18. Jahrgang | Nummer 4 | 16. Februar 2015

Staatsmonopolistischer Kapitalismus – mehr als ein Nachruf

von Wilfried Schreiber

Eigentlich sollte dieser Beitrag nur ein Nachruf sein – für einen klugen, bescheidenen, warmherzigen und außerordentlich kreativen Wissenschaftler. Es handelt sich um Professor Heinz Petrak, der im September des vergangenen Jahres im Alter von 85 Jahren in Berlin verstorben ist. Seine wissenschaftliche Laufbahn vollzog sich über 30 Jahre am Institut beziehungsweise an der späteren Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Berlin, wo er sich vor allem um die Analyse des realen Kapitalismus verdient gemacht hat.
Ich sage es gleich am Anfang: Dieser Nachruf ist vor allem ein Aufruf zur Rückbesinnung. Die Arbeitsergebnisse von Heinz Petrak und seinen Kollegen sind von brennender Aktualität – auch wenn sie heute nahezu vergessen sind oder ignoriert werden. Gerade deshalb ist es wichtig, einige Kernaussagen wieder in Erinnerung zu bringen. Heinz Petrak gehörte zu jenen deutschen Wissenschaftlern, die seit den 1960er/1970er Jahren die Leninsche Imperialismus-Theorie schöpferisch weiter entwickelt haben. Dazu gehört vor allem der Nachweis, dass der Kapitalismus des ausgehenden 20. Jahrhunderts insbesondere durch eine umfassende und dauerhafte Verflechtung der Macht des Staates mit der Macht der großen Wirtschaftskonzerne gekennzeichnet ist. Die ökonomische Tätigkeit des Staates ist zu einer unerlässlichen Bedingung des kapitalistischen Reproduktionsprozesses geworden. Dadurch wurden und werden dem kapitalistischen Reproduktionsprozess auf der Stufe eines staatsmonopolistischen Kapitalismus neue enorme Entwicklungspotentiale erschlossen. Gleichzeitig eröffnet die aktive ökonomische Rolle des Staates neue Möglichkeiten des Einwirkens gesellschaftlicher Kräfte auf die Staatmacht, um diese in unterschiedliche Richtungen zu beeinflussen. In Verbindung mit der immer offensichtlicher werdenden ungleichmäßigen Entwicklung der kapitalistischen Welt konstatierten die Wissenschaftler um Heinz Petrak schon in den 1970er Jahren eine Vielfalt von Erscheinungsformen und Typen des hochentwickelten Kapitalismus, die unterschiedliche Spielräume für gesellschaftliche Kräfte und politische Entwicklungen zulassen. Heinz Petrak differenzierte dabei insbesondere zwischen einem eher zivilen „pazifistisch-realistischem“ Typ des Kapitalismus und einem „staatsmonopolistischen Kriegskapitalismus“, den er auch als „Pentagonismus“ kennzeichnete.
Man kann nicht übersehen, dass die Auffassungen Petraks in der DDR keineswegs nur Anerkennung und Akzeptanz gefunden hatten. Insbesondere all jene Aussagen, die auf die Anpassungsfähigkeit und die neuen Spielräume des Kapitalismus verwiesen haben, wurden von der Parteiobrigkeit und von Scheuklappenwissenschaftlern nicht gern zur Kenntnis genommen. Gefragt waren eher Aussagen zu immer neuen Etappen der allgemeinen Krise des Kapitalismus, die von einem Niedergang beziehungsweise einem bevorstehenden Zusammenbrechen des Kapitalismus kündeten. Das ist übrigens auch noch heute ein Irr- und Wunschglaube so mancher Linker.
Tatsächlich ist jedoch nicht das kapitalistische System zusammengebrochen sonder der „reale Sozialismus“ – ohne dass Ochs oder Esel diesen Lauf der Geschichte hätten aufhalten können. Allen Prophezeiungen zum Trotz hat der Kapitalismus gerade in den vergangenen 25 Jahren nicht nur seine Überlebensfähigkeit gezeigt, sondern an Umfang und systemischer Stärke gewonnen. Wir leben heute in einer ausschließlich kapitalistisch organisierten Welt. Es gibt keine Wahl mehr. Es gibt auch keine Inseln des Sozialismus mehr. Selbst Kuba entwickelt sich still und leise zu einem kapitalistischen Land. Alle Länder des Realsozialismus haben nach ihrem Zusammenbruch sehr schnell den Übergang zum Kapitalismus vollzogen. Besonders in solchen Ländern wie China, Russland, Indien, Brasilien oder Südafrika – also den BRICS-Staaten – haben sich in diesen Jahren neue Varianten des Zusammenwirkens von Staat und Monopolkapital herausgebildet. Hier deuten sich alternative Entwicklungsmöglichkeiten des Kapitalismus an, die in Widerspruch zu den Interessen der traditionellen kapitalistischen Industriemächte stehen. Zu den großen Merkwürdigkeiten der Geschichte gehört dabei, dass China sein staatsmonopolistisches System gar als Sozialismus beziehungsweise als Weg dahin bezeichnet. Kein Wunder, dass die USA gerade dieses China inzwischen als größte Herausforderung für sich selbst begreifen!
Er ist schon seltsam, dieser Run in den Kapitalismus, der sich auch in den zahllosen Wirtschaftsflüchtlingen aus Entwicklungsländern zeigt, die gerade im transatlantischen Kapitalismus das Paradies auf Erden sehen und ihr Leben riskieren, um in brüchigen Rostdampfern und Gummibooten das Mittelmeer zu durchqueren oder den Stacheldrahtzaun zwischen Mexiko und den USA zu überklettern. Die bunte Konsumglitzerwelt dieses Kapitalismus hat eine ungeheure Anziehungskraft auf viele Menschen – aber zugleich auch die Eigenschaft und Fähigkeit, die inneren Widersprüche und Gefahren dieses Systems zu überdecken.
Die vergangenen 25 Jahre brachten mit der weiteren Entfaltung des staatsmonopolistischen Kapitalismus auch eine ungeheure Verschärfung seines Grundwiderspruchs zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Form der Aneignung der produzierten Waren. Der Unterschied zwischen Reich und Arm war noch nie so groß wie heute. Nur 1% der Weltbevölkerung verfügt über 99% des privaten Eigentums. Das scheinbar so paradiesische Leben in den kapitalistischen Industrieländern ist für die große Masse der Menschen tatsächlich nur ein Leben von den Brosamen der Reichen und steht in keinem Verhältnis zu den realen Möglichkeiten der vergesellschafteten Produktion.
Die riesige Dimension der privaten Aneignung beschneidet zugleich die Lebensfähigkeit der Gesellschaft als Ganzes. Wir nähern uns einem Punkt, wo uns das permanente Wachstum des Kapitalismus aufzufressen droht. Der Raubbau an natürlichen Ressourcen und die damit verbundenen Belastungen der Umwelt gehören mittlerweile zu den größten Herausforderungen der menschlichen Zivilisation. Das stellt neue Anforderungen an die ökonomische Verantwortung der Staaten und Staatengemeinschaften. Diese Probleme lassen sich nur durch aktives staatliches und suprastaatliches Handeln – zum Teil sogar gegen die kurzfristigen Interessen des privaten Kapitals – lösen. Die Verantwortung der Staaten für regulierende Eingriffe in den Reproduktionsprozess steigt objektiv. Die verzweifelten Bemühungen einer Reihe bürgerlicher Regierungen zur Beherrschung eines sich von der Realwirtschaft lösenden Finanzsektors – wie in der globalen Finanzkrise von 2008 oder auch in der Eurokrise der Gegenwart erkennbar – sind ein beredtes Zeugnis dafür. Sie bestätigen die theoretischen Erkenntnisse der Wissenschaftler um Heinz Petrak und werfen zugleich viele neue Fragen für die Wissenschaft und politische Praxis auf.
Die objektiv wachsende Rolle des Staates im Reproduktionsprozess ist jedoch in unserer realen gesellschaftlichen Praxis verbunden mit einem Abbau der Demokratie. Die Handlungsfreiheit der Regierungen und aller gesellschaftlichen Kräfte werden durch scheinbar objektive Zwänge der Wirtschaft immer mehr eingeengt. Die Bundeskanzlerin hat hierfür das Argument der „Alternativlosigkeit“ geprägt. Dieses Argument reflektiert in der Tat nichts anderes als den objektiven Widerspruch zwischen Privateigentum und Demokratie. Je umfangreicher und stärker privates Eigentum wird, desto formaler und hohler wird die bürgerliche Demokratie. Insofern muss es geradezu ein Alarmzeichen sein, wenn gegenwärtig in der Europäischen Union ein transatlantisch geprägter Neoliberalismus an Einfluss gewinnt und immer bestimmender für alle gesellschaftlichen Prozesse wird. So schränkt der Lissabon-Vertrag der Europäischen Union die Rolle und Souveränität der nationalen Regierungen und Parlamente ein, ohne dass das Europäische Parlament ein adäquates Gegengewicht bekommt. In Brüssel – aber auch in den Teilnehmerländern der EU – bestimmt ein parlamentarisch verbrämter Lobbyismus die Geschicke der Union, die dem amerikanischen Regierungssystem immer ähnlicher wird. Neoliberale Tendenzen widerspiegeln sich auch in dem beabsichtigten Freihandelsabkommen TTIP der EU mit den USA. Letztlich geht es nicht um Partnerschaft sondern um Dominanz eines anderen Typs von staatsmonopolistischem Kapitalismus in Europa. Wer das nicht glaubt, möge sich Gedanken über die Belebung der NATO als Instrument der USA zur Disziplinierung der Europäischen Union sowie über die gegenwärtigen amerikanischen Aktivitäten in der Ukraine und einer Reihe anderer Länder Europas machen.
Ja, wir brauchen die Rückbesinnung auf ein sicheres Wissen, das verloren zu gehen droht: Unsere Gesellschaft ist nach wie vor blanker Kapitalismus – und zwar in seiner vollen staatsmonopolistischen Ausprägung, in all seiner Differenziertheit, Vielfalt und Widersprüchlichkeit. Dieser Kapitalismus ist reif für den Wandel in eine Gesellschaft, die dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion endlich entspricht und die fast vollständige private Aneignung überwindet. Die genaue Bestimmung des Zieles und des Weges dahin sowie die Dauer dieses Weges sind aber nach wie vor offen. Darüber sollte man sich keine Illusionen machen. Es ist ein Weg, der – wie schon Heinz Petrak und seine Kollegen in den 1980er Jahren erkannten – nur über eine grundlegende Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft führt. Dazu gehört heute auch die Verteidigung der in Europa historisch gewachsenen Formen der Demokratie. Es kann uns nicht gleichgültig sein, in welcher Variante des staatsmonopolistischen Kapitalismus wir leben, ob in der „pazifistisch-realistischen“ oder im „Pentagonkapitalismus“.