Lenzens Tragikomödie als unterhaltsamer Bildungsdisput in Weimar

von Ulrich Kaufmann

Am 3. Oktober, dem Nationalfeiertag, hatte im Weimarer Theater Jakob Michael Reinhold Lenzens berühmtestes Stück „Der Hofmeister oder die Vorteile der Privaterziehung“ in einer Neufassung Premiere. Lenz in Weimar zu spielen ist heraushebenswert, da der Dichter hier 1776 acht Monate an der Seite seines damaligen Freundes Goethe lebte, letztlich aber grausam scheiterte. Wer heute den „Hofmeister“ aufführt, greift gewöhnlich auf Brechts radikale, sehr didaktische Bearbeitung von 1950 zurück. Diese Adaption, obgleich sie Brechts erfolgreichste war, hat indessen mehr als sechs Jahrzehnte auf dem Buckel. Wollte bereits Brecht in aktuelle Bildungsdebatten der Nachkriegszeit eingreifen, so beabsichtigt dies der 1971 geborene Kai-Ivo Baulitz gleichermaßen. Dieser schuf, genauer betrachtet, ein eigenes „Hofmeister“-Stück, dem er den Zusatz „nach Lenz“ beifügte.
Dem Regisseur Enrico Stolzenburg, der nach „Weiskerns Nachlass“ zum zweiten Mal einen Christoph-Hein-Roman für die Weimarer Bühne vorbereitet, wird bekannt sein, dass dieser „Chronist ohne Botschaft“ gleichfalls ein „Lenzianer“ ist. Als Dramatiker und Essayist („Waldbruder Lenz“) ging Hein im übrigen sehr behutsam mit den Texten der Sturm-und-Drang-Epoche um. Ein zentrales Anliegen Stolzenburgs scheint die bedrückende, perspektivarme Lage junger, miserabel bezahlter Intellektueller zu sein. Und so kommt er von Heins Text „Weiskerns Nachlass“ fast folgerichtig „zurück“ zum „Hofmeister“. Nun aber galt es, mit einem umfänglich kleinen Stück von anderthalb Stunden Spiellänge die große Bühne zu erobern …
Das Duo Stolzenburg/Baulitz nimmt die Lenzsche Genrebezeichnung „Lustspiel“ allzu wörtlich und arbeitet entschieden die komisch-unterhaltsamen Elemente der alten Fabel heraus: Der Hauslehrer Läuffer, nicht die einzige Figur, die bei Lenz einen sprechenden Namen trägt, soll die Tochter der sexuell unbefriedigten, verführerischen adligen Majorin unterrichten. (Ihr Gatte, der Major, gehört neben dem Studenten Bollwerk sowie Lise, des Hofmeisters spätere Frau, und anderen zu jenen Figuren, die in der Weimarer Spielfassung nicht mehr auftauchen.) Bereits die mondäne Majorin (Nadja Robiné), die ihr verwöhntes Töchterchen Gustchen eine „dumme Nuss“ nennt, testet den neuen Hofmeister, unteranderem im Französischen, vor allem jedoch flirtet sie deftig mit Läuffer, der letztlich nur der Domestik bleibt. („Läufer“ stand zu Adelszeiten synonym für Diener.) Das zunächst wahrlich unbedarfte und wenig lernwillige Gustchen (dargestellt von Nora Quest) verführt ihren Hauslehrer, wird prompt schwanger. In ihrer Verzweiflung fliehen beide aus dem Haus – in verschiedene Richtungen. Der Titelheld landet beim Dorfschulmeister Wenzelslaus, dem „letzten Lehrer aus Leidenschaft“, wie uns das Programmheft verrät. Läuffer mutiert bei Wenzelslaus (glänzend interpretiert vom Weimarer Urgestein Christoph Heckel) vom Haus- zum Hilfslehrer. Der den Verfolgungen seiner Brötchengeber ausgesetzte Hofmeister glaubt, seinen Beruf erst richtig ausüben zu können, wenn er sich kastriert hat.
Lenzens Stück (wie gleichermaßen die Neubearbeitung) endet versöhnlich. Der Hilfslehrer schafft es durch Baulitz gar zum „Klassenlehrer“(falls man dies für einen Aufstieg hält), und er bekommt trotz seines „scharfen Schnitts“ seine Lise. Gustchen, nach einer erstaunlichen, kaum nachvollziehbaren Wandlung zu einer streng strukturierten Frau, findet zu ihrem Cousin zurück, dem arg naiven Studenten Fritz von Berg (Tobias Schormann). Fritz nimmt „sein“ Kind, welches (in der Lenz-Fassung) wenigstens das „Bild der Mutter trägt“, in den Arm. Abschließend schwört Gustchenn selbstbewusst (bei Lenz tut dies Fritz), das Kind nicht von einem Hofmeister erziehen zu lassen.
Die Inszenierung hat Witz, Schärfe, pointierte Dialoge. Durch geschickt eingeblendete Ortsangaben (Insterburg, Halle et cetera) erhält Lenzens Stationendrama durch Baulitz Schlankheit und Tempo. Die abschüssige Bühne (eingerichtet von Katrin Hieronimus), die durch eine halbrunde, beschriebene Schultafel eindruckvoll umrahmt wird, suggeriert fast nur einen Handlungsort. Das Bühnenbild zitiert (bewusst oder unbewusst) jenes der „Weiskern“-Inszenierung, die derselbe Regisseur verantwortete, es setzt diese gewissermaßen fort. Durchgehend sind zwei Jahrhunderte im Dialog miteinander, das Zeitalter der Aufklärung und die Jetztzeit. Dies zeigen die Brüche im Text, die Verfremdungen zwischen den alten Kostümen und den modernen Requisiten (Bierdosen etwa) sowie die Bühnenmusik. Aus dem Off ist ein Spinett zu hören, auf dem englische Popmusik intoniert wird.
Einzuwenden ist gegen die Weimarer Inszenierung , dass der Basistext aus dem 18. Jahrhundert, der im Programmheft zu recht die erste Tragikomödie der deutschen Literatur genannt wird, in seiner Ernsthaftigkeit nicht (oder viel zuwenig) kenntlich wird. Fridolin Sandmeyer gibt Läuffer fast nur als ungeschickten Deppen, der in viel zu kurzen Hosen steckt und nach seinen „Unterrichtsstunden“ meist ein mit Lippenstift verschmiertes Gesicht präsentiert. Selbst die Kastration in ihren schmerzhaften Folgen wird zu einer meisterhaften pantomimischen Glanznummer, die zu Lachsalven führt. Aber der Protagonist sollte für einen begabten jungen Menschen stehen, der das antike Ideal von der Einheit zwischen Körper und Geist eben nicht leben kann. Der Stürmer und Dränger Friedrich Schiller, der Lenzens Stück wohl kannte, spricht Jahre später in den „Räubern“ vom „Kastratenjahrhundert“. Stück und Regie setzen stattdessen zu sehr auf Unterhaltung und Klamauk. Läuffer, die Figur mit dem tragischsten Potential, wird von Anfang an auf einen Hampelmann reduziert.
Es hieße, das „alte“ Stück, das Lenz später ein „Lust- und Trauerspiel“ nannte, sowie die moderne Bearbeitung zu überfordern, wenn man erwartete, die Vielzahl heutiger Probleme in der Bildung (Angebote der Reformpädagogik, Inklusion, einheitliche Abschlüsse in ganz Deutschland und so weiter) auf den Theaterbrettern verhandeln oder gar „lösen“ zu können.
Lenz sah Privaterziehung, wie der zweite Teil seines Titels andeutet, als etwas sehr Problematisches. Die Stückadaption und die Inszenierung taten gut daran, dieses wichtige Problem ins Zentrum zu rücken. Immer wieder geschieht dies durch Läuffer so wie in den teilweise deftigen Zwiegesprächen zwischen der Majorin und ihrem Bruder, dem Geheimen Rat von Berg Das materialreiche Programmheft enthält vielfältige Ideen zu einer gediegenen Bildung, die Inszenierung reißt hier und da, spaßhaft nebenbei, weitere Bildungs- und Erziehungsfragen an.
Auf der Bühne, vermerkt ein Kritiker, habe er„gefühlte fünf Prozent Lenz“ gehört. Blickt man in beide Texte, ist davon auszugehen, dass wohl mehr Lenz-Partikel in das neue Stück Einzug hielten. Baulitz baute vor allem auf die alte Fabel, den Geist des Stückes, einen Großteil der Personage sowie die alten Figurennamen. Der Sprache des Jakob Lenz vertraute Baulitz aber offenbar weit weniger.
Das Weimarer Ensemble hat gezeigt, dass ein nichtmusealer Umgang mit Texten des 18. Jahrhunderts unbedingt lohnt, zumal mit diesen Mimen. Sowohl in den Haupt-, als auch in Nebenrollen wurde großes Theater geboten. Zuvorderst wäre Sebastian Kowski zu nennen, welcher den jovialen Herrn von Berg als einen gedankenreichen und tatenarmen Altachtundsechsziger gibt. Selbst in Szenen, in denen es mit Schusswaffen um Leben und Tod geht, steht er sinnierend daneben. Sein Hauptproblem ist es, dass er nicht recht weiß, ob und wo er sein Rotweinglas abstellen soll. Als alter Graf Wermuth, der ständig über sein vieles Geld schwadroniert, derweil er sich eigentlich nur für das junge Gustchen interessiert, weiß Günther Moderegger zu überzeugen. Frau Blitzer, die Hallenser Wirtin in der Darstellung durch Roswitha Marks, lässt sich vom Studenten-Schlawiner Pätus (Bastian Heidenreich) die Butter nicht vom Brot nehmen. Unbedingt will der Faulpelz Pätus im Theater Lessings „Minna von Barnhelm“ sehen, wenn er zu diesem Anlass wenigstens eine Hose hätte. Letztlich läuft er los, nur in einen Wolfspelz gewickelt. Dieser Moment ist auf dem Weimarer Theaterplakat festgehalten worden. Möge es das Publikum in weitere Vorstellungen locken und die Besucher so erheitern wie am Premierenabend.