18. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2015

Freundlichkeit und Toleranz

von Heino Bosselmann

Ideologiefreie Zeiten gelten als friedvoll und in Bezug auf das Bewusstsein als ausgereift und erwachsen. Nicht gerade als Ende der Geschichte, aber als Stadium, in dem die großen Lehren aus vorangegangenen verheerenden Konfrontationen endlich gezogen wurden – aus dem Kalten Krieg und seinem Ausgang im großen Sieg „des Westens“ über das poststalinistische Weltsystem von autoritärer Vormundschaft und planwirtschaftlichem Mangel. Ideologie wird als böses Unwort aufgefasst; andererseits fehlen – im etymologisch verstanden Begriffszusammenhang (ἰδέα, λόγος) – die großen Ideen. Es heißt, sie sind gefährlich und tendenziell totalitär. An ihre Stelle treten laue Surrogate in Form staatlich alimentierter „Initiativen“ zu Demokratie und Menschlichkeit, mit denen man alles und nichts verbinden kann.
Abgesehen vom neuerlichen Globalkonflikt mit dem Islamismus – als einzig nennenswertem Gegengewicht zum „transatlantischen Bündnis“ –, einigen Querelen mit asiatischer Konkurrenz und Dramoletten um das russische Sicherheitsbedürfnis herrscht Frieden. Europa versuchte sein großes „Projekt“ zu realisieren, eine wirtschaftlich-finanzielle Gleichschaltungs-Integration, die als Völkerverständigung gegen den vermeintlich gefährlichen Nationalismus propagiert wurde – ein Vorhaben, das grandios startete, sich aber zwangsläufig schließlich als das erwies, was es gerade nicht sein wollte, als eine kontinentale Spaltung, vermutlich tückischer, als es die je gab. Überall reitet die Troika. Und draußen warten die Flüchtlinge.
Die sich primär weltwirtschaftlich verstehende Politik des Europismus und Globalismus führte zu einem Dämmerzustand des demokratischen Geschäfts. An Landtagswahlen nimmt etwa noch die Hälfte der Bürger teil. Man kann damit leben, ist nur verwundert über die hohe Ernsthaftigkeit der Analysten, für die die Wahlbeteiligung keine Rolle spielt. Aber de jure sind Gewaltenteilung und Bürgerrechte wohl stabil, selbst wenn sie immer weniger lebendig genutzt werden, abgesehen davon, dass sich die längst global agierenden Wirtschafts- und Finanzwelt nicht darum schert. Das System trägt, besser es erträgt sich selbst. Noch.
Unter jungen Erwachsenen begegnen mir vor allem zwei Gruppen. Die einen verstehen sich als „Suchende“ – ein Wort, das mir bei Zwanzig-, Dreißig-, Vierzigjährigen nicht gefällt. Früher waren das Leute, die allzu lange Hermann Hesse lasen; heute sind sie auf dem Weg nach sonstwo – möglichst bis Neuseeland, also auf die andere Seite der Welt, zu den Antipoden, wo schon immer Utopia vermutet wurde. Oder nach Nepal, weil sie dort eine Art Geistheilung erwarten. Soziales Jahr, Bergwaldprojekt, Assistenz in afrikanischen Kinderkliniken – dergleichen gehört für die „Suchenden“ zum Programm. Vieles an der Welt gefällt ihnen nicht, aber sie sind zu distinguiert und zu sanftmütig-freundlich, um sich darüber mit Verve aufzuregen. Nur nicht etwa ideologisch werden! Vielleicht doch lieber noch ein vierwöchiger Klosteraufenthalt oder der Jacobsweg oder eine prophylaktische Kur zur psychosomatischen Stabilisierung, da in den rabiaten Büros das Burn-out-Syndrom droht.
Die anderen sind Pragmatiker. Motto: Ich bin doch nicht blöd! Der Zaster muss stimmen, damit man einen Status erreichen kann, den die Konsumgesellschaft von Eigenheim in einer Stadtrandsiedlung über einen mindestens 1er-BMW bis zum Apple-Shop jedem verheißt. Abschlüsse realisieren, Zertifikate einheimsen, Consultant sein, für Wachstum sorgen. Tatsachenmensch sein und sich konkurrenzfähig durchsetzen.
Nur begegnet mir in der ersten wie zweiten Gruppe ein Phänomen, das mich argwöhnisch stimmt – Leidenschaftslosigkeit nämlich. Alle Amplituden so flach, viel Schulterzucken, eher die Kopie elterlicher Entwürfe als das Wagnis des Neuen. Fragt man etwa Abiturienten nach Plänen für die eigene Zukunft, so antworten sie: Ach, weiß nicht so recht. Und man hilft gleich: Ins Ausland? Neuseeland? Soziales Jahr? Bergwaldprojekt? Afrika retten? – Ja, so was vielleicht. Das wäre doch cool.
Während die Praktiker sich stromlinienförmig in die Reproduktionskreisläufe der Verwertung einordnen. Die „Gesellschaft“ (über Grill- und Golfveranstaltungen hinaus), die Demokratie als große Verhandlung öffentlicher Angelegenheiten, das geschichtliche Herkommen, die Nation gar, das, was früher Identität ausmachte und für die Idee vom eigenen Selbst immer neu geistig inspirierte, wurde zu einer terra incognita! Freiheit ja – aber über die Kreditkarte hinaus wofür?
Sollte man darin die Symptome des großen Friedens oder die Zeichen der Gefahr erkennen? Das 1976 vor anderem Hintergrund formulierte Diktum des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde könnte man heute für einen neueren Zusammenhang adaptieren:
Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
Mit Blick auf die Gegenwart: Inwiefern sind Politik und offene Gesellschaft überhaupt noch in der Lage, Heranwachsende für Werte, Rechte und Pflichten aufzuschließen, die denen im Zuge eines utilitaristisch durchgerechneten Hedonismus einerlei sind, weil sie selbst nie in politischen Konflikten standen und überdies zur trügerischen Freundlichkeit eines auf Laissez-faire reduzierten Toleranzgedankens erzogen wurden? Da ist die Bildung gefordert, heißt es gleich. Aber gerade sie richtet trotz der vermeintlich allen Segen verheißenden Ganztagsschule gerade im Politischen wenig aus, insofern sie schon kaum mehr Allgemeinbildung realisiert, sondern sich mit Ziel der „Kompetenzentwicklung“ auf eine Methodenlehre des bloßen Machens beziehungsweise bloßen Meinens beschränkt und ein von kritischer Urteilskraft befreites Menschenbild suggeriert, das zur Stagnationsperiode passen mag, aber kaum konflikttauglich sein dürfte. Wo überhaupt finden sich noch Positionen, die klar umrissen sind und die man mit persönlichem Einsatz verteidigen wollte? Gerade dann, wenn aus des Lebens Spiel Lebensernst würde, worauf mittlerweile deutliche Zeichen des Wirtschaftlichen wie Politischen hindeuten.