von Heerke Hummel
Gespannt blickt Europa wieder einmal fragend nach Griechenland: Was wird nach den dortigen Wahlen vom 25. Januar geschehen? Die Ungewissheit der Zukunft dürfte – folgt man der Analyse von Andreas Oppacher – so groß nicht sein. Oppacher untersucht die „wahren Ursachen der europäischen Wirtschaftskrise“, und Griechenland wird darin viel Aufmerksamkeit gewidmet; zumindest was den ersten Abschnitt, „Europas Krise verstehen“, betrifft. Darin weist der Autor nach, dass Europas Krise keine Staatsschuldenkrise ist, sondern eine Außenhandels-Schuldenkrise. Die Staatsschulden sind nicht die Ursache, sondern die Folge der allgemeinen Krise Europas, die aus den ökonomischen Ungleichgewichten in der Europäischen Union und besonders der Euro-Zone herrührt. Maßgeblich haben dazu die unterschiedlichen Strategien der EU-Staaten in der Lohnpolitik beigetragen. Und Oppacher zeigt, welchen Einfluss dies auf die Preise, auf die Exportchancen und auf die Außenhandelsbilanzen hatte. Schon hier wird deutlich, dass die gemeinsame europäische Währung einer koordinierten Wirtschaftspolitik, darunter vor allem auch einer abgestimmten Lohnpolitik, bedarf. Also wären die griechischen Probleme doch hausgemacht, weil man über seine Verhältnisse lebte, wie in unseren Medien so häufig zu hören ist? Oppacher: „Was in Deutschland immer noch nicht begriffen wurde: Der Außenhandel in einer Währungsunion funktioniert auf Dauer nur als Miteinander.“ Jedes Land müsse seine Chance bekommen, genügend Güter exportieren zu können. Andernfalls könne es sich irgendwann selbst keine Importe mehr leisten und scheide aus, erst als Handelspartner und dann als Mitglied der Union.
Und was tat Deutschland? Die Bundesrepublik, so Oppacher, entriss den Handelspartnern seit fast zwanzig Jahren durch ein breit angelegtes Lohndumping (im Widerspruch zu der von der EZB empfohlenen Inflationsrate von jährlich rund zwei Prozent) nach und nach ihre Exportanteile und wurde „das mit weitem Abstand wettbewerbsfähigste Industrieland der Welt“, aber eben vollkommen auf Kosten der anderen. An dieser Stelle wäre festzustellen: Damit verstieß Deutschland auch gegen den kategorischen Imperativ seines großen Philosophen Immanuel Kant, der es allen vernunftbegabten Wesen schon vor mehr als zweihundert Jahren als grundlegendes Prinzip der Ethik zur universellen Pflicht machte, nur nach derjenigen Maxime zu handeln, die ein allgemeines Gesetz sein könnte. Die Ethik des Handelns ist durchaus nicht nur ein theoretisches Konstrukt in der Sphäre des Bewusstseins im Sinne eines Ideals auch in ökonomischen Angelegenheiten, sondern sie ist vor allem auch von ganz praktischer Bedeutung. Das Spiel mit der Lohndrückerei nämlich, so lesen wir im hier besprochenen Buch, funktioniert nur, „wenn es einer betreibt und auch nur für eine gewisse Zeit. Hätte sich der gesamte Euroraum schon vor Jahren für ein Lohndumping entschieden, wäre in allen Ländern – auch in Deutschland – die Konjunktur abgestürzt. Schließlich hätte eine Aufwertung des Euro den Effekt der Lohndrückerei automatisch zunichte gemacht. Man sollte Deutschland endlich den durch nichts gerechtfertigten Nimbus der ökonomischen Vernunft und Vorbildfunktion aberkennen…“
Lohnkürzungen von kolossalem Ausmaß, Rentenkürzungen sowie die Streichung beziehungsweise Kürzung von Sozialleistungen treffen die Volkswirtschaften ins Mark. Wenn Staaten wie die im Süden Europas infolge der von Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und Europäischer Kommission (der Troika) verordneten Sparpolitik die öffentliche Infrastruktur zwangsläufig immer mehr verkommen lassen müssen, werden die betroffenen Länder zu immer unattraktiveren Wirtschaftsstandorten. Durch diese falsche Strategie wurde in den vergangenen Jahren „eine furchtbare Verschlimmerung der wirtschaftlichen Lage in Europa losgetreten […]“ Oppacher unterlegt seine Argumentation mit Grafiken, beispielsweise die Arbeitslosigkeit betreffend; in Spanien und Griechenland auf mehr als 25 Prozent. Und seine Warnung: Sollte die Politik in Europa weiterhin zusehen, wie sich einige Mitgliedsländer immer mehr zu riesigen Armenhäusern entwickeln, werde es in absehbarer Zeit auch keinen Euro mehr geben. Mit der bisherigen Taktik von Notkrediten allein werde die gemeinsame Währung nicht zu halten sein, und niemand dürfe sich wundern, wenn auch die gesamte Europäische Union als Institution infrage gestellt wird.
Wie real solche Gefahren mancherorts gesehen werden, mögen Meldungen von Mitte Januar dieses Jahres zeigen, wonach die Deutsche Bundesbank – offenbar aus Vorsicht für den Fall eines allgemeinen Krachs – damit begonnen hat, ihre noch im Ausland liegenden Goldreserven nach Deutschland zu holen und hier sicherzustellen. Immerhin soll die BRD mit fast 3.400 Tonnen nach den USA (mehr als 8.000 Tonnen) über die größten Goldreserven der Welt verfügen. Die jetzige Vorsichtsmaßnahme dürfte dennoch ein außerordentlich kurzsichtiges und praktizistisches Unterfangen sein, das nur von Angst zeugt, die aus Unkenntnis darüber herrührt, welche ökonomischen Prozesse in und zwischen den europäischen Volkswirtschaften ablaufen.
Im vierten Abschnitt befasst sich unser Buchautor mit dem „Ausweg aus der Krise“ durch eine „180-Grad-Kehrtwende in der Krisenstrategie“. die eine Doppelstrategie sein müsse.
Erstens: Das Problem der großen Ungleichgewichte im Außenhandel habe sich über viele Jahre aufgebaut und könne deshalb auch nur langfristig wieder behoben werden.
Zweitens: Die Wachstums- und Beschäftigungskrise „entstand erst in den vergangenen Jahren und wurde durch eine vollkommen inkonsistente und fehlgeleitete Strategie des Kaputtsparens drastisch verschärft.“ Dieses gravierende Problem müsse sofort und mit aller Kraft bekämpft werden, sonst brauche man sich über die Außenhandelsschulden oder über den Erhalt des Euro ohnehin keine Gedanken mehr zu machen.
Ein besonderer Vorzug dieses Buches: Der Autor befasst sich sehr konkret mit den Problemen, die mit der von ihm entwickelten Strategie verbunden sein dürften, und er ist dabei bereit, Tabus zu brechen, die bislang als unantastbar galten. Wenn die Banken, schreibt er, ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen, das von der EZB zentral herausgegebene Geld zu vernünftigen Konditionen in den Wirtschaftskreislauf weiterzugeben, „dann muss die Frage gestattet sein, ob man sie nicht einfach ausschließen sollte.“ Und „das würde heißen, dass die Europäische Zentralbank aktiv in das Wirtschaftsgeschehen eingreift und somit gar nicht mehr unabhängig von der Politik ist.“ Darum plädiert Oppacher für eine „Änderung der völlig unzulänglichen Satzung der Zentralbank“. Anstatt den Banken Billigkredite hinterherzuwerfen würde die EZB dann zum Beispiel frische griechische Staatsanleihen für 100 Milliarden Euro kaufen können, und im Gegenzug müsste der griechische Staat ihr beispielsweise ein Prozent an Zinsen bezahlen. Das würde für den griechischen Staatshaushalt eine Belastung von lediglich eine Milliarde Euro pro Jahr bedeuten. So ließe sich ein effektives Investitionsprogramm sinnvoll finanzieren. Auch die Notenbanken anderer Länder, zum Beispiel in den USA, in Großbritannien und in Japan, hätten das schon oft genug getan, und die viel beschworene große Inflation trete deshalb noch lange nicht ein.
Oppachers Empfehlungen würden tatsächlich eine totale Kehrtwende sowohl in der Krisenstrategie als auch in der ökonomischen Strategie allgemein bedeuten. Denn man könnte und müsste in der Konsequenz solchen Denkens noch weiter gehen und fragen, wie sinnvoll es eigentlich ist, ein so gravierendes Problem wie die Finanzierung des Staatswesens als Organisator unseres gesellschaftlichen Daseins abhängig zu machen vom Auf und Ab konjunktureller Zyklen sowie wilder Spekulation. Müsste sich der Staat nicht umgekehrt durch eine stabile Direktfinanzierung über die Notenbank in die Lage versetzen, den konjunkturellen Verlauf des Wirtschaftens wirkungsvoll entsprechend den gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen zu steuern? Dazu müsste allerdings die Wissenschaft erst einmal mit einer angemessenen Reproduktions- und Finanztheorie die Voraussetzungen schaffen. Zu hinterfragen wäre dabei unter anderem auch, inwieweit das Wirtschaften heute noch Privatsache von Personen sein kann beziehungsweise tatsächlich ist. Dass wir uns auf den Weg in eine solchermaßen gekennzeichnete Zukunft zu begeben begonnen haben, dürften auch die jüngsten Beschlüsse der EZB zum umstrittenen, wenn auch noch ganz halbherzigen Aufkauf von Staatsanleihen (leider auf dem teuren Umweg über Privatbanken) deutlich machen; auch wenn diese Beschlüsse nur ein praktizistisches, der äußersten Not gehorchendes Reagieren auf Krisensymptome darstellen. Mit Kantscher Vernunft haben sie so gut wie noch nichts zu tun.
Andreas Oppacher: Krisenkiller. Chancen einer klugen Wirtschaftspolitik, agenda Verlag, Münster 2014, 269 Seiten, 19,90 Euro.
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