18. Jahrgang | Sonderausgabe | 23. März 2015

Freie Meinung? Freier Wille?
Eintragungen zum bürgerlichen Subjekt der Selbstbeherrschung

von Franz Schandl

Beraubt sind wir des Gefühls des Beraubtseins
– und dadurch scheinbar frei.“

Günther Anders
Die Antiquiertheit des Menschen, Band II

Menschen haben nicht aufgehört Knechte zu sein, nachdem sie ihre eigenen Herren geworden sind. Darüber täuschen freilich die verdinglichten Herrschaftsstrukturen hinweg, wo sachliche Verhältnisse leibeigene Bezüge (feudale, familiale, patriarchale) abgelöst haben. Die Menschen herrschen zwar nicht, aber sie beherrschen sich. Die Herrschaft in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ist in hohem Maß und im wahrsten Sinne des Wortes Selbstbeherrschung.
Das bürgerliche Subjekt ist nicht aufgeschlossen, sondern angeschlossen, es wird geschaltet. Aber diese Schaltung ist primär keine Außenschaltung, Manipulation oder gar personelle Herrschaft, sondern Eigenschaltung, in gewissem Sinne Selbstverwaltung. Das Produkt Subjekt wird so hergestellt. Diese Gängelung verkündet sich sodann als Wille, und damit es der Dümmste glaubt, als freier Wille. Dieser hat im Besitz jedes bürgerlichen Subjekts zu sein, er zeichnet es förmlich aus. Nicht Hörigkeit wird festgestellt, sondern Mündigkeit behauptet.
Kritisch wird es für diesen freien Willen ab dem Moment, wo man ihn als ideologisches Postulat dechiffriert, eben nicht als schlicht vorhandene Tatsache akzeptiert. Nur, was äußert sich, wenn es weder frei noch mein ist? Diese Frage ist derart spannend, dass sie heute kategorisch verboten ist. Wohlgemerkt nicht amtlicherseits, höchstens man versteht die real existierende Person als innere Behörde des Staates, was wiederum gar nicht so falsch wäre.

1.
Wir mögen schon Meinungen „haben“, aber wir produzieren sie nicht, wir reproduzieren sie. Vielmehr als dass wir eine Meinung hätten, hat sie uns. Wenig ist so fetischisiert wie die freie Meinung. Indes, es gibt sie nicht. Zumindest nicht in der behaupteten Weise. Meinungen sind seriell hergestellte Fabrikate, die sich unter irgendeiner Markenbezeichnung präpotent als Originale in Szene setzen. Stammtisch, Small Talk, Leserbriefseite sind allesamt zivilgesellschaftliche Versicherungs- und Überwachungsinstitute, wo die zulässigen Ressentiments sich pflegen und bestätigen. Beiläufigkeit überprüft Geläufigkeit auf ihre Normalität.
„Wenn wir argumentieren, dass der Wille des Bürgers per se ein politischer Faktor ist, der Anspruch auf Achtung hat, so muss er erst einmal existieren. Das heißt, dass er etwas mehr sein muss als nur eine unbestimmte Handvoll vager Triebe, die um vorhandene Schlagworte und falsch verstandene Eindrücke lose herumspielen. Jedermann müsste eindeutig wissen, wofür er sich einsetzen will. Dieser bestimmte Wille müsste mit der Fähigkeit ausgerüstet sein, die Tatsachen, die jedermann direkt zugänglich sind, richtig zu beobachten und zu interpretieren und die Informationen über Tatsachen, die nicht direkt zugänglich sind, kritisch zu sichten,“ schreibt Joseph A. Schumpeter1. Aber dementiert, ja deprimiert ein solcher Begriff sich nicht selbst? Unterstellt er nicht etwas, das nicht sein kann? Schumpeter selbst legt das nahe.2.
Die Subjekte können gar nicht können. Was als Multiplikation der Konvention daherkommt, wird als individuelle Äußerung kolportiert. Der freie Wille ist der schöne Schein, das Idealisierte und das Realisierte in solider Distanz zu halten und gleichzeitig Reichweite zu unterstellen. Die schlichte Behauptung einer freien Meinungsäußerung oder eines freien Willens ist zutiefst ideologisch, sie setzt voraus, was erst zu beweisen wäre, nämlich, dass solche überhaupt möglich sind. So werden Akzente der Affirmation zu jener freien Meinung geadelt, und dürfen dann zur allgemeinen Befriedigung Pluralismus spielen. Die freie Meinungsäußerung dient heute vornehmlich dem Zwecke der Überprüfung und Formatierung der Subjekte. Meinungsforschungsinstitute sind etwa Meinungsüberwachungsinstanzen, die zur Beobachtung der Freiheit abgestellt sind. Es sollte nicht wundern, dass dieser sozialwissenschaftliche Forschungsbereich einer der wenigen ist, die nicht nur auf dem Markt bestehen können, sondern einen regelrechten Boom erleben. Er ist jedenfalls zuständig, das entsprechende Verhalten zu kontrollieren und zu regulieren. Frühzeitig soll er auf Gefahren hinweisen. Wie die Werbung ist er Teil des kulturindustriellen Komplexes.

2.
Wie so oft, herrscht eine verkehrte Sicht. Aus Ich mache nur, was ich will wird: Ich will nur, was ich mache. Die Identifikation ist zwar einerseits synthetisch, aber sie ist andererseits auch immer prekär. Sie hat nicht nur vollbracht, sie hat auch geglaubt und verkündet zu werden, bedarf also der steten Überdetermination durch Staat und Kulturindustrie. Deren offensichtliche Penetranz verführt dann viele dazu, auf Manipulation zu verweisen. Indes darf man diese spezifische Formatierung auch wiederum nicht außer Acht lassen. Die Synthese ist wohl nur konsolidierbar, wenn sie zusätzlich angestachelt, vielfach abgesichert und unermüdlich bestätigt wird. Die Handlung wäre fahl, gäbe es nur sie selbst, sie braucht ihre Weihe.
Freier Wille und freie Wahl sind Instanzen des Vollzugs bürgerlicher Gesellschaftlichkeit. Die Vergesellschaftung über den Wert ist keine direkte (Was wollen wir? Was machen wir?), sondern eine indirekte, eine fetischistische, wo sich Menschen über Markt, Vertrag, Geschäft, Recht, Politik vermitteln. In der Politik geht es um Interessen gesellschaftlicher Rollen, nicht um die Bedürfnisse von Leuten. Das heißt, dass diese lediglich als verwandelte auftreten können, nicht als unmittelbare, sondern transformiert und formiert durch jene. Die Pflicht der Rollenträger besteht im Dienst an den Formprinzipien. Politik ist die Illusion des Stimmbürgers, der den freien Willen mit seiner Freiwilligkeit verwechselt. Die haltlose Einbildung, in Handlungen als auch in Entscheidungen souverän und autonom zu sein.
Freier Wille meint eine Freiheit, sich in einer gesetzten Form zu bewegen, die nicht einmal mehr als eine vorgesetzte wahrgenommen wird. Der Wert muss heute, d.h. auch in Zeiten der Entwertung, seinen Trägern gar nicht mehr aufgeherrscht werden, er ist ihnen eingeherrscht. Der Wille ist die Subjektform des Werts. Ihr zu entsprechen wie ihm ist unhinterfragte Aufgabe, ja Selbstverständlichkeit und Fügung. Das Gerede des positiven Denkens hat das auf den Punkt gebracht. Es meint die Zweckentsprechung des Wollens hinsichtlich der durch den Wert gekennzeichneten Gesellschaftlichkeit. Anpassung und Unterwerfung werden nicht als Schicksal beklagt, sondern umgedeutet als Modus der Freiheit gefeiert.
Allzu oft blamiert sich die gute Absicht schon am Willen, aber erst recht an der Handlung. Das Freiheitspostulat entpuppt sich sodann als folgenloses Spiel zur Beschäftigung der Gemüter. Dass Demokraten hergehen könnten, Renten und Löhne verdoppeln und die Preise halbieren, das glauben sie nicht einmal selbst. Natürlich ist das zum Scheitern verurteilt, zeigt aber auch an, wie armselig diese bürgerliche Souveränität denn doch ist. Selbstverständlich wissen das die Wähler, dass sie das nicht tun dürfen, weil Demokratie nur hergibt, was der Markt erlaubt. Das kapieren sie zwar, aber sie wissen nicht, was sie da wissen.
Was dieser freie Wille verwechselt, ist Folgendes: Die Freiheit, sich in der Form zu bewegen, sieht er partout nicht als Zwang, sich in einer bestimmten Form betätigen zu müssen. Seine Substanz (eben der Verwechslung zu entsprechen) wird von diesem Willen gar nicht erst berührt, im Gegenteil: dieser Wille ist Werkzeug der Form, instrumentelle Vernunft. In industriellen Zeiten ein Serienprodukt derselben. Freier Wille ist dazu da, Entscheidungen im Sinne der Verwertung zu treffen und diese praktischen Akte der Gebundenheit theoretisch als Freiheit zu benennen. „Das linksdemokratische Denken begreift nicht, dass die demokratische Diskursform in allen ihren denkbaren Institutionalisierungen ihrem Wesen nach keine ‚Freiheit‘ (Entscheidungsfreiheit) schlechthin, sondern immer nur einen Entscheidungszwang innerhalb der Formzwänge der Warengesellschaft darstellt. Die demokratische Freiheit ist identisch mit dem diktatorischen Zwang, den sogenannten ‚freien Willen‘ bis ins Unendliche in der Form einer Verwertung von abstraktem Wert geltend zu machen, deren ‚Gesetze‘ das demokratische Universum begrenzen wie die Lichtgeschwindigkeit das physikalische Universum.“3
Gerade der Tausch ist es, der uns zeigt, wie Zwang und Wille eins sind.

3.
Die freie Meinung ist eine standardisierte Angelegenheit. Dem Willen entspricht nicht das Wollen, sondern Das-zu-Wollende. Dieser Wille ist Wirkung, nicht Ursache. Verhalten, das den Verhältnissen folgt. Nicht Zusammenprall der Modalverben, sondern vielmehr Zusammenfall. Was heißt schon Wollen? Wollen ist Sollen ist Dürfen ist Müssen. Die Selbständigkeit des Wollens hat geradezu beschränkten Charakter, nicht nur reell, sondern auch ideell. Nicht einmal die Gedanken sind frei …
Der freie Wille ist keine Eigenschaft der Menschen, sondern eine Verpflichtung, sich in der als nunmehr unhintergehbar geltenden Struktur einzurichten. Dienstbereite Gesellen haben die jeweiligen Funktionen zu erfüllen. Die dafür notwendigen Entscheidungen werden einem nicht wie in anderen Herrschaftsverhältnissen abgenommen, sondern aufgehalst. Zum freien Bürger notiert Peter Klein: „Da der Ausgangspunkt all seiner Entschlüsse sein freier Wille ist, wird ihm dieser zur ursprünglichen Kategorie. Der freie Wille erscheint nicht als Moment und Resultat der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern als deren Voraussetzung.“4
Freiheit meint heute die Bestimmung als Selbstbestimmung anzuerkennen. Wenn ich will, was ich soll, brauche ich keine äußere Instanz mehr. Die sich als Neigung verstehende Pflicht ist in mir selbst. Wir wollen gar nicht wollen, was von uns nicht gewollt wird. Zumindest in der Praxis bestätigen wir diese Regel täglich, ohne dass sie uns als solche erscheint. Das bürgerliche Ich hat so dem freien Willen verpflichtet zu sein. Der Wille hat mich und ich habe zu ihm die Freiheit. Der Wille ist zu wollen, der freie ist ganz freiwillig. Die freien Bürger sind die Willigen. Sie haben eingewilligt, ohne je gefragt worden zu sein. Ihre Verfügung ist Fiktion, aber ihre Fügung Realität.
„Wenn wir uns die mit Freiheit und Gleichheit verbundene Sinnestäuschung näher ansehen, werden wir finden, dass sie in einem engen, meines Erachtens sogar notwendigen Zusammenhang mit eben dieser Kategorie des freien Willens steht. Eine dualistische Konstellation ergibt sich zwangsläufig, sobald wir etwas wollen. Wenn wir uns zum Willen nicht reflexiv, sondern sozusagen exekutiv verhalten, also im eigentlichen Sinne uns zu ihm überhaupt nicht verhalten, sondern statt dessen uns wollend verhalten, unseren Willen schlicht und einfach betätigen, deckungsgleich mit ihm sind, dann verdichtet sich dasjenige, worauf er gerichtet ist, ganz von selbst zu einem abgrenzbaren Etwas, das mit allen Attributen der Gegenständlichkeit oder Dinghaftigkeit ausgestattet ist. Dazu gehört nicht zuletzt, dass der betreffende Gegenstand sich außerhalb von uns befindet, dass wir mit ihm nicht identisch sind – wir das Subjekt, er das Objekt.“5 Das eklatante Problem der Subjekte besteht auch darin, dass sie zwar alles andere, sich selbst aber kaum als Objekte wahrnehmen, aber doch immerzu sich als solche verwirklichen.

4.
Wenn wir Freiheit nicht als Ideal auffassen, sondern als historische Größe und Relation, dann ist sie tatsächlich die Auslieferung an die bürgerlichen Notwendigkeiten. Hegel hat dafür die klassische Formulierung gefunden, jedenfalls in der Auslegung von Friedrich Engels, der sinngemäß „die Freiheit (als) die Einsicht in die Notwendigkeit“6 definierte. Wohlgemerkt, Engels hatte da mit Hegel Richtiges ausgesprochen, das Problem des Anti-Dühring lag darin, dass er diese unfreie Freiheit nicht denunzierte, sondern die Realdefinition zur Nominaldefinition machte, also Affirmation statt Kritik betrieb. Hatte Hegel eine böse Wahrheit ausgesprochen, erhob sie Engels gar zu einer ehernen Wirklichkeit.
Im § 484 der Hegelschen Enzyklopädie heißt es ganz deutlich: „Die Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet, erhält die Form von Notwendigkeit, deren substantieller Zusammenhang das System der Freiheitsbestimmungen und der erscheinende Zusammenhang als die Macht, das Anerkanntsein, d.i. ihr Gelten im Bewusstsein hat.“7 Ganz unmissverständlich auch der nächste Paragraph: „Dasselbe, was ein Recht ist, ist auch eine Pflicht, und was eine Pflicht ist, ist auch ein Recht.“8 Oder ebenso drastisch: „Alle Zwecke der Gesellschaft und des Staats sind die eigenen der Privaten.“9 Genau so und nicht anders haben wir uns die bürgerliche Freiheit vorzustellen. Die Leute werden tatsächlich zu den Ameisen ihres Staates. Es ist ein Zucht- und Ordnungsprogramm, das die bürgerlichen Denker hier zugrunde gelegt haben.
Schon für Kant „ist der Wille nichts anderes, als die praktische Vernunft. Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt werden, auch subjektiv notwendig, d.i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d.i. als gut erkennt.“10 Dass die bürgerliche Freiheit mit Willkür nichts zu schaffen habe, wusste auch Hegel: „Wenn man sagen hört, die Freiheit sei das, was man wolle, so kann solche Vorstellung nur für gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens genommen werden (…).“11
Das subjektive Wollen erscheint als das objektiv Notwendige. Diese objektive Notwendigkeit wird aber nicht als spezifische Konstellation erkannt, sondern als allgemeine Natur oder zumindest als deren höchste Form und historischer Schluss. Für alle Zukunft hat zu gelten: Auch im kategorischen Imperativ geht es schlicht darum, sich diesem allgemeinen „Gesetze der Sittlichkeit“12 unterzuordnen. „Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann; […] Da der Begriff einer Kausalität den von Gesetzen bei sich führt, nach welchen durch etwas, was wir Ursache nennen, etwas anderes, nämlich die Folge, gesetzt werden muss: so ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muss vielmehr eine Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding. […] was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein, als die Autonomie, d.i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein? Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Prinzip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann. Dies ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs und das Prinzip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei.“13
Norbert Trenkle schreibt dazu: „Freiheit ist bei Kant ihrem Wesen nach also Selbstbeherrschung; und das heißt nichts anderes, als Herrschaft der bürgerlichen Subjekte über sich selbst unter dem vorausgesetzten Diktat der Waren- und Wertform. Daher verleiht er ihr völlig zu Recht strengen Gesetzescharakter; das steht durchaus nicht im Widerspruch zur inneren Logik seiner Theorie. Denn die Kantsche Freiheit ist eben nicht Freiheit von Herrschaft überhaupt, sondern notwendiges Strukturmoment einer ganz spezifischen Form von Herrschaft: einer abstrakten Herrschaft, in der alle Menschen in der ein oder anderen Weise zu Funktionskategorien und Charaktermasken (Marx) des Werts geworden und insofern immer schon unselbständig und unfrei gegenüber diesem gesellschaftlichen Prinzip sind. Ihre ‚Autonomie‘, die Kant so sehr betont, ist nichts anderes als der Zwang, sich permanent selbst den allgemeinen Funktionsgesetzen der Warenform zu unterwerfen. Das ‚Gesetz der Freiheit‘, das sie erst als solche bürgerlichen Subjekte konstituiert hat, befiehlt nichts anderes, als die Gleichgültigkeit (die ‚Apathie‘) gegenüber Gefühlen, sinnlichen Bedürfnissen, persönlichen Beziehungen und partikularen Regungen, soweit sie nicht mit der Logik von Verwertung und Konkurrenz übereinstimmen.“14
„Freiheit heißt bei Kant so viel wie die reine praktische Vernunft, die ihre Gegenstände sich selber produziert.“15 Eine zentrale Frage ist demnach auch, was vernünftig sei und woher denn unsere Vernunft rühre. Dass das Vorgegebene eben das Vernünftige sei, ist doch eine dürftige Antwort, wenngleich die obligate. Schon Schumpeter meinte: „Nun hat sich vermutlich die rationale Haltung dem menschlichen Geist vornehmlich aus wirtschaftlicher Notwendigkeit aufgedrängt; es ist das wirtschaftliche Tagewerk, dem wir als Rasse die elementare Schulung im rationalen Denken und Verhalten verdanken – ich zögere nicht zu behaupten, dass die ganze Logik vom Muster wirtschaftlicher Entscheidung abgeleitet ist oder, um einen Lieblingsausdruck von mir zu verwenden, dass das wirtschaftliche Modell der Nährboden der Logik ist.“16
Aufklärung und Moderne brächten also mitnichten die Vernunft in die Welt, sondern sie setzten bloß eine bestimmte, und zwar die der politischen Ökonomie, in Kraft, indem sie andere Anschauungen als unvernünftig und irrational desavouierten. Die bürgerliche Rationalität hat sich inzwischen als die menschliche Mentalität durchgesetzt und sich als gesunder Menschenverstand etabliert. Früchte und Blüten der gemeinsamen Erfahrung wachsen auf diesem Boden gleich organischen Gewächsen. Wir hören und sehen so, wir sprechen und lesen so, wir riechen und schmecken so, wir spüren und fühlen so. Unsere sinnliche Gewissheit ist so programmiert. Im freien Willen wird eine Sprache bürgerlichen Entsprechens gesprochen.

5.
Der Wille hat sein Terrain in der praktischen Vernunft, über die hinaus zu gelangen es wahrlich der Entwertung aller Werte bedürfte. Freiheit und Wille (falls diese Termini dann überhaupt noch einen Sinn machen) kann es erst geben, wenn die Befreiung von der unsichtbaren Hand des Marktes bewerkstelligt worden ist, wenn Sätze wie der folgende endgültig einer archaischen Vorgeschichte angehören. Horst Claus Recktenwald schreibt im Vorwort zu Adam Smiths „Der Wohlstand der Nationen“: „Das Unzerstörbare dieser freiheitlichen Ordnung in Markt und Staat gründet in der Natur des Menschen, wie er ist und seit Jahrtausenden in der Gesellschaft handelt und nicht, wie er nach irgendeiner Ideologie sein sollte.“17 Wertkritik ist nicht nur angetreten, diesen faulen Zauber, der uns doch alle fesselt, zu durchbrechen, Wertkritik will die unsichtbare Hand des Marktes sichtbar machen, zeigen, welch Gewalten die Menschen ausgeliefert sind und sich überantworten. Wertkritik ist so gesehen der Versuch einer großen Dechiffrierungskampagne.
Zweifellos, die Leute sollen sagen, was sie wollen; aber dazu muss man ihnen erst die Chance geben etwas sagen zu können. Damit sie etwas zu sagen haben, hat sich gar vieles zu ändern. Befreiung beginnt, wo die Unfreiheit der Freiheit begriffen wird. Ein freier oder besser eigentlich emanzipierter Wille setzt gerade dort an, wo dessen aktuelle Schranken problematisiert werden. Die Anerkennung dieser Befangenheit als negative Kenntnis von ihr ist zugleich der erste Akt ihrer Sprengung. Befreiung ist heute nur dort, wo der Wille sich gegen das zu Wollende sträubt. Aus dem Willen wird Widerwille. Dieser müsste auf Differenz beharren, anstatt Identität zu suchen.
„Die Menschen, keiner ausgenommen, sind überhaupt noch nicht sie selbst,“ sagt Adorno18. Das Ich ist zwar keine apriorische Realität, aber der Keim einer Potenz allemal. Das Ich ist nicht einfach vorhanden, aber es kann sich kreieren. Es zu stacheln ist wiederum Aufgabe der Kritik. Dieses Eigene ist mehr als die Summe von Eigenheiten, es ist die emanzipatorische Potenz wider die Formierung und Formatierung. Das Ich entsteht nicht aus dem Nichts, sondern aus dem Nein, aber einem bestimmten Nein. Das Ich ist immer vakant und nie konsolidiert, es ist keine Position, sondern steht stets zur Disposition. Nicht in dieser, sondern gegen diese Disposition wird es aktiv.
So ist auch in Zeiten des abgesetzen Willens dieser nie ganz verschwunden, sondern selbst ein Moment seiner Sistierung. Auch darauf hat Adorno dezidiert hingewiesen, wenn er ausführt: „Belastet die These von der Willensfreiheit die abhängigen Individuen mit dem gesellschaftlichen Unrecht, über das sie nichts vermögen, und demütigt sie unablässig mit Desideraten, vor denen sie versagen müssen, so verlängert demgegenüber die These von der Unfreiheit die Vormacht des Gegebenen metaphysisch, erklärt sich als unveränderlich und animiert den Einzelnen, wofern er nicht ohnehin dazu bereit ist, zu kuschen, da ihm ja doch nichts anderes übrigbleibe. Determinismus verhält sich, als wäre Entmenschlichung, der zur Totalität entfaltete Warencharakter von Arbeitskraft, das menschliche Wesen schlechthin, ungedenk dessen, dass der Warencharakter an der Arbeitskraft seine Grenze findet, die nicht bloß Tauschwert sondern Gebrauchswert hat. Wird Willensfreiheit schlechterdings geleugnet, so werden die Menschen ohne Vorbehalt auf die Normalform des Warencharakters ihrer Arbeit im entfalteten Kapitalismus gebracht. Nicht minder verkehrt ist der aprioristische Determinismus als die Lehre von der Willensfreiheit, die inmitten der Warengesellschaft von dieser abstrahiert. Das Individuum selber bildet ein Moment von ihr; ihm wird die reine Spontaneität zugesprochen, welche die Gesellschaft enteignet. Das Subjekt braucht nur die ihm unausweichliche Alternative von Freiheit oder Unfreiheit des Willens zu stellen und ist schon verloren. Jede drastische These ist falsch.“19 – Die Grenze würde ich allerdings nicht im Gebrauchswert vermuten.
„Vielleicht wären freie Menschen auch vom Willen befreit; sicherlich erst in einer freien Gesellschaft die Einzelnen frei. Mit der äußeren Repression verschwände, wahrscheinlich nach langen Fristen und unter der permanenten Drohung des Rückfalls, die innere. Konfundiert die philosophische Tradition, im Geist von Unterdrückung, Freiheit und Verantwortung, so ginge diese über in die angstlose, aktive Partizipation jedes Einzelnen: in einem Ganzen, welches die Teilnahme nicht mehr institutionell verhärtet, worin sie aber reale Folgen hätte.“ 20 Kommunismus sozialisiert ja nicht die Menschen, er gibt ihnen vielmehr erst die Möglichkeit, sich zu individuieren. Das Individuum ist aber nicht als Bürger, als Persönlichkeit oder als Rechtssubjekt zu denken, sondern als der sich selbst frei setzende Mensch.

  1. Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1947), Tübingen 2005, S. 402.
  2. vgl. S. 404.
  3. Robert Kurz, Die Demokratie frisst ihre Kinder, in: Gruppe Krisis, Rosemaries Babies. Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen, Unkel/Rhein und Bad Honnef 1993, S. 17.
  4. Peter Klein, Demokratie und Sozialismus. Zur Kritik einer linken Allerweltsphrase, in: Marxistische Kritik, Nr. 7/89, S. 116.
  5. Peter Klein, Pars pro toto – warum die Partei nicht mehr Recht hat, in: krisis 14, S. 132-133.
  6. MEW 20,106.
  7. G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Werke 10, Frankfurt am Main 1986, S. 303.
  8. Ebenda, S. 304.
  9. Ebenda, S. 305.
  10. Immanuel Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785), Werkausgabe, Band VII, Frankfurt am Main 1991, S. 41.
  11. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), Werke 7, Frankfurt am Main 1986, S. 66.
  12. Kant, Grundlegung, S. 50.
  13. Ebenda, S. 81 f.
  14. Gebrochene Negativität. Anmerkungen zu Adornos und Horkheimers Aufklärungskritik, in: krisis 25 (2002), S. 55.
  15. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (1966), Gesammelte Schriften 6, Frankfurt am Main 1997, S. 253.
  16. Schumpeter, a.a.O., S. 201.
  17. Der Wohlstand der Nationen, 5. Aufl., München 1990, S. XIV.
  18. Negative Dialektik, S. 274.
  19. Ebenda, S. 260 f.
  20. Ebenda, S. 261.