18. Jahrgang | Nummer 9 | 27. April 2015

Büchner und Leander Haußmanns wilde Inszenierung

von Ulrike Krenzlin

Georg Büchners (1813 Darmstadt – 1837 Zürich) Schaffen mit „Dantons Tod“, „Leonce und Lena“, dem „Hessischen Landboten“ und „Woyzeck“ (Nachlass) ist nicht umfangreich, doch unerhört kühn. In dem Maß, wie der angesehene promovierte Mediziner in die neue Rolle des freien Schriftstellers schlüpfte, bekam die Gesellschaft seine Provokationen zu spüren. Bekämpft wurden sie mit polizeilicher Gewalt. Sein kurzes Leben war wild. Der Mittellose floh von einem Ort zum anderen. In Zürich ereilte ihn 1837 der Typhus.
Mit Büchner verabschiedet sich die deutsche Dramatik vom Glanz der literarischen Spätklassik und Romantik. Büchners Werk ebnet den Weg ins 20. Jahrhundert. Allerdings ist „Woyzeck“ erst 1875 gedruckt und 1913 in München uraufgeführt worden.
Was war das Neue? Büchner begibt sich in die Niederungen des Alltags. Er verbindet eine banale Mordgeschichte aus der Leipziger Presse mit eigenen Erfahrungen aus seiner Studienzeit an der Gießener Medizinischen Fakultät. Knallharte Lebensrealität und erschreckende Versuche an Menschen führt er 1836 in sein dramatisches Werk ein. Außerdem brüskierte der hessische Dialekt.
Alban Berg entzündete sich an diesem Stoff. Mit „Wozzeck“ gelang ihm eine überzeugende moderne Oper.

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Im Berliner Ensemble inszeniert Haußmann „Woyzeck“. Haußmann holt Büchners Provokationen aus dem Werk heraus und stellt sie in die Gegenwart. Das geschieht mit größter Leichtigkeit. Man weiß nicht immer, ob es gerade um Theater oder Film geht. Grenzen bleiben unscharf. Das entspricht genau der Wendigkeit von Leander Haußmann, dem erfolgreichen, aber auch skandalumwitterten Schauspieler, Theater- und Filmregisseur. Ruckartig wechselt er von einer Gattung in die andere. Wenn andernorts die Personage von „Woyzeck“ reduziert wird und im Kammerspiel einfriert, geht es bei Haußmann umgekehrt zu. Woyzeck (Peter Miklusz) ist konfrontiert mit seinem Regiment, für das auf der Bühne 35 Soldaten aufmarschieren, exerzieren, sich gegenseitig quälen.
Die Soldatenausbildung von Rainer Clemens wirkt umwerfend. Das ganze Elend, in das Woyzeck geworfen ist, das sich zwischen Befehlsnotstand, Strafaktionen, im Feldlager, auf dem Exerzierplatz und beim Arzt allmählich hochschaukelt und in die Katastrophe führt, geht hier unter die Haut wie nie zuvor.
Nicht minder die Liebesgeschichte zwischen Marie (Johanna Griebel) und Woyzeck. Die Unterschiede der beiden Charaktere erzeugen beim Zuschauer vibrierende Emotionen: Auch Marie läuft ihrem Unglück entgegen. Mit ihrem Credo „Es ist alles eins.“ hat die Schöne längst alle Grenzen hinter sich gelassen. Das Kind mit ihrem Liebhaber hält sie nicht davon ab, ihrer Lust auf schöne Soldaten nachzugehen. Dem Geschmeide vom Tambourmajor erliegt sie genauso wie ehemals Gretchen dem Dr. Faust.
Jedoch – ohne Lebensart und Geld ist sie zum Scheitern verurteilt. Damals wie heute. Denn bei Leander Haußmann tritt sie als moderne Frau auf. Ihr Versagen liegt vor allem in provokanter Untreue.
Auch Woyzeck hat keine Moral. Bürgerlich kann nur leben, sagte er, wer dazu das Geld habe. So sehen es alle, auch der Hauptmann (Boris Jacoby). Woyzeck lässt sich gegen Geld auf medizinische Experimente an seinem Körper ein. Drei Monate lebt er nur von Erbsen mit der Folge des Kräfteverlustes und heraus brechenden Halluzinationen
Woyzeck kann sich seine Situation zwar klarer machen als Marie. Doch das schützt ihn nicht davor, von den Regimentssoldaten misshandelt zu werden. Von ihnen und vor allem von Marie preisgegeben, kauft er für sein letztes Geld ein Messer, mit dem er die untreue Geliebte in einem Wahnsinnsakt ersticht.

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Der historische Fall, der Büchners Drama zugrunde liegt, ereignete sich am 3. Juni 1821 in Leipzig. Das Gerichtsprotokoll sagt aus: Der 41-jährige Johann Christian Woyzeck stach in einem Leipziger Treppenhaus abends halb 10 Uhr mit einer abgebrochenen Degenklinge sieben Mal auf seine Geliebte ein. Den Mord gestand er reuelos mit den Worten: „Gott gebe nur, dass sie tot ist, sie hat es um mich verdient!“. Die 46-jährige Johanna Christiane Woost hatte Woyzeck mit Soldaten hintergangen.
Der Eifersüchtige war arbeitslos.
Daher konnte er sie nicht heiraten.
Der Mörder wurde auf dem Markplatz zu Leipzig mit dem Schwert hingerichtet.