von Mathias Iven
Über Jahrhunderte hinweg galt der Brief als das Verständigungsmittel schlechthin. Heute, in den Zeiten der elektronischen Post, sind es meist nur noch Werbesendungen oder offizielle Dokumente, die den Briefkasten füllen. Der handgeschriebene Brief, so scheint es, ist zum Aussterben verurteilt. Zwar hütet der eine oder andere Empfänger dieses oder jenes Schriftstück, jedoch: „Ein so unermeßlich reiches Quellenreservoir, wie es der mentalitäts- und alltagsgeschichtlichen Forschung mit den ungedruckt überkommenen privaten Briefwechseln der letzten drei oder vier Jahrhunderte verfügbar ist, wird für künftige Zeiten kaum mehr existieren.“ So sieht es nicht nur der international bekannte und hochgeehrte Germanist Albrecht Schöne, der sich in seinem jüngsten Buch ausschließlich mit der Korrespondenz von Goethe befasst.
Der älteste erhaltene Brief Goethes trägt das Datum vom 23. Mai 1764. Adressat war der sechzehnjährige Ludwig Ysenburg von Buri, der ein kleines literarisches Kränzchen leitete, in das Goethe Eingang suchte. Doch seine Zeilen irritierten den Empfänger offenbar mehr, als dass sie seinem Anliegen hilfreich waren. Über Wochen wurde er hingehalten, am Ende scheiterte seine Bewerbung. – Fast sieben Jahrzehnte später: „Ich habe von Goethe einen unendlich merkwürdigen Brief bekommen […]“. Wilhelm von Humboldt war ratlos, doch das „Merkwürdige“ ließ sich nicht mehr aufklären. Er hielt Goethes letzten Brief in der Hand, geschrieben am 17. März 1832, fünf Tage vor dessen Tod.
Aus den rund 15.000 überlieferten, an mehr als 1.700 Adressaten gerichteten Schreiben hat Schöne exemplarisch neun Briefe ausgewählt, die von ihm vor allem unter dem Aspekt des sprachlichen Kunstwerks betrachtet werden. Doch keine Angst, dass Buch ist nicht nur für Literaturwissenschaftler oder Germanisten äußerst interessant, liefert doch die Aneinanderreihung dieser wenigen Texte und der dazugehörigen Fallstudien ein biographisches Ganzes der besonderen Art.
Seinen Briefstudien hat Albrecht Schöne zudem drei sehr erhellende Exkurse zur Seite gestellt. Zunächst beleuchtet er die Weimarer Postverhältnisse, die wesentlich durch den gedruckt vorliegenden Post-Bericht bestimmt wurden. Dieser gab Auskunft „über den Abgang und Ankunft der reitenden und ordinären fahrenden Posten in Weimar, ingleichen wenn die Expedition zur Annahme der Briefe, Gelder und Päckereyen jeden Tag geöffnet und geschlossen wird“. Sich diesem Diktat unterwerfend, hatte auch Goethe seine Korrespondenz nach den „Brieftagen“ zu richten, denn: Reguläre Briefkästen wurden in Weimar erst nach seinem Tod aufgestellt. Eine ganz andere Frage war in diesem Zusammenhang die nach den Portokosten. 1816 legte Goethe der Weimarer Finanzbehörde ein Gesuch vor, in dem er sich darauf berief, „daß die Mitglieder des StaatsMinisteriums so wie ihre Referendarien als postfrey erklärt werden, und ich darf um so mehr hoffen, daß diese Gunst auch auf mich erstreckt werde“. Dem Antrag wurde stattgegeben und so hatte der Steuerzahler zukünftig für Goethes Schriftverkehr aufzukommen.
Dass Goethe mit Federkiel und Tinte nicht sehr gut zurechtkam und lieber zum Bleistift griff, ist wohl nur den wenigsten seiner Verehrer bekannt. Oft genug kam es vor, so ist es in „Dichtung und Wahrheit“ nachzulesen, „daß das Schnarren und Spritzen der Feder [ihn] aus [seinem] nachtwandlerischen Dichten aufweckte, [ihn] zerstreute und ein kleines Produkt in der Geburt erstickte“. Zum Glück gab es Schreiber, denen man seine Gedanken – ob dienstlich oder privat – diktieren konnte. Wie solch ein Diktat, das manches Mal mit mehreren Korrekturdurchgängen einherging, ablief und – nicht zu vergessen – welche Anrede man wählte, erläutert Schöne im zweiten und dritten Exkurs. Dabei wird unter anderem gezeigt, welche Rolle dem Diktat als Teil des von Goethe beabsichtigten „Briefgesprächs“ zukam. „Wenn ich im Zimmer auf und abgehe“, schrieb er im Oktober 1808, „mich mit entfernten Freunden laut unterhalten kann und eine vertraute Feder meine Worte auffängt; so kann etwas in die Ferne gelangen.“
Im Jahre 1805 hat Goethe verkündet: „Briefe gehören unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann“. Albrecht Schöne macht uns das mit seinem Buch einmal mehr bewusst.
Albrecht Schöne: Der Briefschreiber Goethe, Verlag C.H. Beck, München 2015, 541 Seiten, 29,95 Euro.
Schlagwörter: Albrecht Schöne, Goethe, Mathias Iven