17. Jahrgang | Nummer 21 | 13. Oktober 2014

Flandrische Kleinode. Gent

von Alfons Markuske

Beginnen wir mit einer Quizfrage: Was haben Gent (bereits um das Jahr 800 eine bedeutende Ansiedlung, mit zwei Abteien; heute 250.000 Einwohner) und Mikronesien gemeinsam? Auch die flandrische Siedlung war ursprünglich ein Archipel – bestehend aus 72 Inseln. Die von Schelde und Leie, letztere mündet im Stadtgebiet in erstere, gespeisten Wasserstraßen verwandelten sich im Zuge der Stadtentwicklung und zunehmenden Bevölkerungswachstums allerdings in Kloaken und wurden – aus hygienischen Gründen – im Laufe der Zeit teilweise zugeschüttet. In den vergangenen Jahrzehnten wurden sie ebenso teilweise – dieses Mal aus Gründen der Revitalisierung des ursprünglichen Stadtbildes – wieder aufgebuddelt. Heute ist das historische Zentrum von romantischen Grachten durchzogen, die man mit einem der zahlreichen Touristenboote sehr gut befahren kann.
Zweite Quizfrage: Und warum der Vergleich ausgerechnet mit Mikronesien? Weil das am anderen Ende der Welt liegt und weil aus Gent der erste europäische Herrscher gebürtig war, der von sich sagen konnte: „In meinem Reich geht die Sonne nicht unter.“ Die Rede ist vom Habsburger Karl V. (1500 – 1558), seit 1516 König von Spanien und ab 1520 auch „erwählter“ Kaiser des Heiligen Römischen Reiches.
Eine der schönsten Uferpromenaden ganz Belgiens, direkt an einer Gracht gelegen, ist die Graslei mit ihrem Ensemble mittelalterlicher Fassaden: dem Getreidemesserhaus, dem Gildehaus der Freien Schiffer und dem Stapelhaus „Spijker“. Besonders gut zu sehen ist diese Promenade von der Michaelsbrücke, von der aus auch die „Skyline“ von Gent ins Auge springt. Die wird von drei nur in knappem Abstand voneinander errichteten, hohen Türmen geprägt: dem der Sint-Niklaaskerk sowie dem der Sint-Baafskathedral, zwischen denen sich fast 100 Meter hohe Belfried erhebt, der als Wahrzeichen der Stadt gilt und auf dessen Spitze seit der ersten Fertigstellung der Turmspitze im Jahre 1380 ein vergoldeter Drachen balanciert.
Angesichts dieser Trinität sprechen Stadtführer von Gent gern schon mal als vom „flandrischen Manhattan“, aber dieser Vergleich ist ebenso überflüssig wie geschichtsvergessen. Als der Genter Belfried – in Flandern sind diese, meist aus der Zeit der Gotik stammenden weltlichen Glockentürme, die vor allem Zünfte und Gilden als Symbol bürgerlicher Macht gegenüber der des Adels und der der Kirche erbauen ließen, – fertiggestellt war, lag die offizielle Entdeckung Amerikas durch Europäer noch gut 100 Jahre in der Zukunft. Und ein „Wolkenkratzer“ auf Manhattan entstand überhaupt erst im Jahre 1908 – mit lediglich 150 Metern Höhe, was angesichts der seit 1380 vergangenen Zeitspanne nun auch nur sehr bedingt beeindruckt.

*

Im Stadtkern finden sich zahlreiche Profanbauten aus Gotik, Renaissance und Barock – Handels-, Bürger- und Patrizierhäuser, kommunale und Zunftgebäude –, die nicht Museum sondern lebendiger Teil des urbanen Lebens sind.
Da ist das wuchtige ehemalige Het Groot Vleeshuis, die Fleischhalle. Sie wurde zwischen 1407 und 1419 direkt am Ufer der Leie in Stein anstelle einer vorherigen Holzkonstruktion errichtet – als überdachter Markt, um den Fleischhandel in der Stadt zu zentralisieren. Heute beherbergt sie ein Restaurant und einen Handel, in denen regionale Produkte im Mittelpunkt stehen.
Durch die geöffneten Fenster einer Renaissance-Fassade direkt an der Michaelsbrücke sind Doppelstockbetten erkennbar: die Jugendherberge.
Einhundert Meter und eine Brücke weiter, ebenfalls umrahmt von einer alt-ehrwürdigen Fassade, die Geschäftsauslage des Home Linen Kloskanthuis‘, die vorzugsweise Liebhaberinnenherzen höher schlagen lässt: Schürzen, Baby-Kleidung, Bett-, Nacht-, Bad- und Tischwäsche – alles in Leinen, alles Handarbeit …

*

Das innerstädtische Flair Gents bietet Anfang September ein Bild ausgesprochen angenehmer, beschaulicher Gelassenheit: Die Menschen, der öffentliche Nah- und der individuelle Straßenverkehr, zahlreiche Radler inbegriffen – alles völlig unhektisch. Die Restaurants und Cafés mit ihren Straßenterrassen sind schon am Vormittag, auch wochentags, gut besetzt. Vor dem Bahnhof steht ein Klavier, ein Künstler konzertiert. Wer zuhören will, verweilt. Ein Aufsteller verrät: „Acht Klaviere, acht Standorte, acht Pianisten“. Auch zwischen Belfried und Sint-Baafskathedral steht ein Piano. Gespielt wird quasi ganztags, bis in die späten Abendstunden.
Ob sich die ruhige Atmosphäre der Stadt ändert, wenn Ende des Monats die Masse der 70.000 Studenten aus den Semesterferien in die Hörsäle zurückkehrt?

*

Die Sint-Baafskathedral birgt das Hauptwerk der alt-niederländischen Malerei: den „Genter Altar“ der Gebrüder Hubert und Jan van Eyck. Obwohl von Kunsthistorikern ins Reich der Legenden verwiesen, steht Jan hartnäckig in dem Ruf, der Erfinder der Ölmalerei zu sein, durch die Farben eine bis dato nicht gekannte Intensität und Haltbarkeit erzielten. Ob dem nun so ist oder nicht – beherrscht hat Jan van Eyck diese Art der Malerei in jedem Fall: Davon legt auch das hier in Rede stehende Retabel bis auf den heutigen Tag Zeugnis ab.
Eingeweiht wurde das Werk 1432 und damals wegen zweier Flügel, die die beiden ersten biblischen Menschen völlig unbekleidet zeigen – seinerzeit die eigentliche Sensation dieses zwölf Tafeln umfassenden Altars – im Volk nur „Adam und Eva“ genannt.
Dass dieses wundervolle Retabel heute bis auf eine 1934 geraubte Tafel, die nicht wiedergefunden und daher durch eine Kopie ersetzt wurde, noch oder besser gesagt wieder komplett zu sehen ist, grenzt an ein Wunder, nur dem von Leonardos „Letztem Abendmahl“ vergleichbar. Dessen Standort, das Dominikanerkloster Santa Maria delle Grazie in Mailand, war im Zweiten Weltkrieg bekanntlich so starken anglo-amerikanischen Bombardements ausgesetzt, dass bei Kriegsende vom dortigen Refektorium, in dem sich das Fresko befindet, inmitten von Trümmern nur noch eine einzige Wand stand – die mit dem Bild.
Der „Genter Altar“ musste schon bald nach seiner Fertigstellung ein erstes Mal wieder demontiert und versteckt werden, um ihn vor calvinistischen Bilderstürmern zu bewahren. 200 Jahre später ließ Napoleon die vier Haupttafeln requirieren und nach Paris bringen, von wo sie nach der Schlacht bei Waterloo zurückkehrten. Klamme Gemeindeoberen verkauften kurz darauf einem Kunsthändler sechs der acht Seitentafeln, die über Zwischenstationen in preußischen Besitz nach Berlin gelangten. Ab 1830, mit Eröffnung des Alten Museums, waren diese Tafeln der Höhepunkt der dortigen Ausstellung. Ende des 19. Jahrhunderts kam man auf die Idee, die Vorder- und Rückseiten jeweils in originaler Anordnung präsentieren zu wollen und spaltete die Tafeln deshalb in einer hoch riskanten Operation mittels einer Furniersäge auf. Schäden an der Malschicht traten glücklicherweise nicht ein. Im Gefolge des Versailler Vertrages mussten alle Berliner Tafeln dann als Ausgleich für die von Deutschen in Belgien angerichteten Kriegsschäden repatriiert werden. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs schließlich wurde das Retabel nach Pau in Südfrankreich evakuiert. Trotzdem geriet es den Nazis in die Fänge und lagerte bei Kriegsende gleich anderem Raubgut in einem Salzstollen im österreichischen Bad Ausee, wo es von amerikanischen „Monumentmen“ aufgefunden und nach Gent zurückgeführt wurde.
Der Altar ist heute aus Sicherheits- wie auch aus konservatorischen (Schutz vor Tageslicht) Gründen nicht mehr in der Vijd-Kapelle der Kathedrale zu sehen, an jener Stelle also, für die er geschaffen wurde. Dort befindet sich jedoch eine Eins-zu-eins-Kopie, so dass Besucher einen Eindruck erhalten, wie das Werk ursprünglich auf den Betrachter gewirkt haben muss. Das Original befindet sich hinter Panzerglas in einem fensterlosen Raum.
Derzeit werden die Tafeln aufwendig restauriert. Dazu befindet sich jeweils ein Drittel des Kunstwerkes in der Werkstatt – bleibt aber der Öffentlichkeit zugänglich. Denn die Restauration findet im örtlichen Museum für Schöne Künste statt und kann durch eine raumgroße Glasscheibe aus nächster Nähe beobachtet werden. Dabei kommt man den Tafeln räumlich und optisch so nahe, wie es in der Sint-Baafskathedral längst nicht mehr möglich ist.
Apropos Adam und Eva: An deren Blößen „im Schoße der Kirche“ wurde klerikal Anstoß genommen, ab dem späten 18. Jahrhundert wurden sie nicht mehr gezeigt. Sie waren aber ab 1861 im Königlichen Museum zu Brüssel zu bewundern – im Austausch gegen zwei vom belgischen Staat finanzierte Kopien, auf denen die Ur-Eltern der Menschheit – sittsam, aber geschmacklos – mit Fellkleidchen drapiert sind. Auch diese Tafeln sind heute in der Sint-Baafskathedral zu sehen.

Wird fortgesetzt.

Teil I (Antwerpen) erschien in Ausgabe 20/2014. Zur Geschichte des „Genter Altars“ ist noch bis zum 29. März 2015 eine informative kleine Ausstellung in der Gemäldegalerie des Berliner Kulturforums zu sehen.