17. Jahrgang | Sonderausgabe | 15. Dezember 2014

„So haben wir gelebt“

von Manfred Orlick

Seit Jahren ist die Fotografie der DDR fester Bestandteil des Verlagsprogrammes des Leipziger Lehmstedt Verlages. Einige Bildbände mit wichtigen Vertretern der DDR-Fotografie sind hier bereits erschienen, nun zwei repräsentative Bände, die die ungeschminkte Realität im Arbeiter- und Bauernstaat vom Kriegsende 1945 bis zu seinem Zusammenbruch 1990 zeigen – oder wie der Herausgeber Mathias Bertram in seinem Vorwort betont: „Am Anfang und am Ende stehen Bilder des Scheiterns“.
Der erste Band umfasst den Zeitraum zwischen 1945 und 1975 und beleuchtet neben der Vorgeschichte der DDR vor allem deren frühen Jahre, der zweite Band ist den späten Jahren bis 1990 gewidmet. Eine Unterteilung die bewusst gewählt wurde, denn die Mitte der 1970er Jahre war mit der Biermann-Ausbürgerung eine wichtige Zäsur in der Kulturpolitik, ja in der Geschichte der DDR. Die beiden Bände versammeln rund 350 Schwarz-Weiß-Fotografien von über sechzig Fotografen, unter ihnen so bekannte Namen wie Roger Melis, Sybille Bergemann, Harald Hauswald, Helga Paris, Arno Fischer oder Thomas Billhardt. Daneben sind auch Fotoreporter von Zeitungen und Zeitschriften vertreten oder Studentenarbeiten der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig – und schließlich auch Autodidakten, die frei von irgendwelchen Rücksichten ihre Fotos machten.
Die Fotografien der beiden Bände vermitteln Eindrücke vom Leben und dem Alltag in der DDR, ungeschönt und abseits des propagandistischen Bildes, das die Staatsmedien zu vermitteln suchten. Fern dieser ideologischen Wunschvorstellungen zeigen die Fotos „das pure Leben“. Sie fangen das Wesentliche in subtilen Stimmungen ein, die Menschen und ihr Zusammenleben. Ob Trümmerfrauen oder spielende Kinder, ob ein Hochzeitspaar vor einer unsanierten Häuserfront, ob eine Geburtstagsfeier unter Bäuerinnen am Feldrain, der trauernde Witwer auf dem Friedhof oder die Kontrolle der Plaste-Milchtüten in der Kaufhalle – diese alltäglichen Szenen finden sich neben politischen Aufnahmen wie der gelangweilter Arbeiter während einer Parteiversammlung, einer Ausweiskontrolle am Berliner Alexanderplatz oder weinender Mütter bei der Vereidigung ihrer Söhne zum NVA-Grundwehrdienst. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre tauchen auch die ersten „Protestfotos“ vom Zerfall der Bausubstanz oder der Umweltverschmutzung auf. Den Abschluss bilden Fotos von der Silvesterfeier 1989/90 am Brandenburger Tor.
Das zweibändige Panorama hält 45 Jahre DDR-Leben fotografisch fest, lebendig und authentisch, von den Entbehrungen der Nachkriegszeit über die zaghaften Hoffnungen und Wünsche zu Beginn der 1970er Jahre bis zur Ernüchterung in den letzten Jahren vor der Wende. Die Fotografen hatten dafür immer einen skeptischen, aber durchaus freundlichen Blick.
Komplettiert wird diese außergewöhnliche und berührende Reise in den Alltag der DDR durch ein ausführliches Vorwort des Herausgebers und durch biografische Notizen zu den Fotografen. Wer erfahren will oder sich erinnern möchte, wie die DDR wirklich war, erhält hier eine Dokumentation mit Anschauungsmaterial, das zum Nachdenken anregt.

Mathias Bertram (Herausgeber): Das pure Leben. Fotografien aus der DDR, Band 1 Die frühen Jahre 1945-1975, Band 2 Die späten Jahre 1975-1990, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2014, jeweils 200 Seiten, je Band 24,90 Euro.