18. Jahrgang | Nummer 9 | 27. April 2015

Querbeet (LV)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein fader und ein flotter Dreier, dazwischen eine Erschütterung …

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Was für ein Fest hätte das werden können an Berlins Deutschem Theater. Oder vielmehr: hätte es werden müssen! Drei Mal Shakespeare – „Macbeth“, „Romeo und Julia“ sowie „Was ihr wollt“ –, das sind drei Monolithe des Welttheaters, aufregend und randvoll mit Weisheiten, Wahrheiten und Rätseln über uns Menschen, unsere Höhenflüge, Höllenstürze, Irrungen und Wirrungen. Und voller Figuren – strotzend vor Saft und Kraft oder melancholisch entrückt dahin wandelnd; Delikatessen für Schauspieler.
Das DT hat sie; hat für derartige Aufgaben Geeignete idealerweise in rauen Mengen: (Nebenbei bemerkt, blüht in diesem reichen Ensemble ein herrlicher Kranz junger Könner.) Zudem verfügt dieses wahrlich generös alimentierte Staatstheater über einen hochmodernen technischen Apparat, den Technik-Künstler (im Verein mit ebensolchen Werkstatt-Künstlern) bravourös auf Hochtouren zu bringen imstande sind. Unter solch Voraussetzungen müsste ein Riesenprojekt wie dieser Shakespeare-Dreier der Knaller der Saison sein. Müsste! Doch das DT bringt das Kunststück zuwege, von den besagten Höhenflügen und Höllenstürzen des phantastischen Figurenpersonals nicht viel spüren zu lassen. Das Riesenprojekt versackte in der Verzwergung, trotz aller Kunst- und Technikanstrengung, trotz eines Überangebots an Talent.
Wie kann das sein? Ich denke mal, es ist der Über-Ehrgeiz der Regisseure, der immer wieder sonderlich in der Hauptstadt und erst recht an diesem von überall genau beäugten Haus zu beobachten ist. Und damit einhergehend die vornehme Zurückhaltung dramaturgischer Eingriffnahme. Dabei ist Regisseur Stefan Pucher (Jahrgang 1965, „Was ihr wollt“) eigentlich längst ein alter Hase; trotzdem machte er aus dem philosophisch-märchenhaften Verwechslungsspiel bloß einen grellen Seifenopernulk. Christopher Rüping hingegen (Jahrgang 1985, „Romeo und Julia“) läuft in der Branche unter Shooting-Superstar. Und auch Tilmann Köhler (Jahrgang 1979, „Macbeth“), obgleich andernorts längst schwer erfolgreich, geht noch durch als Nachwuchs der Hochbegabten. Zwar offenbaren beide Jungs (und in Maßen Herr Pucher) in diversen Details viel Fantasie und Können, trauen sich aber nicht an die Größe Shakespeares, mogeln sich am Himmlischen wie Höllischen vorbei und bleiben verdammt unterkomplex.
So dürfen denn Macbeth und seine Lady (Ulrich Matthes, Maren Eggert) nur die freilich originelle Studie eines sich völlig fremden, einander kalten Ehepaares liefern (nix da „von höchster Euphorie und völligem Absturz“, wie Matthes in einem Interview behauptete). Das übrige vielköpfige Personal übernimmt andeutungsweise ein Fünf-Männer-Kollektiv, das sich in kraftvoller Choreographie austoben darf – der Kontrast zur Statik des hohen Paars.
Regie-Heißsporn Rüping meint, die spätpubertäre Pose des jungen Wilden geben zu müssen, indem er die tragische Lovestory der beiden Teenager aus Verona total zerschnippelt und die Schnipsel dann kaum verständlich wieder neu zusammenflickt. Das hinreißend Schöne und grausam Schreckliche ironisch verwurstet zum Kunstblut-Comic voller Turnübungen und mal opernhafter, mal rockiger Einlagen. Ein mit Ironie und witzigem Blödsinn gewürzter Bildchensalat, keine wirkmächtigen Bilder. Da wird rasend durchexerziert, was im Kochbuch des modisch aktuellen Regisseurstheaters so alles drinsteht. Die wunderbar spielerischen Fähigkeiten des blutjungen Ensembles kommen kaum zum Tragen – es muss ja immerzu performen. Und das bei aller gelegentlichen Virtuosität und den seltenen Momenten keuchenden Innehaltens oft auch überdeutlich ausgeleiert. Schließlich gilt für alle drei Shakespeare-Regisseure: Verschwitztes, erschreckend zielloses Herumkraxeln an der Größe ihrer Aufgabe, durchsetzt mit schweren Abstürzen. Man schaut dem gern bunten Treiben teils amüsiert, teils befremdet und höchstens für Momente gepackt zu (etwa bei den Monologen von Matthes‘ Macbeth oder denen der Julia mit Wiebke Mollenhauer). Und immer wieder schielt man genervt auf die Uhr bei diesem peinlich zu kurz geratenen Shakespeare-Dreisprung.

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Hätten zum Beispiel Botticelli, Caravaggio oder Rubens gewisse Großformate bloß ein bisschen reduziert, würden sie noch heute im Berliner Bode-Museum hängen. Doch so, wie sie nun mal waren, passten sie nicht in die Förderkörbe vom thüringischen Salzbergwerk Kaiseroda, in deren Tiefen Anfang der 1940er Jahre ein Großteil des Museumsbestands „kriegsbedingt“ ausgelagert wurde. So kamen denn die sperrigen Spitzenkunstwerke zusammen mit massenhaft anderen Preziosen in den riesigen Flakbunker im Berliner Stadtteil Friedrichshain. Dort überstanden sie zwar sämtliche Bombardements. Doch nur wenige Tage nach Kapitulation des Hitler-Staats brach in dem mit Weltklassekunst vollgestopften Betonverließ ein Großbrand aus. Botticelli, Caravaggio, Rubens und Kollegen verfeuert – insgesamt 434 Gemälde. Doch jetzt sind einige davon, wie Phönix aus der Asche und unter fototechnischer Beihilfe (Fotoplatten aus dem Archiv), wieder auferstanden. Als Schwarz-Weiß-Reproduktionen hängen sie, rahmenlos, aber im Originalformat wieder an der Wand. In der Sonderausstellung „Das verschwundene Museum. Die Berliner Skulpturen- und Gemäldesammlungen siebzig Jahre nach Kriegsende“.
Es ist eine faszinierende, wenngleich auch höchst traurige Schau. Sie imaginiert noch einmal in einem so grandiosen wie schmerzlichen Aufrauschen, was nicht mehr da ist (allein ein Drittel der Skulpturensammlung), sie offenbart erschütternd die Leerstellen in der Kunst- und Sammlungsgeschichte dieses inzwischen herrlich wieder hergerichteten Museums an der Spree.
Ein makabres Kuriosum: Das Repro von Botticellis „Maria mit dem Kind und Leuchter tragenden Engeln” hat als einziges einen pompösen Goldrahmen. Der überstand den Krieg, nicht aber das Werk, für das er einst hergestellt wurde. Und wir beugen uns über die Reste der zu Kalk verbrannten Marmorskulpturen – daneben aber strahlen die Gipsabgüsse der verlorenen Originale. Dazu gibt es einen höchst anschaulich an signifikanten Beispielen und mit vielen Materialproben dargestellten Diskurs über Problemlösungen bei der Restaurierung beschädigter Kunstwerke. Sehr lehrreich.
Nach der Kapitulation Hitler-Deutschlands transportierten die Sieger massenhaft Kunstgut in die USA und UdSSR. Stalin plante, damit ein Weltkunstmuseum einzurichten; was alsbald fallen gelassen wurde. Die Amerikaner veranstalteten in ihren Metropolen die ersten „Blockbuster“-Exhibitions mit Kunstgut aus Berliner Museen; ähnlich die Russen. Beide Staaten gaben die Schätze Ende der 1950er Jahre zurück – auch davon erzählt, politisch so sensibel wie genau, diese Ausstellung. Der eine Teil gelangte nach Westberlin, der andere in den Ostteil der Stadt sowie in andere Orte der DDR. Vieles verschwand einfach. – Die Sowjets, so die Zahlen, nahmen 2,5 Millionen Stück Kunstgut, 1,5 Millionen kamen zurück; der Rest verblieb in Russland. Ein so genannter Deutsch-russischer Museumsdialog pflegt feinfühlig das „Gespräch“ über das, was wir „Beutekunst“ nennen.

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Die aus Weimar stammende, nunmehr in Zürich und Tel Aviv lebende Autorin Sibylle Berg ist berühmt und womöglich auch berüchtigt als unverschämte und trotzdem nicht ganz von Menschenliebe freie Zeitgeistzynikerin. Jetzt kam bei Hanser für 19,90 Euro ihr 256-Seiten-Roman „Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“ heraus. Es geht um Cloe und Rasmus, Mitte 40, die Hälfte der Jahre sind sie miteinander verheiratet. Nun streicheln sie sich nur noch, „wie man Haustiere streichelt“. Und fragen sich: Ist Sex lebensnotwendig? Oder ist es doch eher die Liebe? Zur Beantwortung dieser immerhin ziemlich zentralen Lebensfrage trägt nun neuerdings ein gewisser Benny bei. Cloe hat sich ihm zugewandt, um endlich mal wieder „die Geschlechtsteile zu benutzen“. Denn anfangs war Rasmus „zu geil, um ein großes Theater um Cloes Geschlechtsteile zu inszenieren“, später dann vermochte er nicht mehr „den gut ausgebildeten Liebhaber“ zu spielen. Doch dann nahm sich der knackige junge Benny der vertrackten Sache an. Und stiftete Wohlbehagen auf beiden Seiten. Zunächst. Was folgt, ist für tabulose Geister amüsant nachzulesen. Für Leute jenseits der Midlifecrisis eine womöglich lustige Erinnerung. Wer sie noch vor sich hat, darf sich frisch machen.