von Werner Richter
Leider ist immer wieder festzustellen, dass viele Ökonomiediskurse eine eigenartige Standortunschärfe erkennen lassen, die durch ein Gewisses Maß an Konfusion gekennzeichnet ist. Es entsteht der Eindruck, die betreffenden Autoren blickten wie hypnotisiert auf wirtschaftsstrategische Darstellungen aller Art und interpretierten diese, ohne vorher eine prinzipielle Ausgangslage ihrer Gedanken bestimmt zu haben. Unausgesprochen wirkt dabei die Grundthese, der „Kapitalismus“ habe als einzige gesellschaftliche Alternative überlebt, also seine Lebensfähigkeit bewiesen, und sei deshalb nicht mehr zu hinterfragen. Für die Ökonomie als Wissenschaft ist solche Denkungsart etwas dürftig.
Es ist Alfons Markuske zu danken, Eric Hobsbawms Essay-Sammlung „Wie man die Welt verändert“ – vor dessen Abtritt in die Unendlichkeit uns hinterlassen – im Blättchen Nummer 10/2014, gewürdigt zu haben. Es ist diesem Bekenntnis nur zu wünschen, andere Behandlung durch die Rezipienten als üblich, das Heißt: lesen, nicken und ohne Reset zur Tagesordnung zurückkehren, zu erfahren. Üblich, weil die Lawine an Informationen kein Einhalten kennt und kein Besinnen zulässt.
Zu dem, was uns Hobsbawm zur Ökonomie zu sagen hat, neben dem, was Markuske herausfand, ist weiteres zu benennen.
Erstens: Marx verstand, logischerweise muss man sagen, den Sozialismus als eine „im Kern marktlose Gesellschaft“, was im offenen Widerspruch zu fast allen Sozialismus- und auch anderen „linken“ Ökonomietheorien steht, von den „bürgerlichen“ ganz zu schweigen. Aus seiner Sicht ist Kapitalismus „eine […] historisch befristete Art menschlichen Wirtschaftens“. Folglich ist jede Sozialisierungstheorie des Marktes eine nicht auf Marx beruhende. Dieser Widerspruch wird in der Regel ignoriert.
Zweitens: Die Bedeutung von Marx für die moderne Ökonomie ist sein „Universalismus des Denkens“, wie Attali schreibt: „Philosophen vor ihm dachten die Menschheit in ihrer Totalität, doch er war der erste, der die Welt als ein Ganzes begriff, das zugleich politisch, ökonomisch und philosophisch ist.“ Man kann also nicht ökonomische Prozesse, auch keine finanziellen, beschreiben, ohne von der Analyse der grundlegenden ökonomischen und gesellschaftlichen Beziehungen auszugehen. Dies geschieht jedoch permanent in den meisten Überlegungen nicht, denen zufolge der „alte Marx“ nur begrenzt aktuell sei; seine Zeit, die des aufstrebenden Kapitalismus, sei abgelaufen und seine Erkenntnisse würden nur noch indirekt gelten, als quasi historische Reminiszenz wie ein Vaterunser. Zu diesen Marxschen Erkenntnissen zählen dann die über Wert- und Verwertungsprozesse sowie das Kapital in allen Erscheinungsformen und in allen Phasen des Kapitalismus. Löst sich die Theorie jedoch davon, produziert sie Fata Morganen. Die These von Marx, die Überwindung des Kapitalismus werde durch die „Expropriation der Expropriateure“ erfolgen, stehe nicht, so Hobsbawm, auf der Analyse der Funktionsweise des Kapitals und könne deshalb nicht simplifizierend als Beweis der Ungültigkeit dieser Analyse herhalten. Von Hobsbawm wurde diese Marxsche These, wie auch andere, in den Bereich der Irrtümer verwiesen, aber als durchaus verständlich apostrophiert.
Drittens: Marx kam in Auseinandersetzung mit dem sogenannten „utopischen Sozialismus“ zur Überzeugung, dass die „ökonomische Analyse […] im Zentrum der kommunistischen Theorie“ stehen müsse, wobei ökonomische Analyse immer zuerst die der grundlegenden Produktionsverhältnisse, im Kapitalismus also des Kapitalverhältnisses, sein muss. Hobsbawm formuliert es als Aufgabe der Ökonomen, dies in die Gesellschaftstheorie einzubringen und dieser Analyse den gebührenden Platz einzurichten. Nur in diesem Kontext lässt sich Hobsbawms kritiklose Übernahme der üblichen Unterstellung einer „Marxschen Arbeitswertlehre“ – Marx als „letzter“ und „größte[r] ricardianischer Sozialist“ – erklären, was ja in gewisser Hinsicht eingeschränkt stimmt. An anderer Stelle verweist Hobsbawm als „Fremder in der Ökonomie“ eindringlich auf die Zuständigkeit der Fachwissenschaften, der Ökonomie. Dies hat auch hier Geltung und ist als Aufforderung zu verstehen, nicht zuletzt diese Kategorien nochmals zu prüfen.
Viertens: Hobsbawm legt nahe, dass alle Werke von Marx nur in ihrer historischen Entstehung zu sehen sind. Es sei unzulässig, zum Beispiel Aussagen aus dem „Kapital“ schematisch denen des „Manifestes“ entgegenzustellen und daraus Irrtümer, die es unzweifelhaft gab, zu konstruieren. Dies bleibt der „bürgerlichen“ Theorie unbenommen, hat aber in der „sozialistischen“ Theorie nichts zu suchen, sonst erzeugt man zwanghaft nur Vulgär-Marxismus. Sehr interessant sind die Hinweise von Hobsbawm, die Analyse des „Kapitals“ stärker mit denen der „Grundrisse“ zu verbinden, was bis heute eher vernachlässigt wird. Dort sei „Marx‘ Denken in seinem ganzen Reichtum“ zu finden. Dies ist der Verweis auf die allgemeinen Aussagen zur menschlichen Gesellschaft, zu denen auch das üblicherweise als „Einleitung“ zum „Kapital“ überlesene erste Kapitel von dessen Band eins gehört. Ohne diese Basis lässt sich keine Marx gerecht werdende ökonomische Theorie entwickeln. Das ist aber leider die Regel in der linken Ökonomiediskussion.
Nimmt man bisherige alternative Wirtschaftstheorien und Konzepte – zum Beispiel Bahros Überlegungen und darauf folgende – unter die Lupe, fällt zunächst das hintergründige Wunschdenken nach einer besseren Gesellschaft auf. Das ist verständlich, muss aber in seiner Loslösung von den real existierenden gesellschaftlichen Verhältnissen mit ihren objektiven Zwängen begriffen werden und damit als zur Theoriebildung nicht geeignet. Fast alle diese idealistischen Theorien endeten nach einer großen Schleife von Phantasien in der stillschweigenden Akzeptanz kapitalistischer oder zumindest marktwirtschaftlicher Grundstrukturen. Drastisch deutlich wird dieser Vorgang in den krampfhaften Bemühungen der Grünen, innerhalb des Systems doch noch zu nachhaltigen Entwicklungen der Gesellschaft zu kommen.
Realistische alternative Theorie kann nur von den Wurzeln her angegangen werden. Natürlich erzeugt ein Reset zu den Wurzeln der Marxschen Wirtschaftstheorie mit ihrem gesamtgesellschaftlichen Ansatz unter Umständen ein Gefühl bisheriger Fehlinterpretation, das keineswegs angenehm ist Wer gesteht schon gern ein, sich bisher vergaloppiert zu haben. Ja, kann sein, wir fürchten, ein Sumpf ziehe am Gebirge hin und verpeste all das schon Errungene. Aber Übergänge von angehäufter Quantität in neue Qualität vollziehen sich auch in der theoretischen Erkenntnis nun mal schmerzhaft. Und das erwähnte Reset ist eine Vorbedingung dafür.
Thesen von Heinrich Harbach zum Kern dieser Fragen, der Werttheorie, findet man in seinem Buch „Wirtschaft ohne Mark“. Auch auf der Website www.wirtschaftstheorie-forum.de sind sie zu finden und bieten allen Interessierten Gelegenheit zur Teilnahme an der Diskussion.
Schlagwörter: Eric Hobsbawm, Heinrich Harbach, Marx, Ökonomie, Werner Richter, Werttheorie