17. Jahrgang | Nummer 25 | 8. Dezember 2014

Frieden muss gestiftet werden.
Exempel Kosovokrieg oder: das Völkerrecht als Gegner

von Daniela Dahn

In einer Zeit, in der einerseits die Schuld am Ersten Weltkrieg den „Schlafwandlern“ aller Staaten zugeschrieben und Deutschland damit elegant entlastet wird, in der Buchtitel wie „Krieg. Wozu er gut ist“ an renommierten Universitäten erscheinen und andererseits die rhetorische und praktische Mobilmachung wieder nach Europa zurückgekehrt ist, erscheint ein Gespräch über Frieden fast wie ein Luxus. Ein unentbehrlicher allerdings, weshalb den Initiatoren zu danken ist, dass sie die diesjährigen Friedensgespräche unter das Kantsche Motto, Frieden „muss gestiftet werden“, gestellt haben.
Die Frage, ob derzeit Frieden oder Krieg gestiftet wird, ist allerdings offen. Offen ist auch, wer die Deutungshoheit darüber gewinnt. Erleben wir mit dem Islamischen Staat (IS) wirklich den „Rückfall in die Barbarei“, wie unser Außenminister überzeugt ist? Immerhin gleicht ihr Fundamentalismus dem der wahabitischen Sunniten in Saudi-Arabien, unserem verbündeten Handelspartner. Doch Bild weiß alles, über die „geisteskranken“ Terroristen, die „Blutbäder“ anrichten und ledige Mädchen vergewaltigen. Jedoch: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Das gezielte Töten von Journalisten – es ist noch nicht so lange her, dass auch die NATO das getan hat – nur gibt es davon keine sadistischen Videos. Ich komme darauf zurück.
Auch im Informationskrieg zur Ukraine sind von Anfang an von allen Seiten Nebelkerzen zur Kaschierung geostrategischer Interessen geworfen worden, was eine objektive Sicht erschwerte. In Chats und Kommentaren kam es gegen die einseitige Berichterstattung zu einem Aufstand der Leser und Zuschauer, die die Fakten checkten und sich nicht selten als besser informiert erwiesen als die Journalisten. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin beklagte, dass „die deutschen Medien auffallend wenig Resistenz gegen eine Ideologisierung der Außenpolitik des Westens“ haben. Es fehle an kritischer Distanz gegenüber NATO- und CIA-gesteuerten Informationen. Er sprach von doppelten Standards, gar von „Kriegspropaganda gegen Putin“.1
All das ist noch zu unaufgeklärt, um hier zu gültigen Schlüssen zu führen. Ich will daher meine knappe Zeit einem anderen Kriegsmythos aus jüngerer Zeit widmen, einem klassischen Beispiel dafür, wie willentlich versäumt wurde, Frieden zu stiften. Und Schwerter zu Pflugscharen zu machen. Wir dürfen nicht versäumen, daraus zu lernen. Es war ein Krieg ohne UN-Mandat, der also völkerrechtlich als Angriffskrieg gilt, und dennoch auf dem Weg ist, als gerechter, also richtiger Krieg in die Geschichtsschreibung einzugehen. Ich spreche vom Jugoslawienkrieg.

Längst ausgehöhlt: Das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten

Im Geleitwort zu den diesjährigen Friedensgesprächen von Ministerpräsident Stanislaw Tillich wird darauf verwiesen, dass Konflikte wie der auf dem Balkan verdeutlichen, „dass ein einmal erreichter Friede immer wieder unseren Einsatz erfordert, damit er erhalten bleibt“. Aber: Wenn der vermeintliche Friede nicht von selber hält, dann war er wohl keiner. Die Vorstellung, man könne überall durch permanenten Einsatz nach eigenem Bilde formen, ist allzu verführerisch. Verantwortung zeigt sich aber oft gerade darin, keine Konflikte zu schüren.
Das völkerrechtliche Einmischungsverbot in die inneren Angelegenheiten eines Staates ist längst ausgehöhlt. Je kleiner und ärmer ein Staat, je größer seine Abhängigkeit von den Auflagen der Weltbank oder der EU, von Handelsabkommen und Schiedsgerichten, von Militärbündnissen und Waffenlieferungen, von wirtschaftlichem und diplomatischem Engagement. All diese Hebel hat der Westen auch an das im Zerfall befindliche Jugoslawien angesetzt, worauf hier nur stark verkürzt eingegangen werden kann.
Anfang der 1990er Jahre hat Cyrus Vance, einstiger Außenminister unter Jimmy Carter, der zu dieser Zeit in EU-Missionen auf dem Balkan war, deutsche Politiker wie Egon Bahr inständig gebeten: „Tun Sie alles Ihnen Mögliche, damit es in Deutschland nicht verfrüht zu einer Anerkennung von Slowenien und Kroatien kommt. Das einzige Ergebnis werden Separation, ethnische Säuberungen und Krieg sein.“ Schließlich sei Kroatien zuvor nur ein einziges Mal ein separater Staat gewesen, zwischen 1941 und 1945, unter der Ustascha-Armee, die eine Marionette der Nationalsozialisten war. Die schnelle Anerkennung auf Drängen Deutschlands erfolgte und der von Vance prophezeite Bürgerkrieg flammte auf.
Die furchtbare Belagerung Sarajevos durch serbische Truppen war die Folge der Unabhängigkeitserklärung Bosnien-Herzegowinas, die der Westen im Frühjahr 1992 wiederum sofort nach Ausrufung anerkannte, was ebenfalls eine militärische Eskalation aller am Bürgerkrieg beteiligten Seiten nach sich zog. Im Süden Europas begannen nicht mehr für möglich gehaltene Vertreibungen und Morde der verfeindeten Volksgruppen, Plünderungen, Brandschatzungen und Zerstörungen religiöser und historischer Kulturgüter.
Schon bald verbreitete die CIA, dass 70 Prozent der Kriegsverbrechen von Serben ausgegangen seien. Die NATO ergriff in diesem Bürgerkrieg einseitig Partei und bombardierte militärische Ziele und Infrastruktur der bosnischen Serben. Das Konstrukt der „humanitären Intervention“ in Gegenden, die man zuvor durch Waffenlieferungen wie auch durch geheimdienstliche und finanzielle Unterstützung von Oppositionsgruppen kräftig aufgemischt hatte, bot ihr nach dem Untergang des kommunistischen Gegners neue Aufgaben. Nicht zuletzt das Massaker von Srebrenica, bei dem drei Jahre später Armeeangehörige der Republik Srpska, Polizei und serbische Paramilitärs vermutlich 8.000 Bosniaken umbrachten, gilt bis heute als Beleg für die Notwendigkeit „humanitärer Interventionen“, zu denen sich die niederländischen UN-Blauhelme nicht in der Lage sahen. Stattdessen unterzeichneten die Präsidenten Izetbegovic´ für Bosnien-Herzegowina, Milošević für Serbien und Tudjman für Kroatien im Dezember 1995 das Friedensabkommen von Dayton.
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag urteilte zwölf Jahre später, dass Serbien zwar keine direkte Verantwortung für die Verbrechen in Bosnien trage, wertete das Massaker aber als schwerstes Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, ja erstmalig in seiner Rechtsprechung als Völkermord. Gegen diese Darstellung erhob sich international Widerspruch – prominent vor allem in den USA. Dort gründete sich die Srebrenica Research Group, zu der Philip Corwin gehört, höchster UN-Vertreter in Bosnien bis 1995. In seinem Buch „Dubious Mandate“ (Zweifelhaftes Mandat) schrieb er: „Was in Srebrenica geschah, war nicht ein einziges, großes Massaker von Serben an Moslems, sondern eine Serie von sehr blutigen Angriffen und Gegenangriffen über eine Zeitspanne von drei Jahren, die im Juli 1995 ihren Höhepunkt erreichte.“2
Zu den namhaften Kritikern der Gruppe gehört auch Edward S. Herman, Medien- und Finanzanalyst und bekannt durch das mit Noam Chomsky geschriebene Buch: „Manufacturing Consent“. (Darin werden die Massenmedien der USA als mächtige ideologische Institutionen beschrieben, die systemstützende Propaganda verbreiten.) Die Ermittlung der tragischen Ereignisse sei einseitig gewesen, Zeugenaussagen wurden erpresst und Beweise manipuliert. Wie etwa das von Madeleine Albright, damals US-Botschafterin bei der UNO, präsentierte Satellitenfoto von angeblichen Massengräbern. Sein Fazit: „Das ‚Massaker von Srebrenica‘ ist der größte Propagandatriumph, der aus den Balkankriegen hervorgegangen ist.“3
Für das Verständnis ist wichtig: So grausam die Kämpfe in Srebrenica in jedem Fall waren, sie hatten keinen ursächlichen Zusammenhang zu dem vier Jahre später geführten Krieg in Rest-Jugoslawien.
Wie war die Situation zu Beginn des NATO-Krieges? Im Kosovo des Jahres 1999 deutete trotz einzelner Feuergefechte nichts darauf hin, dass sich ähnlich Dramatisches wie in Srebrenica wiederholen könnte. Die angeführten Gründe, die einen Bombenkrieg rechtfertigen sollten, waren genauso erlogen wie später die angeblichen Massenvernichtungswaffen im Irak.

„Völkermord“ zur Kriegslegitimation

„Ich habe als einer der Ersten von der drohenden Gefahr des Völkermordes gesprochen“, brüstete sich Verteidigungsminister Rudolf Scharping im Spiegel mit seinem gezinkten Hufeisenplan.4 Außenminister Fischer bemühte bekanntlich gar den Auschwitz-Vergleich. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bilanzierte seinerzeit: „Nur einen legitimen Grund gibt es für die Bomben auf Jugoslawien: die Verhinderung eines Völkermordes“.
Dass dies Propaganda war, bewies die noch während des Krieges veröffentlichte Anklageschrift des Haager Tribunals, die der Regierung unter Slobodan Milošević zum Ärger so mancher Politiker keinen Völkermord im Kosovo zur Last legte. „Als Chefanklägerin Carla del Ponte von ‚Le Monde‘ gefragt wurde, warum dieser Anklagepunkt fehle, musste sie zugeben: ‚Weil es keine Beweise dafür gibt.‘“5 Damit war die Legitimation des Angriffs schon Wochen vor Ende des Bombardements entfallen.
Das war nicht überraschend, alle internen Berichte hatten darauf hingewiesen, dass 1998 nichts anderes als ein mit einseitigen Schuldzuweisungen nicht zu beschreibender Bürgerkrieg im Gange war. Ein Bericht des Auswärtigen Amtes vom November 19986 gibt für sein Entstehen folgende Erklärung: Seit Ende 1995 wurden im Zuge des Friedensabkommens insgesamt 200.000 serbische Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien auf Jugoslawien verteilt, zehntausend auch im Kosovo, weniger als anderswo. Dies werteten die Kosovo-Albaner in ihren Medien als erneuten Versuch der Kolonialisierung.
Seit Entstehung der kosovarischen UÇK 1996 wurde diese Kampfgruppe eng vom BND betreut, der eine seiner größten Regionalvertretungen in Tirana einrichtete. Das ARD-Magazin Monitor sendete am 9. Juni 1998 ein Interview mit einem MAD-Mitarbeiter, der die Lieferung von Waffen im Wert von zwei Millionen Mark an die Albaner als „von ganz oben“ erwünscht bezeichnete. Trotz des UN-Waffenembargos rüsteten auch die USA die albanische UÇK mit illegal nächtlich eingeflogenen Waffen auf.
Seit April 1998 häuften sich Anschläge der vom Westen aufgerüsteten UÇK auf Polizeistationen. Da mancherorts die Polizei floh und auch Verwaltungsämter und Post ihre Arbeit einstellten, konnten die Freischärler die dortige serbische Zivilbevölkerung angreifen und „befreite Gebiete“ ausrufen. Erst da begannen die jugoslawische Armee und paramilitärische Einheiten mit exzessiver Gewalt zurückzuschlagen. „Politisch aktive albanische Volkszugehörige werden nicht wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, sondern als ‚Separatisten‘ verfolgt“, so der Bericht des Auswärtigen Amtes. Das bestätigten auch die OSZE-Beobachter vor Ort. Ende 1998 habe es keine größeren Kämpfe zwischen den Parteien mehr gegeben, sondern einzelne Überfälle und Feuergefechte, für die man sich gegenseitig verantwortlich machte. Es gäbe keine Flüchtlinge mehr im Freien, die Rückkehr sei gestiegen, wenn auch regional unterschiedlich.7 Noch zwei Tage vor Kriegsbeginn hieß es im Lagebericht der Bundeswehr: „Tendenzen zu ethnischen Säuberungen sind weiterhin nicht zu erkennen.“
Eindeutig auch die Aussage der im Kosovo eingesetzten US-Diplomatin Norma Brown: „Bis zum Beginn der NATO-Luftangriffe gab es keine humanitäre Krise. Sicher, es gab humanitäre Probleme, und es gab viele Vertriebene durch den Bürgerkrieg. Aber das spielte sich so ab: Die Leute verließen ihre Dörfer, wenn die Serben eine Aktion gegen die UÇK durchführten – und kamen danach wieder zurück. Tatsache ist: Jeder wusste, dass es erst zu einer humanitären Krise kommen würde, wenn die NATO bombardiert.“8

Es kam, wie es kommen sollte

Es kam genau so, doch weiß das heute jeder? Es liegt mir fern, den Anteil der Serben an dem Konflikt zu verharmlosen. Verfehlungen hat selbst Milošević, während des Krieges, am 30. April 1999 in einem UPI gegebenen Interview eingeräumt: „Wir sind keine Engel. Aber wir sind auch nicht die Teufel, die zu sein ihr uns auserkoren habt. Unsere regulären Streitkräfte sind überaus diszipliniert. Anders verhält es sich mit den irregulären paramilitärischen Einheiten. Es sind schlimme Dinge passiert. Wir haben solche irregulären, selbst ernannten Führer verhaftet. Einige von ihnen sind bereits angeklagt und zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden.“
Sicherlich ist es dabei längst nicht immer rechtsstaatlich zugegangen. Milošević wollte die staatliche Unabhängigkeit des Kosovo um jeden Preis vermeiden. Deshalb ließ er vermutlich die anarchischen Paramilitärs, dieses Pendant zur UÇK, auch Rache an der Zivilbevölkerung nehmen.
Es ist bitter genug, auch 15 Jahre nach dem Krieg noch auf Vermutungen angewiesen zu sein. Kaum glaubte ich verstanden zu haben, dass die NATO wegen des serbischen Massakers an 44 albanischen Zivilisten in Racak eingreifen musste, legten die Untersuchungen der finnischen Pathologin Helen Ranta nahe, dass es sich um eine arrangierte Szene handelte. Als deren Urheber brandmarkte Miloševićs Pflichtverteidiger später die CIA.
Überhaupt Den Haag: Die Hauptbelastungszeugen sind umgekippt oder haben sich erhängt. 40 Stunden vor Ende der vierjährigen Beweisaufnahme ist Milošević (vermutlich wegen der Einnahme falscher Tabletten) gestorben. Der britische Chefankläger Geoffrey Nice schien erleichtert: „Das Ende der Verhandlungen wäre eine Katastrophe geworden. Ein Urteil, das keinen Bestand gehabt hätte.“9 Auf einen Abschlussbericht des Gerichts wartet man bis heute vergeblich.

Fremdkörper Serbien und die Gleichschaltung der Medien

Der Gründungsvater der Friedensforschung, der Norweger Johan Galtung, nannte als wirklichen Kriegsgrund die Disziplinierung des „Fremdkörpers“ Serbien als letztes mit Russland und China verbundenem Land in Europa, das sich der neoliberalen Globalisierung widersetzt.
Solche Erklärungen hatten keine Chance, gehört zu werden, für eine weitgehende Gleichschaltung der öffentlichen Meinung war gesorgt. Die Buchautoren Mira Beham und Jörg Becker10 haben 31 PR-Agenturen erfasst, die für alle nichtserbischen Kriegsparteien tätig waren. Allein Kroatien gab mehr als fünf Millionen US-Dollar an US-Agenturen, um die öffentliche Meinung in seinem Sinn zu beeinflussen. Propaganda-Ziele dieser Agenturen waren unter anderem: Darstellung der Serben als Unterdrücker und Aggressor, wobei sie mit den Nazis gleichzusetzen und entsprechend emotional geladene Begriffe zu etablieren sind; Darstellung der Kroaten und Bosnier als unschuldige Opfer, wobei die Eroberung der serbischen Krajina als legal hinzustellen ist; Völkermordanklage gegen Jugoslawien und Milošević in Den Haag; günstige Verhandlungsergebnisse für die albanische Seite in Rambouillet und Sezession Montenegros.
Besonders hervorgetan hat sich die PR-Agentur Ruder Finn aus Washington, D.C. Ihr Direktor James Harff prahlte im französischen Fernsehen, wie professionell sie einen Artikel aus dem New York Newsday über serbische Lager aufgegriffen hätten: „Es gehört nicht zu unserer Arbeit, den Wahrheitsgehalt von Informationen zu prüfen. Unsere Aufgabe ist es, uns dienliche Informationen schneller zu verbreiten. Wir überlisteten drei große jüdische Organisationen und schlugen vor, dass diese eine Annonce in der New York Times veröffentlichen und eine Demonstration vor der UNO organisieren. Das war ein großartiger Coup. Als die jüdischen Organisationen in das Spiel auf Seiten der muslimischen Bosnier eingriffen, konnten wir sofort in der öffentlichen Meinung die Serben mit den Nazis gleichsetzen. Niemand verstand, was in Jugoslawien los war. Mit einem einzigen Schlag konnten wir die einfache Story von den guten und den bösen Jungs präsentieren, die sich ganz von allein weiterspielte. Niemand konnte sich mehr dagegen wenden, ohne des Revisionismus angeklagt zu werden. Wir hatten hundert Prozent Erfolg.“11
Ob Verteidigungsminister Scharping das Blaue vom Bombenhimmel log oder sich in seiner Einfalt belügen ließ, werden wir nicht mehr erfahren. Untermalt von gefälschten Fotos des Fußballstadions in Priština, die die Agentur Ruder Finn verbreitete, brachte er die Mär von Konzentrationslagern auf. Er behauptete, von den Serben „werden Selektionen vorgenommen, und ich sage bewusst Selektionen“, und er schreckte nicht davor zurück, die „Ermordung der geistigen Elite“ zu beklagen. Die als ermordet gemeldeten Albaner tauchten jedoch später wieder auf.

Wie man die Gegenseite zum Schweigen bringt

Während die eigenen Informationen manipuliert wurden, sollten die Informationen der Gegenseite ganz verschwinden. Sender und Journalisten als Angriffsziele zu bestimmen, ist nach dem Genfer Abkommen verboten. Doch in der Nacht des 23. April 1999 griff die NATO ohne Vorwarnung den Hauptsitz der serbischen Radio- und Fernsehgesellschaft RTS im Zentrum Belgrads an. Die intelligente Bombe traf zielgenau ins Erdgeschoss, um dann von unten nach oben alle Etagen zu durchbohren. Das Dach blieb unversehrt, aber die darunter waren, hatten keine Chance. 16 Hingerichtete und eine größere Zahl von Verletzten waren zu beklagen.
In einem Interview mit der BBC vom 12. März 2000 erklärte Tony Blair, der Angriff auf den RTS sei notwendig geworden, weil auch westliche Sender die Videos von zivilen Opfern übernommen hätten. „Das ist eines der Probleme, wenn man in einer modernen Kommunikations- und Informationsgesellschaft Krieg führt. Uns war klar, dass diese Bilder auftauchen und eine instinktive Sympathie für die Opfer bewirken würden.“
So hatte die NATO in Djakovica eine Kolonne albanischer Flüchtlinge beschossen, 75 Menschen starben, darunter viele Kinder. NATO-General Clark beschuldigte die jugoslawische Luftwaffe. Als aber Teile von Bomben amerikanischer Herkunft im Fernsehen gezeigt wurden, behauptete er, es habe sich um einen Militärkonvoi gehandelt. Doch da gingen die RTS-Bilder von den verkohlten Planwagen der albanischen Bauern schon um die Welt.
Mit seiner Begründung stand Blair im Widerspruch zur britischen Verteidigungsdoktrin, die festschreibt: „Die Moral der Zivilbevölkerung des Feindes ist kein legitimes Ziel.“ Und auch im Handbuch der deutschen Bundeswehr heißt es: „Erhebt man die direkte Einwirkung auf den Kriegswillen der gegnerischen Bevölkerung zum legitimen Ziel militärischer Gewaltanwendung, so kann es im Ergebnis […] keine Grenzen der Kriegführung mehr geben.“
Als das jugoslawische Fernsehen dem europäischen Satellitenfernsehen immer noch Bilder lieferte, die geeignet waren, Behauptungen der NATO zu widerlegen, beschloss auf deutsche Initiative das europäische Satelliten-Konsortium, das Signal des jugoslawischen Fernsehens abzuschalten. „Seit gestern Abend ist die Berichterstattung über die NATO-Angriffe eingeschränkt. Bilder von getöteten Zivilisten und verwüsteten Wohnhäusern“, so meldete die ARD-Tagesschau am 27. Mai, „werden künftig nicht mehr zu sehen sein.“12
Gab es keinen Widerspruch? An der Abstimmung über das Mandat des Bundestages für den Bundeswehreinsatz hatte sich der damalige Justizminister Edzard Schmidt-Jorzig (FDP) couragierterweise nicht beteiligt. Seinen Protest gegen die „völkerrechtswidrige Kabinettsvorlage“ gab er zu den Akten. Eine lobende Erwähnung für ihre ablehnende Haltung verdienen auch Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP, Peter Gauweiler von der CSU, Oskar Lafontaine und Hermann Scheer von der SPD, die gesamte PDS-Fraktion und Willy Wimmer von der CDU, der von einem „ordinären Angriffskrieg“ sprach.
In einer Erklärung des Willy-Brandt-Kreises forderten wir am 16. April 1999 die Einstellung des Bombardements: „Die Luftschläge wurden mit dem Ziel begonnen, Jugoslawien zur Zustimmung eines von der NATO garantierten Autonomiestatus für die Kosovo-Albaner zu zwingen. […] Jede Maßnahme ist dann nicht mehr verhältnismäßig, wenn ihre direkten und indirekten Folgen und Nebenwirkungen, insgesamt betrachtet, mehr zerstören als schützen. Der Krieg der NATO ist rechtlich, militärisch und planerisch dilettantisch vorbereitet und durchgeführt – zu Lasten der Opfer, die es zu retten gilt.“
Obwohl die Erklärung unter anderem von so namhaften Leuten wie Egon Bahr, Günter Gaus, Oskar Negt, Klaus Staeck und dem Friedensforscher Dieter S. Lutz unterzeichnet war, nahm sie uns keine größere Zeitung ab. Auch wenn die Presse zunehmend kritische Fragen stellte, zugespitzte Antworten von Intellektuellen störten. Wie einst die von Thomas Mann im Angesicht des Zweiten Weltkriegs: „Krieg ist nichts als Drückebergerei vor den Aufgaben des Friedens.“

Kein Frieden ohne akzeptables Verhandlungsangebot

Wenn Frieden gestiftet werden muss, dann hätte dazu ein für beide Konfliktparteien akzeptables Verhandlungsangebot gehört. In Rambouillet wäre die Chance gewesen, Schwerter zu Pflugscharen zu machen. Es war eben keine „unbestreitbare Tatsache, dass die Belgrader Führung, und nur sie, die diplomatischen Bemühungen hat scheitern lassen“, wie Kanzler Schröder bei Abbruch der Friedensgespräche im März 1999 behauptete. Dem politischen Teil des Abkommens hatte Milošević nämlich im Gegensatz zu den albanischen Kosovaren zugestimmt. Doch die NATO-Staaten haben gewusst, weshalb sie den erpresserischen militärischen Teil des Abkommens geheim gehalten haben. Erst nachdem Bomben drei Wochen lang vollendete Tatsachen geschaffen hatten, sickerte durchs Internet, welch unverhandelbares Diktat den Serben da zugemutet worden war: totaler NATO-Besatzungsstatus für ganz Jugoslawien, was „das Recht auf Errichtung von Lagern“ einschließen sollte und für die NATO Immunität vor jugoslawischen Gerichten für alle zivil- oder strafrechtlichen Vergehen, die ihre Angehörigen „möglicherweise in der Bundesrepublik Jugoslawien begehen“.
„Es war unvorstellbar für uns“, sagte Milošević in jenem UPI-Interview, „dass unsere Ablehnung des Teils des Abkommens, über den mit uns nicht einmal verhandelt worden war, als Ausrede benutzt würde, um uns zu bombardieren.“ Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein kommentierte: „Die USA hatten in Rambouillet militärische Bedingungen gestellt, die kein Serbe mit Schulbildung hätte unterschreiben können.“ Für ihn war das Ganze ein „Rückfall in die Steinzeit“.
Die meisten deutschen Intellektuellen blieben sprachlos. Der Krieg war ein Meister in Rot-Grün. In dieser Situation schien es vielen geboten, Vernunft durch Moral zu ersetzen. Also Gesetze, Chartas, Verträge, Verfassungen, Statuten durch Empörung. Gibt es einen Krieg, der nicht mit einer moralischen Begründung begonnen wurde?

Das kalte Desinteresse an den Folgen des Angerichteten

Was mich an den befürwortenden Politikern, Wissenschaftlern, Juristen und Journalisten besonders erstaunte, war das kalte Desinteresse daran, nach dem Krieg die Folgen des Angerichteten zur Kenntnis zu nehmen. Von formulierten Lehren für Künftiges ganz zu schweigen. Die Antworten der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der PDS, eingereicht ein Jahr nach dem Krieg, sind ernüchternd:

Frage: Wie viele Menschen sind bei den Luftangriffen der NATO getötet worden?
Antwort: Die Anzahl ist der Bundesregierung nicht bekannt.
Frage: Wie viele Menschen wurden bei den Luftangriffen verstümmelt oder verletzt?
Antwort: Die Anzahl ist der Bundesregierung nicht bekannt.
Frage: Wie viele Brücken wurden zerstört?
Antwort: Über die Anzahl der zerstörten Brücken liegen der Bundesregierung keine Informationen vor.
Frage: Wie viele Krankenhäuser sind bei den Bombardierungen zerstört worden bzw. sind aufgrund der Zerstörung nicht mehr benutzbar?
Antwort: Die Anzahl ist der Bundesregierung nicht bekannt.13

Damit war nicht bewiesen, dass die Regierung tatsächlich nichts wusste, sondern vielmehr, dass sie es nicht als zweckdienlich befand, die Öffentlichkeit aufzuklären. Denn der Krieg hat zwar die Abtrennung des Kosovo, aber keines seiner angeblich humanitären Ziele erreicht. Der Kosovo ist nicht befriedet. Obwohl die EU jährlich 70 Miollionen Euro hineinpumpt, erweist sich der Kleinstaat als nicht lebensfähig. Die Hälfte der Menschen lebt in Armut, 70 Prozent der Jugendlichen sind arbeitslos. Die Situation kann nur durch starke Polizeiverbände der UNO-Verwaltung und Soldaten der NATO-Schutztruppe KFOR unter Kontrolle gehalten werden. Sofort nach dem Krieg wurde, ohne eine Regierung um Erlaubnis zu fragen, im Kosovo der riesige US-Militärstützpunkt Camp Bondsteel errichtet. Neben einem Laura-Bush-Bildungszentrum gibt es dort auch ein Gefangenenlager für Terrorismus-Verdächtige. Der Menschenrechtsbeauftragte des Europarates, Alvaro Gil-Robles, sprach nach einer Inspektion von „schockierenden Zuständen“. Kosovo ist praktisch ein NATO-Protektorat geworden.
Die Lebenssituation in Serbien ist ebenfalls bedrückend. Bei einer Recherchereise habe ich im Ministerium für Infrastruktur ein Fazit der Kriegsschäden und des Wiederaufbaus bekommen, wenn auch nicht alles erfasst sei, wie es dort hieß. Der 78 Bomben-Tage andauernde Krieg gegen Jugoslawien hat danach etwa 1.200 Zivilisten das Leben gekostet, etwa hundert starben durch Streubomben. 235 Fabriken wurden zerstört. Darunter 160.000 Quadratmeter Produktionsfläche der Zastava-Autoproduktion in der Industriestadt Kragujevac.
Dass bei den neun direkten Treffern nur 160 Arbeiter verletzt wurden und niemand sein Leben verlor, war eher ein Wunder als militärische Präzision. Die wäre es gewesen, wenn von dem Werk nur die kleineren Betriebsteile getroffen worden wären, die tatsächlich Rüstungsproduktion betrieben – und nicht noch 32.000 zivile Autobauer arbeitslos geworden wären.
Kragujevac ist leidgeprüft. Zum Terror der vierjährigen deutschen Wehrmachtsokkupation gehörte die Erschießung von 7.300 Bewohnern am 21. Oktober 1941. Das war die Vergeltung für einen Partisanenangriff, bei dem zehn Wehrmachtsoldaten umkamen. Unter den Opfern dieses Massakers waren auch dreihundert Schüler des örtlichen Gymnasiums. Ihre achtzehn Lehrer hätten der Hinrichtung entgehen können, entschlossen sich aber, das Schicksal ihrer Schüler zu teilen. Durch dieses eingebrannte Leid ist die Stadt zu einem der aktivsten Vorkämpfer für friedliches Zusammenleben geworden. 1986 wurde Kragujevac dafür von der UNO ausgezeichnet, zwei Jahre später erhielt es die Friedensmedaille der Stadt Verdun.
Bei dem NATO-Bombardement sind in dem weitläufigen Gedenkpark mit seinen 33 Gräberfeldern die 33 Glaskuppeln des Museumsdaches zerborsten, und eine Skulptur ist beschädigt worden, die den Titel trägt: „Der Faschismus ist überwunden“.
Die Stadt mit dem Trauma des SS-Massakers gehört heute zu den ärmsten des Landes. Inzwischen soll Fiat eine Mehrheit am Betrieb erworben haben, seither sind Zahlen schwer zu bekommen.
Im Ministerium redet man lieber von den Aufbauerfolgen. Ein Bildband belegt eindrucksvoll, wie von den 61 im Krieg zerstörten Brücken innerhalb von 16 Monaten 57 wieder rekonstruiert wurden. Von den übrigen Zerstörungen ist vieles noch nicht instand gesetzt. Getroffen wurden 476 Bildungsstätten und Schulen, 113 Gesundheitseinrichtungen, 31 Landwirtschaftsunternehmen, 64 öffentliche Verwaltungen, darunter Banken und touristische Unternehmen. Auch 36 sakrale Objekte sind beschädigt worden und mehr als 50 000 Wohnungen. Fast 30 Prozent der Erwerbsfähigen sind arbeitslos. Wenn keine Hilfe aus dem Ausland kommt, so haben Experten errechnet, wird es noch 75 Jahre dauern, bis alles wieder aufgebaut und der Leistungsstand von vor dem Krieg erreicht sein wird. Kein Wunder, dass die Hoffnungen auf die reiche EU beinahe so groß sind wie der Opportunismus und die Korruption im Land.

Ein Armutszeugnis für die westliche Politik

Die Bilanz der angeblich friedenserzwingenden Maßnahmen auf dem Balkan ist nicht nur ernüchternd, sondern ein Armutszeugnis für eine Politik, die humanitäre Motive für sich in Anspruch genommen hat. Die öffentliche Scheinordnung ist nur durch die „ethnischen Säuberungen“ aufrechtzuerhalten gewesen, die angeblich vermieden werden sollten. Die weitgehend im Besitz der deutschen WAZ-Gruppe befindlichen serbischen Medien dienen kaum der Aufarbeitung. Die Analyse im Land lebender Autoren ist dafür an Bitterkeit schwer zu übertreffen, wie der 2008 erschienene Suhrkamp-Band „Serbien nach den Kriegen“ belegt.
Der kroatische Philosoph Boris Buden beklagt darin die Prekarisierung der menschlichen Existenz, Vernichtung der letzten Überreste sozialer Solidarität, eine an den Frühkapitalismus erinnernde Ausbeutung, oft kriminelle Privatisierung, Re-Klerikalisierung bei kulturellem Konservatismus. Erst unsere Blindheit gegen die gnadenlose Profitjagd mache es möglich, diesen Prozess als den eines demokratischen und zivilisatorischen Fortschritts auszugeben. „Das, woran Serbien heute leidet, ist kein unvollendeter Demokratisierungs-, sondern ein fortschreitender, eindeutig von faschistischen Zügen geprägter Zerfallsprozess.“
Latinka Perovic´, die große alte Dame der Zeitgeschichtsschreibung, schließt sich dieser Beschreibung an: „In Wahrheit handelt es sich gegenwärtig bei den Serben um ein kleines, müdes, politisch niedergeschlagenes (und erniedrigtes), in der Außenpolitik gefesseltes und völlig machtloses, wirtschaftlich ruiniertes und armes, erschöpftes und alterndes Volk, dem die jungen, gebildeten Schichten weglaufen.“
Der als Schriftsteller und Herausgeber nach Jahren in Harvard nun in Belgrad lebende Sohn des einstigen Staatsfeindes Nummer eins, Aleksa Djilas, beklagt, dass die sogenannte humanitäre Intervention der NATO im Kosovo nicht nur inkonsequent war – weil der Kampf gegen den Nationalismus der Serben den Sieg des kaum andersgearteten albanischen Nationalismus ermöglichte, sondern auch blind für die Werte der serbischen Geschichte und der orthodoxen Religion, Kunst und Tradition. „Deshalb wurde im Kosovo nicht nur über den serbischen Nationalismus gesiegt, sondern auch die serbische Kultur mehr oder weniger vernichtet“, so sein Fazit.

Humanitäre Intervention als kulturelle Barbarei

Diese Kultur-Barbarei, die uns da bescheinigt wird, bestätigt etwas diplomatischer auch Dragan Velikić, einer der wichtigsten kritischen Autoren in der Milošević-Zeit und später serbischer Botschafter in Österreich. „Wenn ich heute auf den Zerfall Jugoslawiens zurückblicke, kann mich niemand davon überzeugen, dass dieses Land nicht hätte bestehen können, wenn es damals den großen Mächten dieser Welt gepasst hätte.“ Stattdessen aber sei für die Generation der jungen albanischen Guerilla-Kämpfer die wichtigste Botschaft des vergangenen Jahrzehnts, dass Gewalt sich lohnt. „So zeige sich, dass es für kleine Staaten wie Serbien ein beachtliches Wagnis ist, sich auf internationales Recht zu verlassen.“
Die noch während des Krieges von Jugoslawien beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag eingereichte Klage gegen zehn NATO-Staaten, darunter Deutschland, wurde ohne Entscheidung in der Sache abgewiesen, weil nur UNO-Mitglieder klageberechtigt seien. Jugoslawien wurde dieser Status, entgegen eigenem Verständnis, für diese Zeit kurzerhand abgesprochen. Die New York Times vom 30.12.1999 zitierte Chefanklägerin Carla Del Ponte: Das Tribunal habe wichtigere Aufgaben als Ermittlungen gegen westliche Führungen, die die besten Stützen des Gerichtshofes seien. Zur Bombardierung des Senders RTS hieß es lapidar: „Von der Annahme ausgehend, dass es ein legitimiertes Ziel war, waren die zivilen Opfer unglücklicherweise hoch, aber sie scheinen nicht eindeutig unverhältnismäßig.“14 16 Tote – kein unverhältnismäßig hoher Preis für drei Nachtstunden Sendeausfall?
Noch während des Krieges sind auch beim damaligen Generalbundesanwalt Kay Nehm 50 Strafanzeigen gegen die deutsche Regierung eingegangen. Der Spiegel erlaubte sich die Respektlosigkeit, sich vorzustellen, Schröder, Scharping und Fischer würden unter folgender Anklage verhaftet: „Die Bundesrepublik habe sich an einem Staatsverbrechen beteiligt, dem schwersten, das im deutschen Strafgesetz aufgeführt ist – einem Angriffskrieg von deutschem Boden aus. Darauf steht lebenslang.“15 Dass der Generalbundesanwalt keine Ermittlungen aufnahm, überraschte nicht. Er ist als politischer Beamter den Weisungen des Justizministeriums unterstellt. Überraschend war nur, wie dünn die Hilfskonstruktion war, mit der er vor den Juristen, Politikern und Journalisten durchkam: Der Jugoslawien-Einsatz habe eine „dem Völkerfrieden dienende, nicht eine ihn beeinträchtigende Krisenintervention“ dargestellt, sei also kein Angriffskrieg gewesen.

Das Völkerrecht als Gegner

Die Vernachlässigung des Rechts zugunsten selbst gesetzter Moral ist strukturell nichts anderes als die einst östliche Logik, die den Klassenstandpunkt im Ernstfall über das positive Recht gesetzt hat. Nur einer regierungstreuen Rechtsprechung konnte entgehen, dass die Teilnahme an einem Krieg, der keinen verhältnismäßigen Grund und deshalb auch kein UN-Mandat hat, ein Verstoß gegen das Völkerrecht, das NATO-Statut, das Grundgesetz, den 2+4-Vertrag, das Strafgesetzbuch und gegen die Grundsätze beider Koalitionsparteien gewesen ist.
Aus Mangel an unabhängiger Justiz, „kontrolliert“ von Medien und zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen, die nicht mit der nötigen Hartnäckigkeit am Thema blieben oder kein ins Gewicht fallendes öffentliches Gehör fanden, gibt es kaum Möglichkeiten, in der Bundesrepublik solche Rechtsverletzungen aufzudecken, zu ahnden und künftig zu verhindern. Sie werden stattdessen staatlicherseits gedeckt und vertuscht. Der erste Krieg der NATO nach 50 Jahren, der erste Krieg nach Wegfall des Systemkonkurrenten, ist heute, immerhin fünfzehn Jahre später, weder zeitgeschichtlich noch juristisch, noch rechtsphilosophisch aufgearbeitet.
Nur so ist es möglich, dass die Legenden von Politikern und Journalisten gedeihen können. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, verwies am 22. Juni dieses Jahres in der Talk-Show von Günter Jauch unwidersprochen auf Völkermord als Grund für das militärische Eingreifen in Jugoslawien. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen widersprach bei einem Truppenbesuch im Kosovo im Mai der Auffassung, der Krieg sei völkerrechtswidrig gewesen. Schließlich habe es Beweise „von einem drohenden Völkermord“ gegeben. Zuvor hatte Exkanzler Schröder immerhin eingeräumt, in diesem Krieg gegen das Völkerrecht verstoßen zu haben, diesen Verstoß aber mit der Hilfe für Menschen in Not gerechtfertigt. Sein Gesprächspartner Josef Joffe brachte es auf den Punkt: „Die humanistische Pflicht hat über das Völkerrecht triumphiert.“16
Was für ein Triumph! War das Völkerrecht der eigentliche Gegner? Kann Frieden so gestiftet werden?
Geben wir Henri de Saint-Simon das letzte Wort: „Kriege, was auch immer ihr Ziel sein mag, schaden der ganzen Menschheit; sie schaden auch den Völkern, die Sieger bleiben.“

Dieser Beitrag war der Eröffnungsvortrag der 5. Hubertusburger Friedensgespräche, gehalten am 9. September 2014 auf Schloss Hubertusburg in Sachsen.
Der Beitrag erschien erstmalig in der November-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Der Hubertusburger Frieden beendete 1763 den Siebenjährigen Krieg.

  1. Julian Nida-Rümelin: Die Vorwürfe gegen Putin klingen stark nach Kriegspropaganda, Stern, 29.7.2014.
  2. Zit. nach Alexander Dorin: Srebrenica. Die Geschichte eines salonfähigen Rassismus, Berlin 2012, S. 236.
  3. Edward S. Herman: The approved narrativ of the Srebrenica Massacre, International Journal for the Semiotics of Law, Dezember 2006.
  4. Spiegel, 17/1999, S. 27.
  5. Zit. nach John Laughland: Visitors‘ Justice, The Spectator, 9.2.2002.
  6. Vgl. Freitag, 19/1999, S. 7.
  7. Heinz Loquai: Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg, Baden-Baden 2000.
  8. Aus Jo Angerer und Mathias Werth: Es begann mit einer Lüge, ARD 8.2.2001.
  9. Vgl. Milošević, Dokumentarfilm, Arte, 24.7.2008.
  10. Jörg Becker und Mira Beham: Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod, Baden-Baden 2006.
  11. James Harff, interviewt von Jacques Merlino, stellvertretender Direktor des 2. französischen Fernsehens, im April 1993.
  12. Eckart Spoo: Irreführung der Öffentlichkeit, in: Wolfgang Richter, Elmar Schmähling und Eckart Spoo (Herausgeber): Die Wahrheit über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien, Schkeuditz 2000.
  13. Deutscher Bundestag, BT-Ds. 14/1788.
  14. International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, Bericht vom Juni 2000, S. 23.
  15. Vgl. Spiegel, 17/1999, S. 32.
  16. Zeit-Matinee vom 9.3.2014.