten der EU – die einzigen Kräfte, die die Situation verändern könnten – die eindeutig völkerrechtswidrige Besetzung eines Territoriums mit Nachsicht. Sie wissen um die fragile Lage in der Region und haben sich dennoch in dieser eingerichtet, auf offensichtlich unbestimmte Zeit.
Ganz anders im Fall der Abspaltung der Krim: Sie ist gleichfalls völkerrechtswidrig und hat sogleich mit der heftigsten Beschwörung des Völkerrechts Sanktionen und eine Politik der Konfrontation hervorgerufen. Beide doch so unterschiedlichen Fälle haben eines gemein – die offensichtliche Ohnmacht des Völkerrechts. Krieg bedeutet immer die Niederlage des Völkerrechts. Krieg, das heißt den Angriffskrieg, haben die Staaten seit 1928 mit dem sogenannten Briand-Kellogg-Pakt verboten. Sie hatten aber nicht die Illusion, ihn damit aus der Welt geschafft zu haben. Sie haben weiter an den Normen zu seiner Zivilisierung und Humanisierung, dem humanitären Völkerrecht, gearbeitet. Doch regelmäßig bleibt es auf den Schlachtfeldern, ob in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Kongo, Gaza, Libyen oder Syrien, als Verlierer zurück. Und ewig hat es sich gegen die Angriffe auf seine Legitimation, gegen den Vorwurf seiner Machtlosigkeit zu wehren. Noch vor 15 Jahren konnte man weder in dem voluminösen Werk von Henry Kissinger „Vom Wesen der Außenpolitik“ ein Wort zur Bedeutung des Völkerrechts entdecken, noch bei den damals im Bundestag vertretenen Parteien.3 Heute hingegen gibt es kaum eine politische Konfrontation und keine militärische Intervention, die nicht das Völkerrecht als Basis der Argumentation und Legitimation ihres Eingriffes heranziehen. Die Berufung auf das Völkerrecht ist ebenso populär wie sein Missbrauch zur Rechtfertigung des Krieges und seiner Verbrechen.
Was gebietet das Völkerrecht in der Frage von Krieg und Frieden?
Mit der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 hatten sich die Staaten das verbindliche Dokument der Prinzipien geschaffen, nach denen sie in Zukunft leben wollten. Es war die Summe der Regeln, die sich in den jahrhundertelangen Auseinandersetzungen der Staaten in Krieg und Frieden herausgebildet hatten und die nun unter dem Eindruck des gerade beendeten Zweiten Weltkrieges neu definiert wurden: ein Grundgesetz für eine Welt in Frieden. Gleich zu Beginn heißt es: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, […] Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können […] – haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.“ Eine Friedensordnung, in der rechtliche Regeln – Völkerrecht – für die friedliche Gestaltung der Beziehungen zwischen den Staaten sorgen. Völkerrecht ist im strengen Sinn also kein Recht der Völker, sondern der Staaten. Denn ein Volk hat als vorstaatliche Gemeinschaft nie internationale eigenständige Rechte und Pflichten entwickeln können.
Zentrales Element des in der Charta verankerten Völkerrechts sind die Souveränität der Staaten, die mit einem weitgehenden Verbot der Intervention verbunden ist, und das absolute Gewaltverbot (Art. 2 Ziffer 4). Letzteres hat die UN-Charta nur in zwei Fällen durchbrochen: durch das Selbstverteidigungsrecht im Falle eines unmittelbaren militärischen Angriffs und durch militärische Sanktionsmaßnahmen aufgrund eines Mandats des UN-Sicherheitsrats gemäß Art. 42 im Falle internationaler Friedensgefährdungen, Art. 39. Damit haben die Vereinten Nationen das ius ad bellum in ein ius contra bellum umgewandelt, das den willkürlichen Einsatz militärischer Gewalt durch einzelne Staaten strikt zu unterbinden versucht. Diese lassen allerdings nichts unversucht, diese Fesseln abzustreifen oder zumindest zu lockern.
Der erste bedeutende Einbruch in die Dogmatik der UN-Charta wurde zur Rechtfertigung des völkerrechtswidrigen Nato-Angriffs auf Exjugoslawien im Frühjahr 1999 unternommen. Es gab weder einen vorgängigen Angriff auf die Nato-Staaten, der sie zur Selbstverteidigung berechtigt hätte, noch ein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Also bemühte man die aus der kolonialen Geschichte des Völkerrechts bekannte Figur der „humanitären Intervention“. Nicht nur der Charakter und das Ausmaß der „humanitären Katastrophe“ im Kosovo waren seinerzeit umstritten und bedurften zu ihrer Abstützung einiger Lügen. Vor allem die Durchbrechung des Gewaltverbots und die offene Verletzung des Völkerrechts sowie die notdürftige Flickschusterei mit der „humanitären Intervention“, die fast immer koloniale Raubzüge legitimieren musste, entfachten eine lebhafte Kritik. Wenn diese dubiose Figur auch keine der folgenden Interventionen mehr rechtfertigen musste, hat man sich jedoch noch immer nicht von ihr getrennt.
Der zweite massive Versuch, das strikte Gewaltverbot auszuhebeln, folgte nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001. Da der Sicherheitsrat nicht sofort bereit war, den USA ein Einsatzmandat zu geben, wurde die Selbstverteidigung zur Grundlage des militärischen Angriffs auf Afghanistan. So ist bis heute die Frage ungeklärt, ob die Voraussetzungen des Art. 51 UN-Charta tatsächlich vorlagen: Wer waren die Tatverdächtigen, und woher kamen sie (Saudi-Arabien, Deutschland-Hamburg/Harburg)? Auch ist gegen Osama Bin Laden niemals ein Haftbefehl ergangen. Umso absurder ist die Vorstellung eines 13 Jahre lang dauernden Verteidigungsrechts, auf das sich die USA und die Nato noch heute berufen, obwohl es dieses im Völkerrecht nicht gibt. Faktisch jedes Land wird mit einer militärischen Intervention bedroht, in dem die USA ein Ziel ihres war on terror ausmachen – eine völkerrechtliche Abnormität, die zur militärischen Normalität geworden ist. Präsident Bush hat nie ein Hehl aus seiner Verachtung für das internationale Recht und seine Juristen gemacht. Dies sollte der Ausgangspunkt dafür sein, dass die präventive Verteidigung entgegen dem Wortlaut von Artikel 51 UN-Charta immer weiter dorthin vorverlagert wurde, wo allenfalls ein bevorstehender Angriff noch vermutet wird.
Die notwendige Reform der UNO und des Völkerrechts wird vorwiegend mit dem Versagen des Sicherheitsrats in schweren Krisen massenhafter Gewalt (Srebrenica oder Darfur) oder gar des Völkermords (Kambodscha, Ruanda) begründet. Die zentrale Schwäche wird in der notwendigen Einstimmigkeit der fünf ständigen Mitglieder gesehen, wie wir sie in den öffentlichen Sitzungen des Sicherheitsrats während der Kriegsvorbereitungen der USA zum Angriff auf Bagdad Anfang 2003 verfolgen konnten. Als es Washington nicht gelang, auch Russland und China für ein Kampfmandat zu gewinnen, schlug es allein los – ein eindeutiger Verstoß gegen das Völkerrecht.
Es hatte allerdings einen durchaus ernsthaften Versuch gegeben, diese Blockade des UN-Sicherheitsrats zu überwinden. Einige Staaten hatten einen Vorstoß unternommen, die UN-Generalversammlung mit den Kriegsplänen der USA zu befassen. Diese Möglichkeit hatten die USA während des Koreakrieges selbst eröffnet, als die Sowjetunion seinerzeit den Sicherheitsrat blockierte. Anfang 1950 hatte Dean Acheson die berühmte Resolution 377 V, genannt „Uniting for Peace“, durchgesetzt, um die Generalversammlung an Stelle des gelähmten Sicherheitsrats mit den Fragen der Friedenssicherung zu befassen. Als dieser Weg jedoch 2003 zur Lösung der Irakkrise von einigen Staaten vorgeschlagen wurde, ließen die USA die Regierungen wissen, dass dieser Schritt gegen ihre Interessen gerichtet sei. Ihre Warnung reichte aus, die Staaten von diesem Weg wieder abzubringen.
So scheiterte dieser Weg wiederum an dem eindeutigen Veto einer Großmacht, die ihr Bekenntnis zum Völkerrecht durch ihre Praxis immer wieder Lügen straft. Die offene Verletzung der Genfer Konventionen von 1949 und ihrer Zusatzprotokolle von 1977 hat erst die rechtlose Inhaftierung und Folterung mutmaßlicher Terroristen auf Guantánamo Bay und in den Gefängnissen von Abu Ghraib und Bagram zu einem weltweit kritisierten Skandal gemacht.4 Hinter diesen Abnormitäten werden in den Medien die täglichen Verletzungen der Genfer Regeln durch die amerikanischen und britischen Truppen offensichtlich zur Normalität des Besatzungsalltags gerechnet, ohne sich über die Grenzen und Pflichten der Besatzung Rechenschaft abzulegen.5 Die Reaktion der Verantwortlichen Bush, Rumsfeld und Cheney sowie des aktuellen Chefs der CIA, John Brennan, auf den Bericht des Kongresses zeigen weder eine Einsicht in die Illegalität ihrer Praxis, noch lassen sie eine radikale Umkehr in der Zukunft erwarten. Dieselbe Gewöhnung hat sich auch bei der systematischen Missachtung der Genfer Konventionen und Protokolle zu Palästina eingestellt, deren faktische Negation seit Jahrzehnten fester Bestandteil der israelischen Besatzungspolitik ist. Sie wird nur durch die blinde Unterstützung seitens der US-Administration und das Wegsehen aller EU-Staaten möglich. Palästina ist der Name für ein Territorium, in dem das Völkerrecht faktisch keine Geltung mehr hat. Wer die Abspaltung der Krim als Verstoß gegen das Völkerrecht mit Sanktionen belegt, darf die bald fünfzigjährige völkerrechtswidrige Besatzung Palästinas mit ihren permanenten Verletzungen der Menschenrechte und des Völkerrechts nicht dulden – es sei denn um den Preis des Verlusts jeglicher Glaubwürdigkeit.
Wozu taugen die Staaten und ihre Regierungen – das ist die Frage
Wir stehen vor einem Paradox: Nach über 50 Jahren der Beratungen ist es den Vereinten Nationen gelungen, ein Statut vorzulegen, welches die Nürnberger Prinzipien in ein internationales Strafrecht verwandelt hat, mit dem Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord geahndet und die Täter zur Verantwortung gezogen werden können. Seit 2002 steht in Den Haag ein internationaler Strafgerichtshof für die Verhandlung dieser Verbrechen zur Verfügung. Er arbeitet, aber bis heute hat er ausschließlich gegen Täter aus Afrika verhandelt. Als wenn es auf den Kriegsschauplätzen von Afghanistan, Irak, Libyen und Gaza keine Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit der amerikanischen, englischen, französischen, deutschen und israelischen Truppen und ihrer politischen Führung gegeben hätte. Zwar haben die USA und Israel sich nicht der Rechtsprechung des Gerichtshofes unterworfen. Das verhindert jedoch nicht eine Anklage gegen Täter aus diesen Ländern, so wie die Anklagebehörde nicht gehindert war, einen Haftbefehl gegen den noch amtierenden Präsidenten Omar Al-Bashir auszustellen, obwohl auch der Sudan das Statut des Gerichtshofes nicht unterzeichnet und ratifiziert hat. Vergessen ist die Mahnung, die der US-amerikanische Ankläger Jackson am 21. November 1945 in Nürnberg gesprochen hat: „Wir dürfen niemals vergessen, dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden. Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher zu reichen, bedeutet, ihn an unsere eigenen Lippen zu bringen. Wir müssen an unsere Aufgabe mit so viel innerer Überlegenheit und geistiger Unbestechlichkeit herantreten, dass dieser Prozess einmal der Nachwelt als die Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen möge.“6 Diese Unbestechlichkeit fehlt bei den heutigen Klägern.
Wozu taugt das Völkerrecht, war die Frage. Genauer müsste diese lauten: Wozu taugen die Staaten und Regierungen, die dieses Völkerrecht geschaffen und erkämpft haben, sich aber weigern, ihr eigenes Recht in der so existenziellen Frage von Krieg und Frieden zu befolgen? Das Recht, auch in seiner Negierung, bleibt immer die Mahnung an die, die es geschaffen haben, der Gradmesser ihres Friedenswillens. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Frage, welche Bedeutung dem Völkerrecht in unserer nationalen Rechtsordnung zukommen soll, eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. In einer denkwürdigen Debatte im Laufe der Beratungen des Parlamentarischen Rates von 1948 sagte damals Carlo Schmid (SPD): „Die einzige wirksame Waffe des ganz Machtlosen ist das Recht, das Völkerrecht. Die Verrechtlichung eines Teiles des Bereichs des Politischen kann die einzige Chance in der Hand des Machtlosen sein, die Macht des Übermächtigen in ihre Grenzen zu zwingen. Selbst die Gesetze eines Drakon, von denen man das Wort ‚drakonisch‘ ableitet, waren ein Fortschritt, denn sie setzten der Macht wenigstens gewisse Grenzen. Die fürchterliche Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V., deren Lektüre uns heute schaudern macht, war einmal ein Fortschritt, denn auch sie setzte der Macht wenigstens gewisse Grenzen. Der Vater des Völkerrechts, Hugo Grotius, hat genau gewusst, was er getan hat. Er hat erkannt, dass es, nachdem es der englischen Übermacht gelungen war, die holländische Flagge fast ganz von den Meeren zu verjagen, nur ein Mittel gab, Hollands Lebensmöglichkeiten zu erhalten, nämlich die Lebensverhältnisse auf der hohen See zu verrechtlichen und gegen das englische mare clausum das mare liberum zu setzen. Die sogenannten kleinen Mächte sind nicht umsonst die großen Pioniere des Völkerrechts gewesen; das hat einen – oft uneingestandenen und unerkannten – politischen Grund. Daher sollten wir Deutsche, gerade weil wir heute so machtlos sind, mit allem Pathos, das uns zu Gebote steht, den Primat des Völkerrechts betonen.“7
Schmids Ansicht setzte sich durch und Art. 25 des Grundgesetzes erhielt den auch gegenwärtig noch gültigen Wortlaut: „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechts. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“ Bis heute liegt es an uns, die Verbindlichkeit dieser Regeln von unserer Regierung einzufordern, um den Schutz der Machtlosen gegen die Expansion der Imperien und ihren Rechtsnihilismus zu stärken.
Aus: Blätter für deutsche und internationale Politik, 05/2015.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
- Vgl. Matthias Gebauer u.a., Immer wieder Kopfschütteln, in: Der Spiegel, 7.3.2015. ↑
- Amitav Gosh, Das Leben in Amerika ist angenehm. Aber kein Modell für alle, in: Die Zeit, 28.4.2005. ↑
- Vgl. Norman Paech, Menschenrechte und Völkerrecht. Chancen für ein Primat des Rechts in der internationalen Politik, in: UTOPIE kreativ 91-92/1998, S. 126 ff. ↑
- Vgl. Gerhard Stuby, Rückkehr des Rechts nach Guantánamo?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/2004, S. 918 ff. ↑
- Zu letzteren vgl. Rüdiger Wolfrum, Genfer Recht und Bagdader Realität, in: FAZ, 28.5.2004, S. 8. ↑
- Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof. Amtliche Sammlung. Nürnberg 1948, Bd. 2, S. 118. ↑
- Rede des Abgeordneten Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat, 8.9.1948, StenBer. S. 70 ff. ↑
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