18. Jahrgang | Nummer 4 | 16. Februar 2015

Oskar Schlemmer – Visionen einer neuen Welt

von Klaus Hammer

Die Staatsgalerie Stuttgart, in der sich sowohl der Nachlass Schlemmers als auch der größte Museumsbestand seiner Werke befindet, widmet sich in einer Oskar-Schlemmer-Ausstellung dem Thema „Visionen einer neuen Welt“. Der in Stuttgart gebürtige Künstler, Repräsentant eines figürlichen Konstruktivismus, hat als Maler, Zeichner, Plastiker, Bühnen- und Wandgestalter, als Choreograf und Tänzer, als Lehrer und Theoretiker ein Werk in kaum überschaubarer schöpferischer Vielfalt hervorgebracht. Er war ein Visionär, es ging ihm um „den ‚neuen’, in funktionaler Architektur lebenden, klar denkenden und klar handelnden Mensch einer Moderne, die nie wieder in kriegerischem Chaos (des Ersten Weltkrieges) versinken sollte“, äußert die Kuratorin Ina Konzen.
Zeitlebens hat Schlemmer das Verhältnis zwischen Mensch und Kosmos, Mensch und Raum, Körpervolumen und Raumvolumen beschäftigt. Er ging dieses Problem von der Bewegung her an, vom Tanz im weitesten Sinne, dessen Bewegungsabläufe wiederum zu selbständigen Figurationen im Raum führen. Die immer größere Abstraktion dient einer immer klareren Formulierung seines Themas, der Mensch, die menschliche Figur – das Maß aller Dinge. In puristischer Strenge ordnete der Künstler die Menschfigur durch, damit aus ihren Maßbeziehungen sich die Harmonie herstellt, die das Menschenbild als Formideal zu tragen imstande ist. Das Naturbild reduzierte er auf das stereometrische, überindividuelle Typuszeichen „Mensch“, das den figuralen Mittelpunkt der geometrischen Ordnungen bilden konnte.
Schlemmers Bestreben, bildende Kunst und Architektur zu verbinden, führte zwangsläufig in die dritte Dimension. In seinen Reliefplastiken erscheint die Figur zerlegt, geometrisiert und normiert. Durch die Klarheit der Linien und austarierte Proportionen erzielte er in der Plastik einen kaum mehr zu überbietenden Abstraktionsgrad. In der „Abstrakten Figur“ (1921/23), neben „Groteske“ (1923) die einzige Rundplastik Schlemmers, werden die Pole „Mensch“ und „Abstraktion“ zu einer Synthese zusammengeführt. Frontal und rückwärts stellt sich der Torso als Kunstfigur aus ineinander verzahnten, kontrastierenden Elementen dar, die aber insgesamt ausgewogene Ausdrucksformen ergeben. Dagegen verdeutlicht die Schmalseite das plastische Prinzip funktionell ineinandergreifender, gegensätzlicher geometrischer Formelemente. Die Körper- und Kopfsegmente sind jeweils um eine tragende Mittelstange, die auf einem überdimensionalen Fuß basiert, achsial angeordnet. Die surreal anmutende Auflösung eines natürlichen Körpervolumens resultiert aus dem Interesse, den Körper in seinem Aufbau aus Volumen und Hohlformen zu durchdringen.
In Weimar, wohin er an das von Walter Gropius 1919 gegründete Bauhaus berufen wurde, entstanden neben ersten Entwürfen für Plastiken aus Draht, Holz und Gips die Gemälde „Die Geste (Tänzerin)“ (1922) und „Der Tänzer“ (1923), die die Reihe der Bauhausbilder eröffneten. Hier führte er die neue raumplastische Gestaltkonzeption in seine Malerei ein. Er machte sich seine Erfahrung als Tänzer und Choreograf zunutze, dass „die menschliche Gestalt, losgelöst aus der Masse und in die Sonderwelt der Bühne (des Bildes) gestellt, vom Nimbus des Magischen umwittert, ein sozusagen raumbehextes Wesen“ wird. Im „Triadischen Ballett“, das 1922 im Staatstheater Stuttgart uraufgeführt und ein Jahr später im Nationaltheater Weimar neu inszeniert wurde, war es Schlemmer um die Synthese von Mensch und Marionette, Natur- und Kunstfigur gegangen, in die er die ganze Skala an Ausdrucksmöglichkeiten einbringen konnte. Nachdem er die Bauhausbühne übernommen hatte, ging er von den anatomischen und funktionalen Gesetzen des menschlichen Körpers im Wechselspiel mit den Gesetzen des kubischen Raums aus. Auf der Bauhausbühne führte er eine auf dem körperlichen Organismus basierende Ausdruckssprache ein, gemeinsam mit seinen Schülern entwickelte er die Bauhaustänze.
Noch in Weimar entstanden die später als „Galeriebilder“ bezeichneten Hauptwerke wie „Ruheraum“ (1925), „Konzentrische Gruppe“ (1925) und „Fünf Figuren im Raum. Römisches“ (1925), die Schlemmers internationalen Ruhm begründeten. Statik und Dynamik, Raum und Fläche wirken in einem System von Richtungsbezügen und Überschneidungen zusammen und machen das Bild zu einem fiktiven Ausschnitt aus dem umgebenden Realraum des Betrachters.
Seine Wandgestaltung für das Museum Folkwang in Essen 1930 – sie wurde 1933 entfernt und ist heute verschollen – stellte Jünglinge in optischer Ausgewogenheit und in vertikaler, diagonaler und horizontaler Gegenbewegung von Armen und Beinen dar. An Hand der drei aufeinanderfolgenden Fassungen lässt sich der stilistische Weg von der thematischen Vorgabe bis zur philosophischen Umdeutung Schlemmers verfolgen, der „Darstellung des einfachen Daseins von Gestalten“ und deren Integration in die Gesellschaft.
Auch in den Gemälden, so in der „Vierzehnergruppe in imaginärer Architektur“ (1930-1936), zeigt sich die Versachlichung von Raum, Figur und Bewegung. Die entindividualisierten Figuren sind in konstruktiver Anordnung nebeneinander und übereinander, wie zum Tanz oder zur Pantomime bereit, angeordnet. Und doch erfahren sie eine Entkörperlichung, ein metaphysisch-geheimnisvolles Licht beginnt Figur und Raum gleichermaßen zu durchdringen. Die Puppe wird dem Künstler eine Art Zeitsymbol für das Individuum, Ausdruck der Vereinsamung in einer mechanisch aufeinander abgestimmten und in sich funktionierenden Gemeinschaft.
Neben Gips, Holz und Glas gehörten Metall und Draht zu den bevorzugten Materialien. Im architektonischen Zusammenhang hat er diese neuen Techniken unter anderem 1931 für die Ausgestaltung des von Adolf Rading erbauten Hauses Dr. Raabe in Zwenkau bei Leipzig angewandt. An der Hauptwand der Wandhalle konnte Schlemmer seine Vision einer frei vor der Wand montierten, wie schwebenden Drahtplastik umsetzen. Das Relief ist auf eine flache plastische Zeichnung reduziert, der Mensch als eine Idealfigur aus Kreisen und eiförmigen Kurven erfasst.
Hat Schlemmer in den berühmten „Treppenbildern“ – scheinbar unberührt von den Zeitereignissen – ein Sinnbild der Harmonie dargestellt? In der „Gruppe am Geländer“ (1931) verraten weder die typisierten Gesichter noch die geometrisch vereinfachten Körperformen und gemessenen Gesten die geringste Gefühlserregung der jungen Menschen. Treppe und Geländer geben dem Bild „Maß und Gesetz“. Die Gestalten halten sich am Geländer fest, sie kehren uns den Rücken zu oder geben lediglich ihr Profil preis. Sie scheinen dem Betrachter den Bildraum zu versperren, um ihre eigene Welt zu schützen. In der „Bauhaustreppe“ (1932), dem bekanntesten Werk seines malerischen Oeuvres, das kurz nach der Vollendung von dem Architekten Philip Johnson für das New Yorker Museum of Modern Art erworben wurde, fasste Schlemmer rückblickend seine Vision einer künftigen Kultur zusammen. Unmittelbarer Anlass war offenbar die Nachricht von der Schließung des Dessauer Bauhauses unter dem Druck der Nationalsozialisten. Im lichterfüllten Treppenhaus von Gropius steigen Figuren beschwingt nach oben, während oben zwei Randfiguren sich hinunterbegeben, unten links ein angeschnittener Kopf in Nachdenken versunken ist und hinter dem Fenster eine schattenhafte Figur erscheint, die allerdings nur von der mittleren Rückengestalt wahrgenommen wird. Es existiert also hinter dem Innenraum noch ein unbekanntes – gefährliches? – Draußen. Die Treppe kann als ein Gleichnis des Schwankens zwischen „Hoffnung und Resignation“ – so der Titel eines Aufsatzes von ihm –, der Griff zum Geländer als Ausdruck einer tiefen Verunsicherung und Haltsuche gedeutet werden. „Wir brauchen Zahl, Maß und Gesetz, um nicht im Chaos verschlungen zu werden“, rief Schlemmer im November 1932 seinen Zuhörern in der Antrittsvorlesung an der Vereinigten Staatsschule für Kunst und Kunstgewerbe in Berlin-Charlottenburg zu, aus der er dann wenige Monate später entlassen wird.
Es folgten die Jahre seiner fortschreitenden Diffamierung als „entarteter“ Künstler. Die „psychische Vernichtung“, die er in sich fühlte, ließ ihn den Wert seiner zum Teil zukunftsweisenden Arbeiten nicht mehr voll erkennen. Er versuchte, die Spuren des Pinsels im Bild zu tilgen und eine „automatische“ Malerei zu erzeugen, die auf den Tachismus der 1950er Jahre voraus weist. Aber es blieb ihm keine Zeit mehr für gänzlich neue Ansätze. Im Vorjahr seines Todes, 1942, entstanden noch die kleinen „Fensterbilder“, die er beim Blick in die hell erleuchteten Wohnungen der gegenüberliegenden Häuser malte. Aus der Rolle des aktiv bauenden, regieführenden Bildschöpfers hatte er sich in die eines empfindsamen Beobachters zurückgezogen. Obwohl ihm diese Bilder neuen Auftrieb gaben, spricht aus ihnen tiefe Trauer und Resignation.

Oskar Schlemmer – Visionen einer neuen Welt, Staatsgalerie Stuttgart, bis 6. April; Katalog 49,90 Euro. Dazu das Kinderkunstbuch von Anne Funk: Tribal tanzt – In der Welt von Oskar Schlemmer, 9,90 Euro.