von Ulrich Busch
Alexis Tsipras hat Deutschland bisher keinen Staatsbesuch abgestattet, dafür aber einen Brief geschrieben, worin er versucht, den Deutschen seine Position zu erklären und für einen „europäischen New Deal“ zu werben. Dies ist ein ungewöhnlicher Vorgang, der aber den Zweck erfüllt, sich in die Berichterstattung über die Probleme Griechenlands selbst einzuschalten und diese nicht komplett den Medien zu überlassen.
Tsipras schreibt, dass der griechische Staat seit 2010 nicht mehr in der Lage ist, seine Schulden zu bedienen. Im Klartext heißt das, die Einnahmen des Staates reichen nicht aus, um die Tilgungs- und Zinszahlungen für die aufgenommenen Kredite zu leisten. Griechenland ist also „pleite“ oder, vornehmer ausgedrückt, insolvent. Die Europäische Kommission, der IWF und die Europäische Zentralbank (EZB) hätten dies bislang aber ignoriert und so getan, als hätte Griechenland nur ein Liquiditätsproblem. Diesem wurde einerseits mit einer rigorosen Sparpolitik zu begegnen versucht, andererseits aber mit neuen Krediten, wodurch die Verschuldung weiter angestiegen sei, bis auf 321 Milliarden Euro oder 175 Prozent des BIP. Auf diese Weise, so Tsipras, hätte der griechische Staat sehr viel Geld erhalten, „viel mehr“, als gut war. Dieses habe ihm aber letztlich nichts genützt, „denn es wurde in das schwarze Loch der schon untragbaren Schulden geworfen“ und der „Konkurs“ dadurch nicht verhindert, sondern nur „in die Zukunft verschoben“.
Zutreffend ist, dass mit den neuen Krediten zunächst die alten Schulden bedient wurden, und diese Kredite mithin für die Gläubiger, nicht aber für die Not leidende griechische Bevölkerung, von Nutzen waren. Das ist dann auch der Kern der Kritik an der Politik der „Troika“. Tsipras verschweigt jedoch, dass Griechenland ohne diese Kredite spätestens 2011 den Staatsbankrott hätte erklären müssen, was für die Wirtschaft und die Bevölkerung mit weit schmerzhafteren Einschnitten verbunden gewesen wäre als die Prolongation der Schulden. Weiter konstatiert er, dass die Schulden in ihrer gegenwärtigen Höhe für die griechische Wirtschaft „nicht tragbar“ seien. Wenn dem so ist, dann liegen die Gründe dafür aber weniger in den Kreditbedingungen als vielmehr in der anhaltenden Schwäche der griechischen Wirtschaft. Diese aber ist kein neues Problem, sondern ein Erbe der Jahrzehnte vor 2010. Wenn Griechenland auf dem Weltmarkt nur bestehen kann, wenn es seine Währung permanent abwertet, so hätte es den Beitritt zur Euro-Zone nicht vollziehen dürfen. Denn mit der Einführung des Euro ist dieser Weg definitiv verschlossen. Andernfalls hätte das Land ein Programm zur Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit unter den veränderten währungspolitischen Bedingungen auflegen müssen. Aber auch das ist nicht geschehen. Dass Griechenland sich trotz fehlender ökonomischer Voraussetzungen den Euro „ermogelt“ hat, ist nun freilich für alle Beteiligten zu einem Problem geworden. Man darf darüber aber nicht vergessen, dass es Griechenland selbst war, das dieses Problem verursacht hat.
Was in dem Brief an die deutschen Leser gänzlich fehlt, ist eine Aussage darüber, dass die beiden bisherigen „griechischen Bailouts“ von einem direkten und einem indirekten „Schuldenschnitt“ begleitet waren, wodurch Griechenland rund 100 Milliarden Euro Schulden gestrichen und mindestens noch einmal so viel an Zins- und Tilgungszahlungen gestundet worden sind. Infolge des ersten Schuldenschnitts mussten private Investoren und griechische Banken erhebliche Summen abschreiben. Beim zweiten, eher verdeckten Schnitt verzichteten die Euro-Gläubiger-Staaten und der Euro-Rettungsfonds auf fast die Hälfte ihrer Forderungen, indem sie die Zinszahlungen auf nahe null reduzierten und die Tilgung weit in die Zukunft verschoben. De facto wird Griechenland diese Kredite niemals vollständig zurückzahlen, sondern bestenfalls bedienen. Aber selbst das wird inzwischen bestritten, obwohl der Betrag, den das Land jährlich für seine Staatsschulden aufbringen muss, nach den vorgenommenen Entlastungen nur noch 4,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beträgt, wovon die Zinszahlungen gut zwei Milliarden oder 1,5 Prozent ausmachen. Das ist weniger als Portugal oder Italien jährlich an Schuldendiensten zu leisten haben und nicht vielmehr als Irland jährlich aufbringen muss. Trotzdem scheint nun ein dritter Schuldenschnitt, etikettiert als weitere Verringerung des Kapitaldienstes, nur eine Frage der Zeit zu sein. Dies resultiert aber weniger aus der finanziellen Situation Griechenlands als vielmehr aus seiner realwirtschaftlichen Misere: Die griechische Volkswirtschaft steckt nach wie vor in einer tiefen Krise und die von der Troika durchgesetzten Reformen haben bisher zu keiner durchgreifenden Besserung geführt. Das in den Medien so überschwänglich gefeierte Wachstumsplus von 0,7 Prozent beruht auf einer Täuschung, da in Griechenland Deflation herrscht. Sinkt das nominale BIP weniger als das Preisniveau fällt, so ergibt sich rechnerisch ein positiver realer Zuwachs. Davon kommt im Staatshaushalt und bei den Menschen aber nichts an. Bei Lichte besehen erweist sich dieses Wachstum als „Fata Morgana“.
Aber wie soll die griechische Volkswirtschaft auch wachsen? Die Landwirtschaft ist wenig produktiv und ohnehin kein Wachstumsträger. Der Tourismus war bislang, verglichen mit den Nachbarländern, entschieden zu teuer, um expandieren zu können. Dies ließe sich nur durch eine Verringerung der Lohnkosten verändern. Die Industrie besitzt keine eigene Basis. Sie beruht auf Öl- und anderen Importen und prosperiert daher bestenfalls in Hochzeiten der Weltkonjunktur. Gleiches gilt für das Transportwesen, die Werften, die Reedereien und so weiter. Auf dieser Grundlage fällt es nicht leicht, einen „New Deal“ zu formulieren. Gelingt es aber nicht, geeignete Felder für eine wirtschaftliche Entwicklung zu finden, so bleibt die Forderung nach einem „europäischen New Deal“ für Griechenland leere Rhetorik.
Liest man den Brief von Alexis Tsipras, verfolgt seine Reden im Parlament und prüft seine Reformvorstellungen, so muss man ihm Achtung und Anerkennung für sein mutiges Vorgehen entgegenbringen. Es wird deutlich, dass die Griechenlandfrage eine Frage von europäischer Dimension ist und ein Problem, das neben der ökonomischen auch eine politische, historische, kulturelle und moralische Seite besitzt. Letztlich aber muss es ökonomisch gelöst werden. Und da ist die Logik ziemlich einfach: Wenn eine Volkswirtschaft nicht wettbewerbsfähig ist und keine Möglichkeit hat, diese über den Währungsmechanismus herzustellen, sprich: über eine Abwertung der Landeswährung, dann bleibt ihm nur ein Weg, um dies erreichen, nämlich die „innere Abwertung“ mittels Lohnsenkungen. Die Absenkung der Sozialeinkommen ist eine Folge davon, ebenso wie der Einbruch der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage und die Deflation. Im Prinzip ist dies das Programm, das die Troika in Griechenland praktiziert hat. Ob dabei „des Guten“ zu viel getan wurde und die Austeritätspolitik das Land in „einen tragischen Zustand“ geführt hat, wie Tsipras schreibt, oder ob das Programm gescheitert ist, weil Griechenland, anders als Irland und Portugal, die getroffenen Vereinbarungen „so gut wie nie erfüllt hat“, wie am 6. Februar in der F.A.Z. zu lesen war, soll dahingestellt bleiben. Tatsache ist, dass die Programmphilosophie, allein durch Sparen aus der Krise zu finden, gescheitert ist. Was fehlt, sind Investitionen in Zukunftsbranchen und ein Konzept, das darauf abzielt, aus den Schulden herauszuwachsen. Ein Schuldenmoratorium, ein Überbrückungskredit und Liquiditätshilfen der EZB können dabei helfen, lösen müssen das Problem aber die griechische Wirtschaft und der griechische Staat selbst.
Der „Offene Brief von Alexis Tsipras an Deutschland“ ist in deutscher Übersetzung nachlesbar auf: https://cooptv.wordpress.com/2015/01/31/offener-brief-von-alexis-tsipras-an-deutschland/ .
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Schlagwörter: Alexis Tsipras, Austeritätspolitik, Griechenland, Schuldenschnitt, Staatsbankrott, Ulrich Busch