18. Jahrgang | Nummer 11 | 25. Mai 2015

Querbeet (LVI)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Wunderkind, ein Goldkind und ein Findling…

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Er galt als ein Miststück und war ein Genie, er terrorisierte seine Künstler-Family, feierte Sex and Drugs, brachte deutsches Autorenkino und Hollywood in eins, in Seins – und revolutionierte so unser Kino. Und das Theater gleich mit (gerade gegenwärtig adaptieren zahlreiche Bühnen Fassbinder-Filme). Fassbinders Credo: Im Privaten gärt immer auch das Politische. Und in der Grundierung seiner lebensprallen, unverwechselbaren Menschengeschichten mit Gesellschaftlichem, Zeittypischem gelangen die so beklemmend grandiosen Kunstwerke.
Als Rainer Werner Fassbinder 1982 mit nur 37 Jahren starb, hinterließ er 44 Filme und TV-Serien und war weltberühmt. 1969 auf den Berliner Filmfestspielen wurde sein erster Film „Liebe ist kälter als der Tod“ noch ausgepfiffen; kurz vor seinem Tod bekam er von der Berlinale-Jury für „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ den Goldenen Bären. Jetzt, anlässlich seines 70. Geburtstags am 31. Mai, feiert ihn, der mit rasender Energie in den 70er Jahren gleich die ganze (west)deutsche Kulturlandschaft umpflügte, eine groß angelegte Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau.
Das wilde Wunderkind des neuen deutschen Kinos drehe Filme wie andere Leute Zigaretten, schrieb 1975 der Spiegel. Noch besser erfasste die Stuttgarter Zeitung das Wesen dieses Berserkers der Kunst, dieses politisch hellwachen Aufklärers und hypersensiblen Menschenkenners: „Er arbeitet wie andere atmen.“ Beides, das Atmen und das Arbeiten, imaginiert die Gropius-Schau. Natürlich mit jeder Menge Filmausschnitten. Mit einer Kostümshow; darunter atemberaubende Roben, die wirken wie eine Verführung (für Lili Marleen) oder wie eine Panzerung (für Petra von Kant). Dazu schicke Kostüme und Hüte der Wirtschaftswunderzeit (für Maria Braun), rosa Flittchenhaftes für Lola oder eine schnittige Uniform nebst Matrosenkluft aus „Querelle“. Die große Kostümbildnerin Barbara Baum („Ich denke immer in Stoffen.“) beherrscht perfekt die Kunst, die Figuren dem Charakter und ihrer sozialen Repräsentanz gemäß anzuziehen, also ihr Innenleben in die Sprache der Kleidung zu übersetzen.
Sonderlich anrührend sind natürlich die gezeigten Memorabilien; beispielsweise die Lederjacke mit dem knallroten Futter und den acht Reißverschlüssen (RWF war nicht zu denken ohne Macho-Leder, hautenge Hosen, weit aufgerissene Hemden – und stets hing die Fluppe im Mundwinkel). Oder das FC-Bayern-Trikot mit der 8 auf dem Rücken (der Spieler-Nummer von Paul Breitner), sein silbernes Rennrad namens „Franzl II“, die Schreibmaschine „Triumph“, die Filmkritik für seine Aufnahmeprüfung 1966 an der Berliner Filmhochschule zu Godards „Vive sa vie“, in der der damals 21-Jährige das von Montaigne stammende und ihn offensichtlich bewegende Filmmotto umspielt: „Man muss sich den anderen hingeben und sich selbst treu bleiben.“ Und neben diesem Text unter Glas in der Vitrine der Ablehnungsbescheid – so viel zum Gespür von Kunsthochschulen für Talente. Unweit davon – Zeitsprung auf gut ein Jahrzehnt später – das Aufnahmegerät, in das RWF das Script der 78-Stunden-Fernsehserie (14 Folgen) nach Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ diktierte, fehlerfrei und immer nachts. Tags darauf tippte es seine Mutter in die Maschine (sechs Wochen Arbeit für den „lieben Rainer“). Und schließlich der Flipperautomat aus der Münchner Wohnung, in der RWF am 10. Juni 1982 durch das Zuviel von Chemie im Leib an Herzversagen starb.
Selbstredend vermittelt die Schau auch Einblicke in Fassbinders Arbeitsweise. Ein schier sagenhaftes Beispiel: Das A4-Blatt mit dem kompletten Drehplan über 30 Tage mit 27 Schauspielern, akribisch von Hand geschrieben in einer Tabelle – der animalische Chaot im (privaten) Alltagsleben war zugleich perfekt strukturiert und ein konzentrierter Manager seiner Kunst.

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Constanze Behrends ist Mitbegründerin der allzeit heftig akklamierten Berlin-Weddinger Volksbühne „Prime Time Theater“ (seit 2003) und Erfinderin der allzeit für volles Haus sorgenden komisch-grotesken Sitcom „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ (gegenwärtig läuft Folge 97 „Sex and the Wedding“). Frau Constanze, diese für ihre blonde Schönheit, ihre superlangen Beine sowie ihren messerscharfen Grips und lebensechten, sarkastischen, tabulosen Humor weit über die Stadtbezirksgrenzen hinaus berühmte Autorin, die bekam jetzt den „Jürgen Bansemer & Ute Nyssen Dramatikerpreis 2015“, dotiert mit 15.000 Euro; alljährlich in Köln vergeben und privat finanziert.
Die 1981 in Lutherstadt Wittenberg Geborene (auch Luther schaute dem Volk genau aufs Maul), diese großartige Komödiantin habe, so die Jury, nach dem Schauspielstudium an der Charlottenburger Theaterwerkstatt „mit ungebremstem Sprachwitz und einem Mix aus Comic, Soap, Kiez ein erzkomisches Poptheater geschaffen“. Und der Refrain für den Trailer der Show, der geht so: „Wedding forever / Let’s come together / Mitte is Schitte / Prenzlberg is Petting / Real sex is only Wedding…” – So geht denn da die Post ab. Muss der sexy Vordenkerin erst mal jemand nachmachen. Ich werfe begeistert den Lorbeerkranz!

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An den vier Wänden die Stühle fürs Publikum, und in der Mitte vom Studio „Pavillon“ auf dem Hof des Berliner Ensembles ein bizarres Holzgebirge ‑ wie die aufgetürmten Eisschollen in dem berühmten Friedrich-Gemälde von den geborstenen Träumen. Und aus diesem scharfkantigen, geheimnisvoll illuminierten Chaos, das, wir erkennen es sofort, aus lauter Tischen besteht, also aus einem zivilisatorischen Grundelement, das nur gerichtet und geordnet sein will (eine so simple wie treffliche Idee des großen Bühnenbildners Johannes Schütz), daraus schält sich – qualvolle Geburt – die mythische Figur des Kaspar Hauser, ein Findling, ein Urtyp des von jeglicher Zivilisation unberührten Menschen (Jörg Thieme halbnackt, halb verwahrlost mit Wollpudel gleich einer Krone auf dem gequälten Haupt).
Vor fast einem Halbjahrhundert schrieb Peter Handke sein in 65 Etüden gegliedertes Sprachkunstwerk „Kaspar“; Claus Peymann besorgte die Uraufführung 1968 im Frankfurter Theater am Turm; und für beide, Handke (damals 25) und Peymann (damals 30), begann damit der unaufhaltsame Aufstieg in den Ruhm. Lang ist’s her, und doch hat diese virtuose Sprechpartitur für einen Solisten und fünf sogenannte Einsprecher nichts an ihrem Glanz, ihrem Oberflächengefunkel sowie ihrem philosophischen Tiefsinn eingebüßt. Dabei geht es dem Autor nicht um die historisch verbürgte Geschichte des 1828 in Nürnberg aufgefundenen „Wilden“, der an der Gesellschaft scheitert und schließlich ermordet wird. Vielmehr spielt Handke variantenreich durch, wie das geht, prallen Urwüchsigkeit und der Ruf (oder die Sehnsucht) nach Ordnung aufeinander. Die fünf „Einsager“ werfen gleich einem Spielball dem Kaspar die Stichworte, Sprichworte, die Aufrufe, Zurufe und Befehle zu zum Aufbau von Norm und Ordnung – und Kaspar, am Ende korrekt in Hemd und Anzug, reagiert genervt, aufmüpfig, zuweilen ironisch, schlau, aber auch folgsam. Es geht ums Menschwerden und Menschsein durch Sprache, durch Begrifflichkeit, geht um Sozialisation und Gemeinschaft, ums Lernen und Erziehen, aber auch um Zurichtung, Drill, Manipulation. Am Ende sind alle Tische ordnungsgerecht aufgestellt zu einer großen rechteckigen Tafel, auf der man tanzen und tollen kann, an der man sitzen, trinken und debattieren, aber auch Gericht halten kann.
Handkes „Kaspar“-Stück gleicht mit seinen „Etüden“ einer Nummernrevue über den selbstbewussten, kritischen oder auch ideologischen Gebrauch von Sprache zum wie auch immer gearteten Denken. „Kaspar“ ist aber auch ein ganz und gar undogmatisches Denkspiel (obgleich 68 entstanden oder gerade deshalb) über das Ambivalente der Zivilisation, ihren Fluch und ihren Segen. Der fabelhafte Regisseur Sebastian Sommer (wir denken an seine köstliche Brecht-Inszenierung „Hans im Glück“, auch im BE-Pavillon) inszenierte die delikate Petitesse mit Charme und Eleganz und mit viel Sinn für die Feinheiten der Sprache, für Wortwitz und Pointen, Stimmungs- und Tempowechsel. Geistreiche Unterhaltung.