17. Jahrgang | Nummer 26 | 22. Dezember 2014

Eine bedeutende argentinische Philosophin

von Wolfgang Brauer, aus Buenos Aires

Im zu Ende gehenden Jahr 2014 erhielt der argentinische Cartoonist Joaquín Salvador Lavado Tejón den in der iberischen Welt hoch angesehenen Prinz-von Asturien-Preis im Bereich Kommunikation und Humanwissenschaften. Damit befindet sich der Zeichner in einer ehrenwerten Gesellschaft, der unter anderem Václav Havel, Hans Magnus Enzensberger und Umberto Eco angehören. Ihnen sagt der Name Tejón nichts? Gut, bekannt wurde er auch unter seinem Künstlernamen „Quino“. Quino ist die spanische Fassung von China. Diese Übersetzung führt aber in die Irre. Quino ist auch ganz banal die Koseform von Joaquín. Die Familie wollte den Knaben nicht andauernd mit seinem gleichnamigen Onkel verwechseln. Quino sagt Ihnen auch nichts? Das ist bedauerlich. Sollten ihre Kinder oder Enkel aber Spanisch lernen – so fragen sie doch einfach die! Fragen Sie nach Quinos bekanntestem Kind, fragen Sie nach Mafalda! Oder noch besser: Erkundigen Sie sich beim erstbesten Argentinier oder der nächsten Argentinierin, die ihren Weg kreuzt, nach ihr. Sie werden eine bemerkenswerte Verwandlung erleben: Die unnahbar scheinendsten Augen beginnen zu leuchten, und man öffnet Ihnen das Herz…
Das Wunder vollbrachte ein kleines Mädchen, das im zarten Alter von sechs Jahren am 29. September 1964 in der argentinischen Wochenzeitung Primera Plana das Licht der Welt erblickte und ab März 1965 täglich in einem Comic strip bei El Mundo auftauchte. Ende 1967 machte El Mundo dicht – und Mafalda wechselte Anfang 1968 zu Siete Dias. Dort begrüßte sie ihre Leser mit einem langen Brief. Darin erklärte sie, was sie mag (die Beatles natürlich) und was nicht: „Von den Sachen, die ich nicht mag, steht an erster Stelle Suppe, danach die Frage ob ich meinen Vater mehr mag als meine Mutter, die Hitze und die Gewalt. Daher möchte ich, wenn ich groß bin, Übersetzerin bei der UNO werden. Aber wenn sich die Botschafter streiten, werde ich genau das Gegenteil übersetzen, damit die sich besser verstehen und es endlich Frieden gibt.“ Natürlich gefällt ihr der Zustand der Welt überhaupt nicht: „Haltet die Welt an, ich will aussteigen!“ – „Ja, ja, ich weiß! Es gibt eben mehr Problemerfinder als Problemlöser“, stellt sie im Dialog mit einem Schulglobus fest. Und Mafalda konstatiert zugleich die Unfähigkeit der Wissenschaft, ihr auf ihre existenziellen Fragen eine Antwort zu geben. Wenn das Lexikon sie darüber aufklärt, dass die Welt „vom althochdeutschen Wort Weralt“ (im spanischsprachigen Original wird das lateinische „mundus“ strapaziert) komme, ist sie empört. Sie will nicht wissen, woher die Welt kommt, sie will wissen, wohin sie geht.
Mafalda hasst Ameisen. Ameisen beißen. Ihren Freund Felipe belehrt sie, dass man aber für einen Mückenstich Verständnis haben müsse: „Eine Mücke sticht für ihren Lebensunterhalt!“ Mafalda ist eine große Philosophin und möchte gerne wissen, was Philosophie ist. Zu ihrem großen Glück durfte sie das nie erfahren. 1973 stellte Quino die Serie ein. Nur 1977 durften Mafalda und ihre Freunde für die UNICEF noch einmal in einem Sonderband erscheinen.
Jetzt feierte Mafalda – nein, Argentinien feierte ihren 50. Geburtstag. Immerhin erschienen allein dort 20 Millionen Exemplare ihrer Comic-Bücher. Übersetzt wurden sie in 26 Sprachen! Im zu einem Kulturzentrum umgebauten ehemaligen Dieselkraftwerk im Hafenviertel von La Boca war ihr eine große Ausstellung „Mafaldas Welt“ gewidmet. Für die Kinder aller Altersstufen natürlich mit kostenlosem Eintritt. Und gleich am Eingang eine Wand, an der die jetzigen Kinder von Buenos Aires mit einer gigantischen Patchwork-Installation selbstgefertigter bunter Kuschelkissen ihrer ewig jungen Freundin Danke sagten… Selbstverständlich wurde ihrer Suppen-Aversion („Ich weiß ja, es wird heute Abend wieder Suppe geben. Ich hasse Suppe, aber ich nehme das jetzt mal philosophisch…“) gebührender Raum gewidmet. Und eine große Abteilung mit mehr oder weniger zermanschten Globen widmete sich dem Zustand des Erdballs.
Es gibt wohl wenige „Kinder“-Comics, die so heftig und zugleich charmant mit den Fingern in den bösesten Wunden unserer Gesellschaft herumstochern. Mafalda sieht eine Taube auf einem Baum sitzen und will von ihr wissen, ob sie die Friedenstaube sei. Der Vogel antwortet nicht. Mafalda: „Es lebe die Aggression und die Bombe!“ Die Taube lässt mit lautem Platsch etwas auf Mafalda fallen. Die (glücklich): „Sie ist’s!“
„Mafaldas Welt“ schloss am 30. November die Pforten, aber es gibt ihre Bücher. Auch in deutscher Übersetzung. Und man kann sie besuchen. Im Stadtteil San Telmo – das ist die Gegend, aus der der Tango kommt – sitzt sie an der Ecke Defensa/Chile fröhlich auf einer Bank, seit kurzem von Manolito (der so gerne Millionär werden möchte) und Susanita (die will einmal gerne reich heiraten und verabscheut die „Negros“, die Armen, und ist auch sonst ein bisschen doof) flankiert. Auf ihrer Bank ist theoretisch immer ein Plätzchen frei. Praktisch, auch im strömenden Regen, nie. Da will immer jemand ein Foto mit Mafalda für das Familienalbum… Auch der Autor hat sich dort einen nassen Hosenboden geholt und war glücklich darüber.
Ich bin mir nicht sicher, welcher Beitrag Argentiniens zur Weltkultur bedeutender ist: der Tango oder Mafalda. Aber vermutlich wäre Mafalda heute, hätte Quino ihr nicht auf ewig und immer 1973 ein Alter von acht Jahren verordnet, eine bedeutende Philosophin – und eine große Tangotänzerin. Wenige Meter neben ihrer zauberhaften Bank befindet sich eines der faszinierenden Tanzlokale San Telmos.

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