18. Jahrgang | Nummer 4 | 16. Februar 2015

Nach Siena

von Renate Hoffmann

Um die Stadt zu erreichen, fahre ich von Florenz südwärts durch das toscanische Hügelland. Weingärten, Gehöfte auf den Höhen; Wald und Buschwerk wetteifern um das schönste Grün, dazu das Rot der Erde. Es sind Farben und Stimmungen, die über Gemälden altitalienischer Meister liegen. Man wähnt, sie müssten einstens wohl hier gewandert sein.
Hinauf zur Stadt auf den drei Hügeln, zur Stadt der Gotik. Siena. Gassen, Winkel, Paläste bewahren noch den Geist des Mittelalters und der Renaissance. Man tut gut daran, den Weg über die Piazza del Campo zu nehmen, diesem weiträumigen, ansteigenden, lebhaften Platz, einem Amphitheater vergleichbar und heute überquellend vom sonntäglichen Treiben. Die Häuser ringsum, von der Patina vieler Jahre überzogen, schauen, wie alte Damen, dem bunten Wirbel zu. Weit über die Dächer hinaus ragen Kuppel und Glockenturm des Domes Santa Maria Assunta.
Er steht auf dem höchsten der drei Hügel. Traditionsbewusst. Machtbewusst. – Durch schmale Gassen mit kleinen Nobelläden, Galerien, Souvenirgeschäften, Bücherständen, über Stufen, vom Touristenstrom geschoben, stehe ich auf dem Domplatz Und vor der gewaltigen und doch feingegliederten, Sinne verwirrenden, weißstrahlenden Pracht der Fassade. Im Jahre 1284 wuchs die elegante, unübertroffen kunstvolle Verblendung des bereits bestehenden Domes empor, gestaltet nach den Entwürfen von Giovanni Pisano (um 1250 bis nach 1314).
Raffinierte Farbgebung, allein schon durch die verwendeten Baumaterialien – Marmor, Serpentin, roter Sandstein – verleiht dem Bauwerk festlichen Glanz. Beim Eintritt wandelt sich die Festlichkeit in unverhohlenes Staunen. Wohin zuerst soll man den Blick wenden in dieser heiligen Kunsthalle? Pracht und Symbolik ohne Ende. – Der Boden, ein Teppich aus Marmorintarsien, kein Fleckchen bleibt ausgespart. Große Bildgeschichten und florale und geometrische Muster, die in ihrer rätselhaften Verschlungenheit die Flächen schmücken. Der Architekt Maler und Kunsthistoriker Giorgio Vasari (1511-1574) schreibt begeistert, der Marmorboden der sienesischen Kathedrale sei „der schönste […], größte und herrlichste, der je geschaffen wurde.“ Um sich eine Vorstellung vom Ausmaß der Bodenkunstwerke zu machen, sei mitgeteilt, dass es sich um insgesamt sechsundfünfzig Einlegearbeiten handelt, die in der Zeit vom 14.bis zum 19. Jahrhundert entstanden.
Das Mittelschiff gehört der Antike. Ich begegne „Hermes Trismegistos“, einem Manne in wallendem Gewand, der mit wichtiger Geste zwei Gestalten in orientalischer Tracht ein aufgeschlagenes Buch reicht. Darin ist zu lesen: „Nehmt, ihr Ägypter, die Buchstaben und die Gesetze.“ Er gilt deshalb als Begründer der Weisheit und soll zu Zeiten des Mose gelebt haben. Dem ist aber nicht so. Trismegistos ist eine göttergleiche Sagengestalt. Trotzdem bleibt seine Handlung ein edles Unterfangen.
Vom Vater der Weisheit zum „Berg der Weisheit“. Ein prachtvolles Gemälde aus Stein. Voller Leben, mit geistvollen Andeutungen gefüllt. – Auf einer felsigen Insel wandert eine Männergruppe den Pfad zum Berggipfel hinauf. Fortuna (die ein wenig an Botticelli erinnert) hat sie, unter geschwelltem Segel, hier abgesetzt. Sie selber steht auf schwankendem Grund. Mit einem Fuß auf der Planke eines Schiffswracks, mit dem anderen balanciert sie auf einer Kugel ihr Gleichgewicht aus. Die Männer, im Gespräch oder gedankenvoll, zielstrebig oder zweifelnd, Gelehrte oder Kaufleute, gehen den steinigen Weg. Schlangen, Würmer, Eidechsen zu ihren Füßen. Die mittlere Gestalt in weitem Mantel wird als der Philosoph und Kaufmann Zenon von Kition gedeutet. Nach einem Schiffbruch mit Verlust der teuren Ladung, ließ er ab von irdischen Gütern. Nach dieser Wandlung soll er geäußert haben: „Das ist doch eine glückliche Fahrt gewesen, als ich Schiffbruch erlitt.“
Auf dem Gipfel des Berges residiert „Sapientia“ – die Mutter der Weisheit, von Blumen umgeben. Ihr zur Rechten steht Socrates, er hat die Mühen des Tales bereits überwunden. Sapientia reicht ihm die Palme. Der Philosoph Crates gehört zwar ebenfalls zu den Gipfelstürmern, doch fehlt ihm zur Seelenruhe noch die letzte Überwindung. Die schöne Frau übergibt ihm ein Buch. Wahrscheinlich steht darin: Crates, nimm dich zusammen und wirf den Tand von dir. Er tut es und schüttet aus einem Korb seine Habe ins Meer. Ringe, Ketten, Broschen und Münzen. – Auf einer Tafel liest man: „Eilt, oh Männer, hier hinauf, besteigt den beschwerlichen Berg, ein vortrefflicher Preis für die Anstrengung wird die Palme der Gelassenheit sein.“ Ergo: Quies / Fructus / Laboris. Man wird es sich merken müssen.
Im Bildnis vom „Rad der Fortuna“ kommen die klassischen Philosophen noch einmal zu Wort. Sie geben Ratschläge zur Abkehr von irdischen Gütern. Moralisierend, aber zutreffend. Epiktet: „Nicht der Gaben des Schicksals soll man sich rühmen, sondern der Güter des Geistes.“ Aristoteles ergänzt: „Großes Glück macht die Menschen übermütig.“
In den Seitenschiffen begleiten jeweils fünf Sibyllen die antike Bilderwelt. – Ein Blick nach oben, zwischen mächtigen Säulen hindurch, trifft auf die Galerie hochrangiger Männer. Porträtköpfe von 172 Päpsten und 36 Kaisern. Ich habe nicht nachgezählt und verlasse mich auf die Angaben der Domverwaltung. Neugierig frage ich nach der legendären Päpstin Johanna. Sie war unter ihnen. Doch die Männer brachten sie wieder zu Fall und Papst Lucius III. rückte nach.
Die Erzählbilder am Boden lassen nicht los. Davids Geschichte in Episoden. Der Singende; der Athlet, wie er in gekonnter Manier die Schleuder ansetzt und den widerlichen Philisterknilch Goliath zu Fall bringt. – Von großer Dramatik und bestürzend in seiner Grausamkeit ist im linken Querschiff das Feld vom Kindermord zu Bethlehem. Im Auftrag des Königs Herodes toben gewaltbereite Krieger die Lust am Töten aus. Alle Knaben unter zwei Jahren lässt der Machthaber in der Stadt Bethlehem umbringen, aus Furcht vor einem – der Weissagung nach – neugeborenen König von Israel, welcher heißen wird Jesus Christus. Verzweifelte Frauen, die sich über ihre Kinder werfen, vergebens versuchen, dem Morden Einhalt zu gebieten. Das Entsetzen steht ihnen im Gesicht. Man hört das Jammergeschrei. Die kleinen Körper liegen am Boden, ausgelöscht. Betroffen löse ich mich von dem Gemetzel.
An der Kanzel vorbei, diesem Wunderwerk der Bildhauerkunst des 13. Jahrhunderts, geschaffen von Niccolo Pisano (um 1206-nach 1278), seinem Sohn Giovanni und Werkstatt (Pisano & Pisano sozusagen), ordne ich mich in die Reihe derer, die zum Eingang der Piccolomini-Bibliothek drängen. Kathedrale mit Bibliothek, ein Sonderfall der Renaissance. Das ehemalige Alte Domherrenhaus ließ Kardinal Francesco Tedeschini Piccolomini im Gedenken an seinen Onkel Papst Pius II. Enea Silvio Piccolomini in Form einer Kapelle umbauen. Von Beginn an war sie zur Aufnahme des päpstlichen Buchbestandes vorgesehen. Pius II., in seinem kirchlichen Vorleben als Jurist in politischen Geschäften unterwegs, als Gelehrter und Schriftsteller von Kaiser Friedrich III. zum „Poeta laureatus“ gekrönt. Bischof von Siena, Kardinal, Papst.
Reichtum und Kunstverstand füllen den Raum. Mit dem umbrischen Maler Bernardino di Betto, genannt „il Pinturiccio“, schloss jener Neffe im Jahr 1502 einen Vertrag über die gesamte Ausstattung des Bücherheiligtums. In Fresken von unschätzbarem Wert, von großer Schönheit, leuchtenden Farben, goldüberglänzt, und Personen in kompostirischem Feingefühl gruppiert, zieht der Lebensweg Pius II. vorüber. Es ist, als ginge man durch einen biografischen Roman, blättere die Seiten um und lese gebannt.
Die Choralbücher, Messgesänge und Stundengebete, sind wohl die wertvollsten Schätze der Bibliothek. Handschriften mit verzierten Initialen, Randillustrationen aus Blumen und Ranken, in denen sich Tiere verbergen. Und eine Farbenpracht von solcher Leuchtkraft, als hätte sie der Maler soeben erst aufgetragen. Zwischendurch, mittendrin, überall: Der Sichelmond. Symbol der Familie Piccolomini, damit auch nach mehr als fünf Jahrhunderten jeder weiß, wer das Kunstwerk zustande brachte.
Etwas benommen vom Gesehenen, verlasse ich den Dom und besteige die hochgelegene Galerie, die vom nie fertig gewordenen Neuen Dom (Duomo nuovo) aus einen Rundblick erlaubt. Er fällt auf Dächer, die Piazza del Campo, Hügel, Wälder und die fernen Berge. Milde Nachmittagssonne besänftigt das Bild.