von Reinhard Wengierek
Man muss schon sagen: Theaterdirektor Claus Peymann schmäht zwar gern lautstark die Ereigniskultur, versteht es aber dennoch, sie an seinem Haus zu feiern. Mit Robert Wilson und Herbert Grönemeyer und Johann Wolfgang von Goethe und „Faust“-eins und „Faust“-zwei wird für vier Stunden Spieldauer plus einer halben Stunde Pause plus einem Viertelstündchen Premierenbeifall einschließlich Grönemeyer-Gesangseinlage das Berliner Ensemble zum gigantischen Eventschuppen. Ein Mega-Wummer; genauer: ein Mega-Dreier (Wilson, Grönemeyer, Goethe, in dieser Reihenfolge). Macht trotzdem was her, auch wenn wir nach so viel Mega einigermaßen erschöpft waren. Und eingelullt von Herberts süffisant poppigem, gelegentlich auch feste dröhnendem Soundtrack sowie überfüttert von Bobs riesiger Schüssel randvoll mit Feinkost-Bildersalat. Goethe selbst, der von Jutta Ferbers kühn mit dem flotten Rotstift bearbeitete Autor, war da eher der die berühmten Stichworte gebende Souffleur und störte nicht sonderlich mit philosophischem Über- und Unterbau oder Metaphysik und Tragödie bei diesem tollen, mit 800.000 Euro Lottomitteln staatlich gestützten und bis zum Umfallen geprobten Musical-Entertainment auf dem Klassik-Boulevard. Ist immerhin marktkonform, was ja nichts Schlechtes bedeutet.
Auch war es überhaupt nicht schlecht, als vor gut drei Jahrzehnten der texanische Regisseur Robert Wilson mit seinen luftig artifiziellen Bühnenspektakeln, einer völlig neuartigen Synthese von bildender Kunst, Musik und ritualisiertem Spiel – inzwischen längst Praxis im Performancebetrieb –, das Theater aufmischte. Es war eine erfrischende globale Sensation; mittlerweile verfestigt durch eine weltweit und kostspielig agierende Wilson-Factory, die längst immerzu das Gleichartige ausstößt. Im BE beispielsweise produzierte die Wilson-Maschine Brechts „Dreigroschenoper“ (großartig gelungen) und „Peter Pan“ (schön märchenhaft), Büchners „Leonce und Lena“ sowie Shakespeares‘ „Sonette“ – hier erstickte beide Male die kunstvoll-künstliche Form die Inhalte. Wie auch jetzt wieder…
Einmal zwölf mit drei Mal eins ergibt die Zahl 12.111 – derart viele Verse brauchte Goethe für beide Teile seines „schönen Dings“, das er „Faust“ nannte. Peter Stein brachte es anno 2000 komplett zur Expo in Hannover zur Erstaufführung (!) an zwei Tagen in 22 Stunden. Ein singulärer Event! „Faust I+II“ ganz ohne Strich und mit der Meinung des Regisseurs, keine Meinung haben zu müssen. Ganz anders Nicolas Stemann vor ein paar Jahren in Hamburg mit einer spektakulären Revue aus sehr viel Goetheschem Über- und Unterbau sowie ebenso vielen drastischen Bezügen zum Heute. Reichlich Meinung also. Jetzt, bei Robert Wilson, gab es wieder wenig Meinung, dafür umso mehr Strich.
„Im ‚Faust‘ sprudeln alle Quellen der Sprache“, rühmte einst Goethe-Fan Thomas Mann. Im BE tun das bei weitem nicht alle und die übrigen tröpfeln höchstens, derweil das uns altvertraute Bühnenpersonal im rasenden Geschwindmarsch vom Himmel durch die Welt zur Hölle eilt. Doch eben darin offenbart sich das Grundelend dieser von Marionetten, Masken, Puppen, Schatten und Schemen statt von Menschen (oder menschlichen Figuren) bevölkerten Inszenierung: Es gibt keine Fallhöhen! Himmel und Hölle, Verbrechen und Liebe, der strebende Mensch und der verneinende Teufel – alles ein fein, teils auch grandios illustriertes Einerlei. Also kein Drama, schon gar keine Tragödie – so immerhin der Untertitel von Goethes opus magnum. Eher ein raffiniert skizzierter Zitaten-Comic, gegossen in ein fülliges Potpourri süffiger Songs – mal im Chor (zuweilen wie Rammstein dröhnend), mal romantisch volksliedhaft, mal wie Neue Deutsche Welle, mal Ragtime oder Cembalo-Zartheit, mal Rap oder einfach Mitklatsch-Schlager. Das alles ist drin. Ist gefällig und klasse gemacht von einer formidablen Acht-Köpfe-Band und einem großartigen Ensemble, das sich weder um inhaltliche Zusammenhänge noch um dramatische Entwicklungen zu scheren hat. Was die Chose nun nicht eben spannender und schon gleich gar nicht verständlicher macht.
Faustens unstillbare, brutale Gier nach Entgrenzung, sein „ziemlich Eingeteufeltes“ (so Mephisto) bleibt ungespielt. Wie auch sein zunehmendes Grauen über „der Menschheit ganzen Jammer“. Derartiges interessiert die Regie nicht wirklich. Es sei denn, man nähme das permanent grotesk Verpuppte und Blutleere des dauer-demonstrativen Spielgestus‘ als misanthropisches Sinnbild für der Menschheit tödliche Erstarrung oder entsetzlich tumben, ewig bösen Leerlauf. Für einige wenige Inszenierungsmomente mag das schlagend gelten, ansonsten dominieren statt dramatischer Wucht immerzu Slapstick, poetische Possierlichkeiten, zirzensisches Gepiepse, Gegirre, Gehopse und Getänzel – perfekt choreographiert in suggestivem Licht-Design. Dazu viele lustige Scherze, witzige oder bloß alberne Gags und prima zauberkünstlerische Einlagen. Süß und hübsch! Allein Mephisto bekommt mit dem hinreißenden Christopher Nel packende Kontur als bewundernswert agiler, cooler Kerl und sympathisch augenzwinkernder Kumpel von uns allen. Dennoch ist er kein lüsterner Bösewicht, der aashaft die Handlung vorantreibt. Denn: hier gibt es keine Handlung. Faustens Weg (hier sind’s gleich mal vier Fäuste, und Gretchen erscheint im neckischen Trio), Faustens so aufregende, philosophisch wie kriminell grundierte, von Testosteron getriebene Reise durch die alte wie die neue Welt ist halt bloß ein breit getretenes, obendrein ziemlich unerotisches Panoptikum pittoresker Situationen. Das ist nicht unbedingt abendfüllend.
Freilich muss gesagt sein, Goethens unendliches Rauschen und Raunen im antikisch-mythischen Südosten (der Tragödie zweiter Teil) überfordert selbst hartgesottene Philologen. Sogar der Autor hatte Zweifel, dass sein Füllhorn voller „ernster Scherze“ tatsächlich gänzlich über ein Publikum entleert werden sollte. Doch jetzt, im Schnelldurchlauf mit des Füllhorns Resten, die doch immerhin noch stark symbolisch erzählen vom schönen Traum und schlimmen Wahn der Menschen, da wird aus diesen sprachtollen Resten kein bildmächtiger Mythen-Zirkus. Höchstens eine Revue der Bühnentechnik.
Apropos Finale: Faust und Mephisto hocken zusammen auf einer Biergartenbank – ohne Bier, aber beide mit einem teuflischen Hörnchen auf dem Schädel. Zwei gleichermaßen Gehörnte: Der eine hat die Wette verloren, wird aber dennoch von keinem Engel gerettet; Mephisto kann ihn aber auch nicht kriegen, denn Faust ist selbst ein Teufel. Familienbande. Doch singen sie nicht im Duett „alles Teuflische zieht uns hinan“. Vielmehr rocken sie gemeinsam mit dem gesamten Ensemble Goethe-korrekt „Alles Weibliche zieht uns hinan“. Warum eigentlich? Die vertrackte Frage bleibt bei Robert Wilson sperrangelweit offen.
Immerhin, man kann dieses „Faust“-Musical ungeniert als familientaugliches Leckerli im sommerlichen Hauptstadt-Unterhaltungsbetrieb konsumieren (14.-16., 26.-28. Juni und als Rausschmeißer zum BE-Saisonfinale vom 9. bis zum 12. Juli). Dann endlich darf sich das in jeglicher Hinsicht so heftig gestresste und dressierte „Faust“-Personal entspannt tummeln am Strand im Sand, in Höllen oder Himmeln. Frohe Ferien!
Schlagwörter: Berliner Ensemble, Faust, Herbert Grönemeyer, Reinhard Wengierek, Robert Wilson